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BGH Beschluss v. - XIII ZB 65/23

Haftgrund der Fluchtgefahr bei Zahlung eines erheblichen Geldbetrags für Einschleusemaßnahmen zur unerlaubten Einreise

Leitsatz

Welches Gewicht der Aufwendung erheblicher Geldbeträge für die unerlaubte Einreise als konkretem Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung zukommt, ist unter Berücksichtigung der Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung zu ermitteln.

Gesetze: § 62 Abs 3b Nr 2 AufenthG

Instanzenzug: Az: 11 T 299/23vorgehend Az: 715 XIV 83/23 B

Gründe

1I.    Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2013 in das Bundesgebiet ein. Sein unter Aliaspersonalien gestellter Asylantrag wurde abgelehnt, er wurde zur Ausreise aufgefordert und ihm wurde die Abschiebung angedroht. Mit Urteil vom wurde er wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Geldstrafe verurteilt. Seit dem war der Betroffene vollziehbar zur Ausreise verpflichtet und die Abschiebungsandrohung vollstreckbar. Er wurde zunächst wegen fehlender Reisedokumente geduldet. Nachdem er seit 2018 mehrfach aufgefordert worden war, gültige Reisedokumente einzureichen, legte er am einen auf seine zutreffenden Personalien lautenden Reisepass vor. Im Oktober 2023 wurde er aufgrund einer vorläufig bis zum angeordneten Freiheitsentziehung in Haft genommen. Nachdem die für den geplante Abschiebung wegen eines Asylfolgeantrags gescheitert war, hat das Amtsgericht am Abschiebungshaft bis zum angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung festzustellen.

2II.    Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

31.    Das Beschwerdegericht hat - soweit hier erheblich - ausgeführt, der Haftgrund der Fluchtgefahr liege vor. Der Betroffene habe für seine Einreise in das Bundesgebiet einen erheblichen Geldbetrag im Sinn von § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG aufgewandt. Für seine Einreise habe er 1,2 Millionen Rupien bezahlt, was nach heutigem Kurs etwa 3.930 € entspreche und das damalige durchschnittliche Jahreseinkommen des Betroffenen um ein Vielfaches übersteige. Das Beschwerdegericht folge der Beschwerde weder im Tatsächlichen noch im Rechtlichen, soweit diese für maßgeblich halte, dass der Betroffene das zur Finanzierung der Kosten aufgenommene Darlehen bereits zurückgezahlt habe. Dem Gesetz lasse sich nicht entnehmen, dass eine solche veränderte Vermögenssituation maßgeblich sein solle. Die Anwendung der Norm wäre dadurch praktisch erheblich erschwert oder unmöglich, weil die veränderte Lebenswirklichkeit schwer zu ermitteln sei. Dass der Betroffene jahrelang in der Bundesrepublik gelebt habe, ohne sich zu verstecken oder unterzutauchen, und sogar am Tag seiner Verhaftung in anderer Sache bei der Polizei vorgesprochen habe, stehe der Annahme von Fluchtgefahr nicht entgegen. Es sei derart naheliegend, dass in einer solchen Situation die Flucht angetreten werde, bis die konkrete Rückführungsmaßnahme vorbei sei, dass die konkrete Gefahr bestehe, der Betroffene werde sich durch Flucht der Abschiebung entziehen.

42.    Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerhaft den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bejaht.

5a)    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (, juris Rn. 10 mwN). Dabei sind alle Indizien, die für und gegen die Annahme sprechen, der Ausländer werde sich seiner Abschiebung durch Flucht entziehen, zu berücksichtigen und abzuwägen, wobei auch Umstände Berücksichtigung finden können, die keinen der gesetzlich normierten typisierten Anhaltspunkte erfüllen (, juris Rn. 15). Die tatrichterliche Schlussfolgerung auf die Entziehungsabsicht unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen eine solche Folgerung als möglich erscheinen lassen; mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, dass die Folgerungen des Tatrichters nicht zwingend seien oder dass eine andere Schlussfolgerung ebenso naheliegt (BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 11/19, juris Rn. 13 mwN; vom - XIII ZB 113/19, juris Rn. 19).

6b)    Auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs ist die Annahme des Beschwerdegerichts, der Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen, zu beanstanden. Die von ihm vorgenommene Gesamtwürdigung ist rechtsfehlerhaft, weil es einerseits die Lebenssituation des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftanordnung nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt sowie andererseits zu Lasten des Betroffenen Umstände in seine Abwägung eingestellt hat, die keine Indizien für eine Fluchtgefahr begründen.

7aa)    Nach § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein, dass der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge, insbesondere an einen Dritten für Einschleusemaßnahmen nach § 96 AufenthG, aufgewandt hat, die nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass sie den Schluss zulassen, er werde die Abschiebung verhindern, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren. Die Regelung des § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG beruht auf der Annahme, dass die Zahlung erheblicher Geldbeträge für die Einreise den Anreiz schafft, sich der Abschiebung durch Flucht zu entziehen, damit die Aufwendungen sich nicht als vergeblich erweisen (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom , BT-Drucks. 18/4097, S. 33; Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom , BT-Drucks. 19/10047, S. 42; BGH, Beschlüsse vom - V ZB 5/00, NVwZ 2000, 965 [juris Rn. 11]; vom - V ZB 157/15, NVwZ 2016, 1111 Rn. 10; vom - V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253 Rn. 7).

8bb)    Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen hat das Beschwerdegericht festgestellt, dass der Betroffene zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge aufgewandt hat, die das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Pakistan 2013 um mehr als das Doppelte überstiegen haben. Das Beschwerdegericht hat bei seiner Betrachtung aber die Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Anordnung der Haft rechtsfehlerhaft außer Acht gelassen und dem von ihm bejahten konkreten Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr daher ein zu hohes Gewicht beigemessen.

9(1)    Welches Gewicht dem sich aus § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG ergebenden konkreten Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr zukommt, ist unter Berücksichtigung der Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung zu ermitteln. Das ergibt sich schon aus dem Gesetz, weil der Schluss, der Betroffene werde sich der Abschiebung entziehen, wie die Feststellung der Fluchtgefahr selbst auf den Zeitpunkt der Haftanordnung bezogen sein muss. Ein etwaiger Fluchtanreiz kann sich abschwächen, wenn der Ausländer sich bereits länger im Bundesgebiet aufgehalten und über einen Arbeitsplatz verfügt hat (vgl. , juris Rn. 20; Bergmann/Putzar-Sattler in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 22). Er kann sich aber auch verstärken, wenn etwa ein aufgenommenes Darlehen wegen der aufgelaufenen Zinsen zu einer erhöhten Belastung geführt hat.

10(2)    Das hat das Beschwerdegericht verkannt. Es hat bei seiner Gesamtbetrachtung nicht berücksichtigt, dass die Einreise des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung bereits über zehn Jahre zurücklag, der Betroffene - was sich auch der Ausländerakte entnehmen lässt - in Deutschland einen nicht unerheblichen Zeitraum gearbeitet und ein Einkommen erzielt, sowie geltend gemacht hatte, das für die Einreise aufgenommene Darlehen bereits zurückgezahlt zu haben.

11cc)    Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die vom Beschwerdegericht vorgenommene Gesamtbetrachtung vor diesem Hintergrund nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. Das Beschwerdegericht geht zwar zutreffend davon aus, dass feste soziale Bindungen, ein fester, den Behörden bekannter Wohnsitz und regelmäßiger Kontakt zu Behörden der Annahme von Fluchtgefahr grundsätzlich entgegenstehen. Es hat diesen hier erfüllten Umständen aber kein überwiegendes Gewicht beigemessen, weil der Betroffene zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen für eine freiwillige Ausreise unternommen habe und fernliegend sei, dass er sich für eine Abholung am Abreisetag bereithalten werde, weil eine Flucht bei bevorstehender Abschiebung menschlich nachvollziehbar sei. Zu Recht macht die Rechtsbeschwerde geltend, dass dies keine Indizien für eine Fluchtgefahr sind.

12c)    Das Beschwerdegericht hat auch nicht im Ergebnis zu Recht die Fluchtgefahr bejaht (§ 74 Abs. 2 FamFG; vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 89/19, juris Rn. 13; vom - XIII ZA 3/23, juris Rn. 23). Seine Feststellungen, die denjenigen des Amtsgerichts entsprechen und zu denen der Betroffene bereits erstinstanzlich angehört wurde, tragen den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auch dann nicht, wenn die vom Betroffenen 2017 begangene Straftat und die bis 2021 erfolgte Identitätstäuschung in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden. Die Identitätstäuschung hat der Betroffene, auch wenn er sie genutzt hat, um seine Abschiebung mehrere Jahre zu verzögern, letztlich durch den bei den pakistanischen Behörden gestellten Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses und dessen Vorlage bei der beteiligten Behörde selbst aufgeklärt. Er hat sich ferner seit Vorlage des Reisepasses durchgehend an seiner Meldeadresse aufgehalten und Kontakt zu den Behörden gehalten, so etwa am Tag seiner Verhaftung in anderer Sache bei der Polizei vorgesprochen.

133.    Der Senat kann gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst entscheiden, da der Haftzeitraum abgelaufen ist und etwaige ergänzende Feststellungen zum Haftgrund nicht zu einer rückwirkenden Heilung führen könnten (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 75/19, juris Rn. 20; vom - XIII ZB 20/20, NVwZ-RR 2021, 595, 596 Rn. 13).

144.    Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff                    Roloff                    Tolkmitt

                     Picker                 Kochendörfer

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:140125BXIIIZB65.23.0

Fundstelle(n):
NJW 2025 S. 10 Nr. 7
NAAAJ-83732