Revisionszulassung; Wegfall Hindernis Rechtsverfolgung; Wiedereinsetzung in vorherigen Stand; Fristsäumnis ohne Verschulden
Gesetze: § 132 VwGO, § 60 Abs 1 VwGO, § 60 Abs 2 S 1 VwGO, § 133 Abs 2 S 1 VwGO, § 67 Abs 4 S 1 VwGO, § 67 Abs 4 S 2 VwGO
Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 1 S 2527/22 Beschlussvorgehend VG Freiburg (Breisgau) Az: 4 K 1539/21 Urteil
Gründe
I
1Die Kläger begehren die Feststellung, dass die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Fußgängerbereichen der Freiburger Innenstadt gemäß Ziffer 1 der Allgemeinverfügungen des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald über infektionsschutzrechtliche Maßnahmen in der Stadt Freiburg im Breisgau zur Verhinderung der weiteren Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 vom und vom rechtswidrig gewesen ist.
2Das Verwaltungsgericht Freiburg hat die Klagen durch Urteil vom abgewiesen und die Berufung zugelassen. Mit Beschluss vom hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg den Klägern für das beabsichtigte Berufungsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Beschluss enthält folgenden Hinweis:
"Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen. Für das Berufungsverfahren besteht nach § 67 Abs. 4 VwGO Vertretungszwang. Mit der Zustellung des vorliegenden Beschlusses fällt die durch das Unvermögen, die Prozesskosten aufzubringen, verursachte unverschuldete Verhinderung, die Rechtsmittelfrist einzuhalten, weg. Dies gilt auch für Kläger, die - wie hier - im Prozesskostenhilfeantrag keinen beizuordnenden Prozessbevollmächtigten benannt haben. Ihnen obliegt es, in der durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausgelösten Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO alles Zumutbare zu tun, um einen vertretungsbereiten Prozessbevollmächtigten zu finden, und - sofern dies erkennbar nicht gelingt - bei Gericht bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist einen Antrag nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 121 Abs. 5 ZPO auf Beiordnung eines Rechtsanwalts durch den Vorsitzenden zu stellen (vgl. 9 B 333.99 - DVBl. 1999, 1662; Beschl. v. - 6 PKH 15.03 - NVwZ 2004, 888)."
3Nach Anhörung der Beteiligten hat der Verwaltungsgerichtshof durch Beschluss vom die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts als unzulässig verworfen. Mit der Zustellung des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses am sei der Hinderungsgrund für die Einlegung der Berufung weggefallen. Die zweiwöchige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1, Satz 3 VwGO zur Nachholung der versäumten Berufungseinlegung habe danach mit Ablauf des geendet. Die Frist beginne nicht erst mit der gerichtlichen Beiordnung eines vertretungsbereiten Rechtsanwalts. Einen Antrag nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 121 Abs. 5 ZPO hätten die Kläger nicht gestellt. Innerhalb der Frist hätten sie die Berufung nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eingelegt. Der per Fax am beim insoweit unzuständigen Verwaltungsgerichtshof eingegangene Berufungsschriftsatz habe nicht der nach § 55d VwGO vorgeschriebenen Form der Einreichung als elektronisches Dokument genügt. Die vorgenommene Ersatzeinreichung sei unwirksam gewesen.
4Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen seinen Beschluss nicht zugelassen. Die Kläger haben unter dem einen Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gestellt. Durch Beschluss des Senats vom - BVerwG 3 PKH 1.23 - ist ihnen Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet worden. Daraufhin haben sie mit anwaltlichem Schriftsatz die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt, sie mit gesondertem Schriftsatz begründet und Wiedereinsetzung in die Einlegungs- und Begründungsfrist beantragt.
II
5Den Klägern ist nach § 60 Abs. 1 und 2 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
61. Wegen ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse waren sie ohne Verschulden verhindert, eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision innerhalb der Frist des § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO durch einen Rechtsanwalt einzulegen. Nachdem ihnen durch den Beschluss des Senats vom - BVerwG 3 PKH 1.23 - (zugestellt am <Prozessbevollmächtigter> bzw. am <Kläger>) Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist, haben sie am und damit innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1, Satz 3 VwGO durch ihren beigeordneten Rechtsanwalt Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
72. Mit Schriftsatz vom , beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen am , haben sie durch ihren beigeordneten Rechtsanwalt die Beschwerden begründet und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Damit liegen auch die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor. Insbesondere haben die Kläger den Wiedereinsetzungsantrag rechtzeitig gestellt.
8a) Die einmonatige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO dürfte allerdings nicht - wie die Kläger vortragen - wegen der ihrem Prozessbevollmächtigten am gewährten Akteneinsicht erst am geendet haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird bei Wegfall eines Hindernisses für die Rechtsmitteleinlegung noch innerhalb der Rechtsmittelfrist nicht von diesem Zeitpunkt an die Rechtsmittelfrist neu oder ohne Weiteres eine zusätzliche Frist entsprechend § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Lauf gesetzt. Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an, ob eine über die Rechtsmittelfrist hinausreichende zusätzliche Frist einzuräumen ist (vgl. 10 B 10.13 - juris Rn. 7 m. w. N.). Diese Maßgaben dürften für den Wegfall eines Hindernisses innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO entsprechend gelten. Danach käme die Einräumung einer zusätzlichen Frist hier nicht in Betracht. Dass es dem Prozessbevollmächtigten der Kläger in den verbleibenden Arbeitstagen bis zum (unterstellten) Fristablauf am nicht möglich gewesen wäre, eine den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügende Beschwerdebegründung zu fertigen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, weil den Klägern ungeachtet dessen Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
9b) Ob die Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO mit der Zustellung eines die Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses beginnt - so dass sie hier am Montag, geendet hätte - oder aber zu einem späteren Zeitpunkt, ist ungeklärt. Gleiches gilt für die Frage, ob sie im Fall der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde über ihren Wortlaut hinaus zu verlängern ist:
Der Bundesfinanzhof hat zu der mit § 60 VwGO gleichlautenden Vorschrift des § 56 FGO entschieden, dass hinsichtlich der Wiedereinsetzungsfrist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde analog § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO eine Frist von zwei Monaten ab Zugang des Beschlusses über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gilt (BFH, Beschlüsse vom - XI B 1/12 - BFH/NV 2012, 1170 Rn. 14 und vom - X B 31/21 - BFH/NV 2022, 1290 Rn. 12). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO - der § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 VwGO entspricht - dahin auszulegen, dass bei auch versäumter Rechtsmitteleinlegungsfrist die Frist zur Nachholung der Rechtsmittelbegründung erst mit der Mitteilung der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Rechtsmitteleinlegungsfrist beginnt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XI ZB 40/06 - BGHZ 173, 14 Rn. 13 ff. und vom - III ZB 86/13 - NJW 2014, 2442 Rn. 8 f. m. w. N.; ebenso - BAGE 161, 245 Rn. 17 m. w. N.; offengelassen von - NJW 2013, 471 Rn. 12 ff.). Bei einer entsprechenden Auslegung von § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO wäre die Nachholung der Beschwerdebegründung hier rechtzeitig erfolgt, weil am der Antrag der Kläger auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Beschwerdefrist nicht beschieden gewesen ist und auch eine zweimonatige Frist ab Bekanntgabe des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses vom analog der Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO gewahrt wäre (eine solche Auslegung befürwortend: z. B. Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Januar 2024, § 60 VwGO Rn. 65; Czybulka/Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 128; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 38). Allerdings begegnet die Auslegung Bedenken, weil sie im Wortlaut des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine Stütze findet. Auch die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 15/1508 S. 17 f., BT-Drs. 15/3482 S. 23) sind insoweit nicht eindeutig (vgl. für § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO: - NJW-RR 2008, 1313 Rn. 13 ff.).
10Die Frage bedarf hier keiner abschließenden Klärung. Nimmt man an, dass die Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2, Satz 3 VwGO - angesichts der Zustellung des die Prozesskostenhilfe für die Nichtzulassungsbeschwerde bewilligenden Beschlusses am 5. bzw. - am Montag, , endete, so ist die am eingegangene Beschwerdebegründung verfristet. Den Klägern wäre aber jedenfalls von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist zu gewähren. Angesichts der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur wäre die Säumnis unverschuldet.
III
11Die zulässigen Beschwerden sind begründet.
121. Zwar ist die Revision nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) durch Nichtgewährung von Akteneinsicht zuzulassen. Die Gehörsrüge ist nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise erhoben. Die Kläger legen mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht dar, dass durch die Nichtgewährung der Akteneinsicht im Berufungsverfahren entscheidungserheblicher Vortrag verhindert worden wäre (vgl. 1 B 64.19 - juris Rn. 31). Darüber hinaus zeigen sie nicht auf, dass sie alle verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. 10 B 48.06 - juris Rn. 5 m. w. N.). Ihr Prozessbevollmächtigter hat in seiner Stellungnahme auf die Mitteilung des Verwaltungsgerichtshofs vom (Anhörung nach § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO) nicht an den unerledigten Antrag auf Akteneinsicht erinnert.
132. Jedoch kommt der Rechtssache die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zu. Das Revisionsverfahren kann dem Bundesverwaltungsgericht voraussichtlich Gelegenheit zur Klärung der Frage geben, ob das der Rechtsverfolgung entgegenstehende Hindernis gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO bei Mittellosigkeit und einem dem Anwaltszwang unterliegenden Verfahren erst weggefallen ist, wenn der Partei nicht nur Prozesskostenhilfe bewilligt, sondern auch ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist (vgl. 5 B 102.13 - juris Rn. 7 <Wegfall des Hindernisses der Mittellosigkeit mit Zustellung der Prozesskostenhilfe gewährenden Entscheidung>; abweichend zu § 234 Abs. 2 ZPO: BGH, Beschlüsse vom - VI ZB 32/18 - NJW 2019, 3727 Rn. 5 m. w. N. und vom - V ZR 30/20 - NJW 2021, 242 Rn. 5 <Beseitigung des Hindernisses erst mit der Beiordnung>).
14Die vorläufige Festsetzung des Streitwerts für das Revisionsverfahren beruht auf § 63 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 47 Abs. 1 und § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:161224B3B14.23.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-83679