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BSG Beschluss v. - B 10 ÜG 1/24 B

Gründe

1I. Die Kläger begehren in der Hauptsache eine Entschädigung iHv insgesamt mindestens 6500 Euro wegen überlanger Dauer eines vor dem SG Berlin zuletzt unter dem Aktenzeichen S 179 AS 3717/14 geführten Klageverfahrens. Das LSG als Entschädigungsgericht hat den Beklagten verurteilt, wegen der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens an den Kläger zu 1. eine Entschädigung iHv 400 Euro, an die Klägerin zu 2. iHv 24,64 Euro und an die Kläger zu 3. und 4. jeweils iHv 80 Euro zuzüglich Zinsen iHv 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem zu zahlen (Urteil vom ).

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung haben die Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie machen eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Divergenz geltend.

3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch eine Divergenz ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

41. Es fehlt insoweit bereits an einer ausreichenden Darstellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts. Dazu hätte es weiterer Ausführungen zum Ablauf des Ausgangs- und Entschädigungsverfahrens, insbesondere zu den tatsächlichen Feststellungen des Entschädigungsgerichts bedurft. Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich den maßgeblichen Sachverhalt aus den Akten oder der angegriffenen Entscheidung des Entschädigungsgerichts selbst herauszusuchen (vgl stRspr; zB - juris RdNr 5 mwN). Auf der Grundlage der bruchstückhaften Angaben der Kläger lässt sich weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache beurteilen noch hinsichtlich einer Divergenz prüfen, ob sie für die angefochtene Entscheidung von tragender Bedeutung sind.

52. Unabhängig davon haben die Kläger aber auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dargelegt.

6Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) und die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB B 10 ÜG 2/22 B - juris RdNr 10 mwN). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

8Offenbleiben kann, ob die Kläger mit diesen Fragestellungen überhaupt hinreichend konkrete Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) mit höherrangigem Recht ordnungsgemäß bezeichnet haben. Aber selbst wenn der Senat ihnen die Qualität von Rechtsfragen zubilligen wollte, haben die Kläger deren Klärungsbedürftigkeit ungeachtet der fehlenden Darstellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht substantiiert aufgezeigt. Sie haben sich nicht in gebotenem Maße damit auseinandergesetzt, ob sich die von ihnen formulierten Fragen nicht bereits mithilfe der vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung beantworten lassen (vgl stRspr; zB - juris RdNr 6). Als höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das BSG oder das BVerfG diese zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr; zB B 10 ÜG 2/22 B - juris RdNr 12 mwN). Im Hinblick darauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung substantiiert vorgetragen werden, dass das BSG oder das BVerfG zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidungen getroffen haben oder durch die schon vorliegenden Entscheidungen die hier gestellten Fragen von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden sind (vgl stRspr; zB - juris RdNr 9; - juris RdNr 9). Hieran fehlt es.

9Nach der Rechtsprechung des BSG hat das Entschädigungsgericht bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einen erheblichen tatrichterlichen Beurteilungsspielraum. Das BSG als Revisionsgericht ist darauf beschränkt zu überprüfen, ob das Entschädigungsgericht den rechtlichen Rahmen zutreffend erkannt und ihn ausfüllend alle erforderlichen Tatsachen festgestellt und angemessen berücksichtigt hat, ohne Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze zu verletzen oder gegen seine Amtsermittlungspflicht zu verstoßen (vgl stRspr; zB B 10 ÜG 1/22 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen - juris RdNr 28; B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 26). Die vom Entschädigungsgericht für seine Entscheidung festgestellten inneren und äußeren Tatsachen sind für das BSG jeweils bindend (vgl § 163 SGG). Soweit die Kläger mit ihrer Fragestellung zu a) die vom Entschädigungsgericht vorgenommene, aus ihrer Sicht fehlerhafte Gewichtung, Abwägung und Würdigung des Umgangs des Ausgangsgerichts mit den Schriftsätzen in ihrem Einzelfall rügen wollten, wenden sie sich im Gewand einer Grundsatzrüge gegen eine vermeintlich fehlerhafte Rechtsanwendung in ihrem Einzelfall. Ob das Entschädigungsgericht die Umstände des Einzelfalls bei der Anwendung von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG richtig bewertet hat, kann im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde aber nicht mit Erfolg geltend gemacht werden (vgl stRspr; zB B 10 ÜG 2/22 B - juris RdNr 15; B 10 ÜG 1/22 B - juris RdNr 7; B 10 ÜG 17/19 B - juris RdNr 9).

10Bezogen auf die von den Klägern unter b) aufgeworfene Fragestellung ist darauf hinzuweisen, dass das BSG bereits entschieden hat, dass Zeiten, in denen ein Gericht auf angeforderte Akten wartet, in der Regel nicht als entschädigungsrelevante Inaktivitätszeiten zu werten sind, falls nicht das Gebot der Verfahrensbeschleunigung ausnahmsweise bereits vorher verfahrensfördernde Maßnahmen gebietet (vgl B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 47). Denn mit zunehmender Dauer eines Verfahrens verdichtet sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch (Art 19 Abs 4 GG, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention) verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um die Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen ( B 10 ÜG 1/23 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen - juris RdNr 36; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 404/10 - SozR 4-1100 Art 19 Nr 10 - RdNr 11). Entsprechendes gilt, wenn vom Ausgangsgericht die Verfahrensakten an ein anderes Gericht übersandt worden sind. Bei längerer Verfahrensdauer kann daher unter Berücksichtigung der Bedeutung des Gerichtsverfahrens vor der Versendung zur Vermeidung einer weiteren Verzögerung die Anfertigung von Zweitakten geboten sein (vgl B 10 ÜG 1/23 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 36; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 1346/22 ua - juris RdNr 14; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2662/06 - juris RdNr 30). Ob dies erforderlich ist, richtet sich danach, wie das Ausgangsgericht die Sach- und Rechtslage aus einer ex-ante-Sicht einschätzen durfte (vgl aaO mwN). Die Kläger versäumen es, sich mit dieser Rechtsprechung auseinanderzusetzen und zu prüfen, ob sich hieraus Anhaltspunkte für die Beantwortung der unter b) gestellten Frage ergeben.

11Gleiches gilt für die Fragestellung unter c) hinsichtlich einer gerichtlichen Verzögerung des Ausgangsverfahrens im Rahmen der Prozesskostenhilfe (PKH). Das BSG hat bereits mit Urteilen vom (B 10 ÜG 3/16 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 14 RdNr 29) und (B 10 ÜG 2/23 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 25 - RdNr 17) entschieden, dass ein gleichzeitig neben dem Hauptsacheverfahren geführtes PKH-Verfahren als dessen Annex nicht zu einem eigenständigen Entschädigungsanspruch führt. Vielmehr sind Verzögerungen im Verfahren über die Bewilligung von PKH während der Dauer eines gleichzeitig rechtshängigen Hauptsacheverfahrens als einer der nach § 198 Abs 1 Satz 2 GVG maßgeblichen Einzelfallumstände für die Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer der Hauptsache zu berücksichtigen. Für die Darlegung einer erneuten Klärungsbedürftigkeit von höchstrichterlich bereits grundsätzlich entschiedenen Rechtsfragen müssen in Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG zu diesem Fragenkreis völlig neue, noch nicht erwogene Gesichtspunkte vorgetragen werden, die eine andere Beurteilung nahelegen könnten. Diese Anforderungen erfüllt das Beschwerdevorbringen der Kläger nicht.

12Soweit die Kläger neben den von ihnen aufgeworfenen Fragestellungen die Aussetzungen des Ausgangsverfahren kritisieren, fehlt es unabhängig von dem Erfordernis der Bezeichnung einer diesbezüglichen Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ebenfalls an einer Auseinandersetzung mit der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Sowohl das BSG als auch das BVerfG haben schon entschieden, dass das Gericht bei einer Entscheidung über die Aussetzung eines Verfahrens die mögliche Verfahrensverlängerung mit den Gesichtspunkten der Verfahrensökonomie und ggf der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen abzuwägen hat. Dabei hat es auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Dauer nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Eine Verzögerung des vorgreiflichen Rechtsstreits ist ebenfalls ein Gesichtspunkt, dem bei der Ausübung des Ermessens Rechnung zu tragen ist. Im Fall einer ermessensfehlerhaften Entscheidung fällt die durch die Aussetzung verursachte Verfahrensverlängerung in den Verantwortungsbereich des Gerichts (vgl B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 40; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2965/10 - juris RdNr 20).

13Die Beschwerdebegründung erwähnt zwar die oben genannte Rechtsprechung des BVerfG und behauptet eine Verletzung des Rechtsstaatsgebots aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip nach Art 20 Abs 3 GG. Sie setzt sich aber nicht in gebotenem Maße mit dieser Rechtsprechung auseinander. Sie erörtert insbesondere nicht, ob sich aus ihr bereits Antworten auf den von den Klägern diesbezüglich skizzierten Problemkreis entnehmen lassen können. Allein die Darstellung der eigenen, von der angegriffenen Entscheidung des Entschädigungsgerichts abweichenden Rechtsansicht reicht nicht aus.

14Dass die Kläger im Kern ihres Vorbringens die Entscheidung des Entschädigungsgerichts inhaltlich für unrichtig halten, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl stRspr; zB - juris RdNr 6 mwN).

153. Auch die Voraussetzungen einer Divergenz haben die Kläger nicht substantiiert bezeichnet.

16Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG als Entschädigungsgericht eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht fehlerhaft angewandt hat, sondern erst, wenn das Entschädigungsgericht Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das Entschädigungsgericht weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BVerfG oder des BSG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BVerfG oder des BSG entgegensteht und dem Inhalt der Entscheidung des Entschädigungsgerichts tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in dem oder den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist und welcher in der Entscheidung des Entschädigungsgerichts enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (stRspr; vgl zB B 10 ÜG 3/20 B - juris RdNr 6; B 10 ÜG 17/19 B - juris RdNr 11). Diese Anforderungen erfüllt der Beschwerdevortrag der Kläger nicht.

17Insofern reicht es nicht aus, wenn die Kläger lediglich Passagen aus dem - juris RdNr 25 f) zitieren. Denn sie versäumen es, diesen Zitaten einen davon abweichenden abstrakten Rechtssatz des Entschädigungsgerichts aus der angefochtenen Entscheidung gegenüberzustellen. Soweit sie darüber hinaus pauschal behaupten, das angefochtene Urteil weiche von Entscheidungen des BSG ab, bezeichnen sie weder abstrakte Rechtssätze aus BSG-Entscheidungen noch divergierende Rechtssätze aus dem Urteil des Entschädigungsgerichts. Insgesamt geht ihr diesbezügliches Vorbringen nicht über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge hinaus.

184. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

195. Die nicht formgerecht begründete Beschwerde ist ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG).

206. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:090924BB10UEG124B0

Fundstelle(n):
VAAAJ-83511