Instanzenzug: Az: III ZR 284/20 Beschlussvorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 8 U 8/20 Urteilvorgehend LG Magdeburg Az: 10 O 711/19
Tatbestand
1 Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung in einem Kraftfahrzeug in Anspruch.
2 Der Kläger erwarb im September 2014 von der Beklagten ein von ihr hergestelltes Kraftfahrzeug Mercedes-Benz GLK 220 CDI 4MATIC, das mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgestattet ist und über eine sogenannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung verfügt. Den Kaufpreis finanzierte er teilweise mithilfe eines Darlehens der Mercedes-Benz Bank AG.
3 Mit Bescheid vom ordnete das Kraftfahrt-Bundesamt wegen der Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung Nebenbestimmungen zu der für den Fahrzeugtyp erteilten EG-Typgenehmigung an. Die Beklagte legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein.
4 Der Kläger hat geltend gemacht, sein Fahrzeug weise in Gestalt der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sowie eines sogenannten Thermofensters unzulässige Abschalteinrichtungen auf, weshalb er die Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangen könne. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 31.104,75 € (Kaufpreis und Finanzierungskosten abzüglich Nutzungsentschädigung) nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu verurteilen. Ferner hat er die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie hinsichtlich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten teils Erstattung und teils Freistellung begehrt. Das Berufungsgericht hat das landgerichtliche Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 25.741,43 € Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs zu zahlen und ihm vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr nach diesem Zahlbetrag nebst Prozesszinsen zu erstatten. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Gründe
5 Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Sie führt, soweit das Berufungsgericht zum Nachteil der Beklagten erkannt hat, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
6 Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
7 Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 826 BGB. Die Beklagte habe potentielle Erwerber des Fahrzeugs getäuscht, indem sie mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs konkludent erklärt habe, dass es im Zeitpunkt des Vertragsschlusses über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfüge, deren Fortbestand nicht dadurch gefährdet sei, dass die erforderliche EG-Typgenehmigung durch eine Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes erschlichen worden sei. Diese Erklärung sei unzutreffend, weil in dem Fahrzeug eine gemäß Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung in Gestalt einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zum Einsatz gelange. Diese bewirke, dass unter den Bedingungen, die bei der für die Typzulassung notwendigen Prüfung im Labor herrschten, die Kühlmitteltemperatur künstlich niedrig gehalten werde, wodurch sich die Aufwärmung des Motors verzögere, sodass die Stickoxidwerte auf dem Prüfstand sicher unterhalb des gesetzlichen Grenzwerts blieben. Der Vortrag der Beklagten zur Funktionsweise der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sowie zur technischen Einordnung der Funktion sei nicht entscheidungserheblich, sondern nur dazu geeignet, den Blick auf das Wesentliche zu verstellen, nämlich dass es sich bei der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung auch unter Zugrundelegung des eigenen Vortrags der Beklagten zur Rüge des Kraftfahrt-Bundesamtes um eine unzulässige Abschalteinrichtung handle.
8 Der Beklagten helfe auch ihr vom Kraftfahrt-Bundesamt bestätigter Vortrag, wonach die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung anders als die sogenannte Kippschaltlogik beim VW-Motor EA 189 (fortan: Umschaltlogik) nicht ausschließlich auf dem Prüfstand aktiviert sei, nicht weiter. Der Unterschied der Steuerungssoftware des VW-Motors EA 189 und derjenigen des Mercedes-Motors OM 651 bestehe lediglich darin, dass die Software des EA 189 über eine Lenkwinkelerkennung registriert habe, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befunden habe, und die zur Einhaltung der Grenzwerte notwendige Abgasrückführung erst dann überhaupt aktiviert habe, wohingegen bei der streitgegenständlichen Steuerungssoftware die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, welche die sichere Einhaltung der Grenzwerte gewährleiste, sich außerhalb von Regelungsbedingungen, wie sie auf dem Prüfstand, unter realen Fahrbedingungen aber nicht vorkämen, oft abschalte. Ein "kategorialer" Unterschied zwischen der Prüfstandserkennung des VW EA 189 und dem Erkennen wesentlicher Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens durch den OM 651 sei nicht zu erkennen. Durch die Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sei der Erwerber eines Mercedes Benz GLK 220 CDI im Ergebnis daher genauso getäuscht wie die Erwerber eines Fahrzeugs, in dem ein mit einer Umschaltlogik versehener VW-Motor EA 189 verbaut sei.
9 Die Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten ergebe sich aus dem nach Ausmaß (55.000 bis 60.000 betroffene Fahrzeuge) und Vorgehen (Wahl der applizierten Schaltkriterien so, dass wesentliche Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens erkannt werden könnten und die Sollwertabsenkung mit Sicherheit bei der gesetzlichen Prüfung Typ 1 im Neuen Europäischen Fahrzyklus aktiv sei) besonders verwerflichen Charakter der Täuschung unter Ausnutzung des Vertrauens der Käufer in das Kraftfahrt-Bundesamt und unter Inkaufnahme nicht nur der Schädigung der Käufer, sondern auch der Umwelt. Der Schädigungsvorsatz der Beklagten beziehungsweise ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter beziehungsweise ihrer Verrichtungsgehilfen ergebe sich aus der heimlichen und manipulativen Vorgehensweise.
II.
10 Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Dabei kann auf sich beruhen, ob es sich bei der im Fahrzeug des Klägers implementierten Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung überhaupt um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handelt. Die Annahme des Berufungsgerichts, durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs habe die Beklagte oder einer ihrer Verrichtungsgehilfen den Kläger gemäß § 826 BGB in sittenwidriger Weise vorsätzlich geschädigt, beruht auch dann auf einer verfahrensfehlerhaften, gegen § 286 Abs. 1 ZPO verstoßenden Würdigung des Prozessstoffs.
111. Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung wahr oder nicht wahr ist. Diese Würdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich überprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen und die Grenzen des § 286 ZPO gewahrt hat. Damit unterliegt der Nachprüfung nur, ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den etwaigen Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., zB Senat, Urteil vom - III ZR 160/19, WM 2021, 129 Rn. 21; , WM 2024, 515 Rn. 30; jew. mwN).
122. Das Berufungsurteil erweist sich - auch bei Anwendung dieses engen revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs - als verfahrensfehlerhaft. Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht zur Begründung seiner den Sittenwidrigkeitsvorwurf tragenden Feststellungen den Prozessstoff nicht umfassend gewürdigt hat.
13 a) Nach allgemeinen Grundsätzen trägt derjenige, der einen Anspruch aus § 826 BGB geltend macht, die volle Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen, das heißt sowohl für die Umstände, die die Schädigung und deren Sittenwidrigkeit in objektiver Hinsicht begründen, als auch für den zumindest bedingten Vorsatz des Schädigers hinsichtlich des Vorliegens dieser Umstände (Senat, Urteil vom - III ZR 211/20, WM 2023, 134 Rn. 15; , BGHZ 225, 316 Rn. 35; jew. mwN). Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen (st. Rspr., zB Senat, Urteile vom - III ZR 303/20, juris Rn. 10 und vom - III ZR 221/20, WM 2024, 214 Rn. 13; , juris Rn. 14; jew. mwN).
14 Das Inverkehrbringen eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüsteten Kraftfahrzeugs durch einen Fahrzeughersteller ist nicht schon wegen des darin liegenden Gesetzesverstoßes als sittenwidriges Verhalten gegenüber dem Käufer des Fahrzeugs anzusehen. Damit eine unzulässige Abschalteinrichtung eine Haftung des Fahrzeugherstellers wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auslösen kann, müssen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Fahrzeugherstellers als besonders verwerflich erscheinen lassen (Senat, Urteile vom aaO Rn. 11 f und vom aaO Rn. 16; jew. mwN).
15 Einen derartigen Umstand kann es darstellen, wenn die Abschalteinrichtung danach unterscheidet, ob das Kraftfahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird oder sich im normalen Fahrbetrieb befindet. Bei der Prüfstandsbezogenheit handelt es sich um eines der wesentlichen Merkmale, nach denen die den sogenannten Abgasskandal auslösende, von der Volkswagen AG im Motortyp EA 189 verwendete Manipulationssoftware nicht nur eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt, sondern die deutlich höheren Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllt hat. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde. Sofern die verwendete Abschalteinrichtung demgegenüber auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, ist darauf abzustellen, ob die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann (vgl. zB Senat, Urteil vom aaO Rn. 16 f; VIa ZR 1012/22, juris Rn. 11; jew. mwN).
16 b) Eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde durch die Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung ist vorliegend nicht indiziert. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hält die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung im Fahrzeug des Klägers die Kühlmitteltemperatur nicht ausschließlich im Prüfstand niedrig. Sie arbeitet dementsprechend auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise.
17 c) Davon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen und hat die weiteren Umstände gewürdigt. Es hat seinen Sittenwidrigkeitsvorwurf darauf gestützt, die Beklagte habe die Erwerber eines Mercedes-Benz GLK 220 CDI "im Ergebnis" genauso getäuscht wie die Erwerber eines Fahrzeugs, das mit einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist. Insoweit hat es insbesondere darauf abgestellt, dass die für die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung applizierten Schaltkriterien so gewählt seien, dass wesentliche Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens erkannt werden könnten und die Sollwertabsenkung mit Sicherheit bei der gesetzlichen Prüfung Typ 1 im Neuen Europäischen Fahrzyklus aktiv sei. Damit und mit der Zahl der betroffenen Fahrzeuge, der Ausnutzung des Vertrauens der Fahrzeugkäufer in das Kraftfahrt-Bundesamt sowie der Inkaufnahme von Umweltschäden hat es die Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten begründet.
18 d) Bei dieser Würdigung hat das Berufungsgericht indes erhebliches Vorbringen der Beklagten zur Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung übergangen.
19 aa) Die Beklagte hat vorgetragen, die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung diene gerade einem wesentlichen Ziel, das der Gesetzgeber mit der Emissionsregulierung angestrebt habe, nämlich der Verringerung von Emissionen nach dem Kaltstart des Fahrzeugs insbesondere in Stadtbereichen mit hoher Verkehrsdichte. Die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung mache sich zunutze, dass der Motor im Warmlauf einen bestimmten Temperaturbereich durchlaufe, in dem eine Reduzierung der Stickoxid-Emissionen bei gleichzeitig verhältnismäßig geringen Partikelemissionen möglich sei. Um diesen Temperaturbereich länger zu erhalten, senke die Regelung im betreffenden Bereich des Warmlaufs die Zieltemperatur für das Kühlmittel ab.
20 Die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sei weder "ausschließlich" noch "praktisch ausschließlich" während der gesetzlichen Prüfung, sondern auch im realen Straßenbetrieb aktiviert. Es gebe für ihren Einsatz indessen physikalische und technische Grenzen. Diese ergäben sich aus der Motortemperatur, der Außentemperatur beim Fahrzeugstart, dem Luftdruck sowie der beschränkten Wirksamkeit im hohen Drehzahl- und Lastenbereich. Bedingt durch diese Gegebenheiten sei die Emissionsoptimierung, die durch die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung erzielt werden könne, auf bestimmte Betriebsbedingungen begrenzt und wäre eine dauerhafte Absenkung der Kühlmittelsolltemperatur nahezu wirkungslos. Darin liege der Grund, weshalb die Regelung unter bestimmten Bedingungen, die außerhalb der Prüfbedingungen lägen, nicht zum Einsatz komme.
21 Das Kraftfahrt-Bundesamt beanstande die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung bei weitem nicht in allen Fahrzeugen als unzulässige Abschalteinrichtung, sondern allein bei solchen Fahrzeugen, bei deren Softwaregestaltung die Stickoxid-Grenzwerte im Prüfzyklus nur bei Aktivierung der Regelung eingehalten würden. Bei einer Gruppe von Fahrzeugen ließen sich geringere Stickoxid-Emissionen als Folge der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sogar nur außerhalb des Prüfzyklus messen.
22 bb) Das Berufungsgericht hat sich mit diesem Vorbringen nur unter dem Gesichtspunkt befasst, ob es sich bei der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 handelt, und es unter diesem Gesichtspunkt für unerheblich erachtet. In Bezug auf die weiteren Umstände, auf die es den Vorwurf sittenwidrigen Verhaltens gestützt hat, ist das Berufungsgericht auf dieses Vorbringen nicht eingegangen. Darin liegt ein Verstoß gegen § 286 ZPO.
23 Vor allem ist unter Zugrundelegung ihres Vortrags das Vorgehen der Beklagten nicht dadurch geprägt, dass sie die Bedingungen gezielt danach "gewählt" hat, dass wesentliche Randbedingungen des gesetzlichen Prüfverfahrens erkannt werden können. Die Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung ist danach gerade nicht zu vergleichen mit der Verwendung einer Umschaltlogik in den Motoren vom Typ EA 189, bei der die Grenzwerte ausschließlich auf dem Prüfstand gewährleistet wurden und das Kraftfahrt-Bundesamt durch die Motorsteuerungssoftware über eben diesen Sachverhalt getäuscht worden war (vgl. , juris Rn. 17; Beschluss vom - VI ZR 433/19, WM 2021, 354 Rn. 17 f zur Verwendung einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems).
24 cc) Eine Auseinandersetzung mit dem Beklagtenvorbringen war nicht entbehrlich, weil das Berufungsgericht im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Schädigungsvorsatz der Beklagten ein Handeln aufgrund vertretbarer Rechtsansicht verneint hat. Die bislang getroffenen Feststellungen lassen nicht den Schluss zu, dass die Rechtslage eindeutig gewesen ist und die Beklagte dementsprechend in Bezug auf die Verwendung der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und unter billigender Inkaufnahme der Folgen des Gesetzesverstoßes gehandelt haben muss. Dies gilt jedenfalls mit Blick auf die Ausnahmeregelung in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, auf die sich die Beklagte ausdrücklich berufen hat und nach der die Verwendung einer - hier in Gestalt der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung unterstellten - Abschalteinrichtung zulässig ist, wenn sie notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.
25 (1) Das Berufungsgericht hat ein Handeln unter dem Gesichtspunkt des Motor- und Bauteilschutzes allein mit der Begründung verneint, die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung werde nur auf dem Prüfstand stets aktiviert, sodass die Grenzwerte sicher auch nur dort eingehalten würden, unter realen Fahrbedingungen aber oft abgeschaltet. Mit dieser allgemeinen Feststellung lässt sich nicht ausschließen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgelegen haben. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Bedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet wäre, nicht im Sinne dieser Vorschrift notwendig sein (EuGH, EuZW 2022, 1073 Rn. 75 f; 2023, 68 Rn. 91; 2023, 378 Rn. 65 f mwN). Die Revision wendet jedoch zu Recht ein, dass sich dem vom Berufungsgericht verwendeten Adverb "oft" nicht entnehmen lässt, wie häufig die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung unter normalen Betriebsbedingungen abgeschaltet wird. Dementsprechend kann anhand der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden, ob die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung in einem Umfang abgeschaltet wird, der einer Rechtfertigung dieser Funktion nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zwingend entgegensteht.
26 (2) Erst recht tragen die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht die Annahme, dass es zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des im Jahr 2014 vom Kläger erworbenen Fahrzeugs unvertretbar gewesen ist, von der Zulässigkeit der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung auszugehen. Die Auslegung der Ausnahmevorschrift in Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 war angesichts ihrer Unschärfe zum damaligen Zeitpunkt nicht eindeutig (vgl. Senat, Urteile vom - III ZR 205/20, WM 2022, 539 Rn. 24 und vom - III ZR 263/20, WM 2022, 1074 Rn. 23; , WM 2021, 2108 Rn. 31 zur Notwendigkeit, den Motor durch die Verwendung eines Thermofensters vor Beschädigung zu schützen). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich mit Urteil vom (C-693/19, NJW 2021, 1216) erstmals mit dieser Auslegung befasst. Mit Urteilen vom hat er erst entschieden, dass obwohl Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 formell keine entsprechende Voraussetzung vorschreibt, eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Bedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet wäre, nicht im Sinne dieser Vorschrift gerechtfertigt sein kann (EuGH, EuZW 2022, 1073 Rn. 75 f; RIW 2022, 604 Rn. 74 f; NJW 2022, 2605 Rn. 63 f).
27 e) Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend für die Annahme einer heimlichen und manipulativen Vorgehensweise der Beklagten, von der das Berufungsgericht auf einen Schädigungsvorsatz der Beklagten geschlossen hat. Das Berufungsgericht hat diese Annahme zwar unter Hinweis auf § 286 ZPO damit begründet, die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung sei zu seiner Überzeugung gezielt zur Beeinflussung des Emissionsverhaltens im Prüfzyklus programmiert worden unter Inkaufnahme eines Widerrufs der Typgenehmigung und der Stilllegung der Fahrzeuge. Dabei handelt es sich nach dem Inhalt der Entscheidungsgründe jedoch lediglich um eine weitere Schlussfolgerung aus der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass ein Handeln aufgrund vertretbarer Rechtsansicht ausgeschlossen gewesen sei. Damit hat es sich auch insoweit nicht umfassend mit dem Prozessstoff auseinandergesetzt, zumal aus den oben genannten Gründen auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen nicht von einer eindeutigen Rechtslage ausgegangen werden kann.
283. Das Berufungsurteil beruht auf den Verfahrensfehlern. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Prozessstoff zu einem der Beklagten günstigen Ergebnis gekommen wäre.
III.
29
30zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:070125UIIIZR284.20.0
Fundstelle(n):
AAAAJ-83489