Haftungsabwägung beim Sturz eines Motorradfahrers ohne Berührung mit dem vorausfahrenden Pkw aufgrund eines starken Abbremsens
Leitsatz
Ein Anscheinsbeweis, der beim Auffahrunfall für einen schuldhaften Verstoß des Hintermanns gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO spricht, kann auch dann eingreifen, wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt.
Gesetze: § 7 Abs 1 StVG, § 17 Abs 1 StVG, § 17 Abs 2 StVG, § 17 Abs 3 StVG, § 18 Abs 1 StVG, § 115 Abs 1 S 1 Nr 1 VVG, § 286 ZPO, § 1 Abs 2 StVO, § 3 Abs 1 S 4 StVO, § 4 Abs 1 S 1 StVO, § 6 Abs 1 StVO
Instanzenzug: OLG Celle Az: 14 U 32/23 Urteilvorgehend LG Verden Az: 1a O 104/21
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind.
2 Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad die B. Straße in Richtung H. Vor ihm fuhr ein Pkw, hinter ihm ein weiteres Motorrad. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit betrug 70 km/h. Die Beklagte zu 1 fuhr mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf der B. Straße in die Gegenrichtung. Ihre Fahrbahn war in einer leichten Rechtskurve durch ein Müllabfuhrfahrzeug blockiert, das gerade beladen wurde. Um an diesem Fahrzeug vorbeizufahren, wechselte die Beklagte zu 1 auf die Gegenfahrbahn. Der ihr dort entgegenkommende Pkw bremste stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1 zu vermeiden. Auch der hinter diesem Pkw fahrende Kläger machte eine Vollbremsung. Sein Motorrad, das nicht über ein Anti-Blockier-System (ABS) verfügte, geriet dabei ins Rutschen. Der Kläger stürzte und zog sich erhebliche Verletzungen zu. Zu einer Kollision des Motorrads mit dem vorausfahrenden Pkw kam es nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Motorradfahrer konnte abbremsen, ohne zu stürzen.
3 Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtlichen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfall auf der Grundlage einer 100 %-igen Haftungsquote zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Dritte übergegangen ist oder noch übergeht. Das Landgericht hat Zeugen zum Unfallhergang vernommen, den Kläger und die Beklagte zu 1 angehört, ein schriftliches Sachverständigengutachten eingeholt und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht ohne eigene Beweisaufnahme das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und die begehrte Feststellung auf der Grundlage einer Haftungsquote von 40 % zulasten der Beklagten getroffen. Die weitergehende Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter. Die Beklagten begehren mit ihrer Anschlussrevision die Wiederherstellung des Urteils des Landgerichts.
Gründe
I.
4Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, die unter anderem in MDR 2024, 162 veröffentlicht ist, im Wesentlichen ausgeführt:
5Die zulässige Feststellungsklage sei teilweise begründet. Die Beklagten hafteten dem Kläger aus dem Verkehrsunfall gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 17 Abs. 1 und 2 StVG, § 115 Abs. 1 VVG als Gesamtschuldner auf der Grundlage einer Haftungsquote von 40 %. Obwohl der Kläger berührungslos gestürzt sei, bestehe der notwendige Zurechnungszusammenhang zwischen dem Betrieb des Kraftfahrzeugs der Beklagten, den Verletzungen des Klägers und den Beschädigungen an seinem Motorrad. Hätte die Beklagte zu 1 das auf ihrer Spur haltende Müllabfuhrfahrzeug nicht unter Verstoß gegen § 6 Satz 1 StVO auf der Fahrbahn des Klägers umfahren, hätte es keiner Vollbremsung des Gegenverkehrs bedurft.
6Der Verkehrsunfall sei weder für den Kläger noch für die Beklagte zu 1 unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG gewesen. Die Beklagte zu 1 habe die Sorgfaltsanforderungen des § 6 Satz 1 StVO nicht beachtet. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme sei die Beklagte zu 1 am Müllabfuhrfahrzeug vorbei auf die Gegenfahrbahn gefahren, obwohl eine Anhöhe, eine leichte Rechtskurve und ein vor ihr fahrendes Fahrzeug ihre Sicht auf den Gegenverkehr eingeschränkt hätten. Aus den erstinstanzlichen Zeugenaussagen ergebe sich, dass der Gegenverkehr bereits wahrnehmbar gewesen sei, als die Beklagte zu 1 in die Gegenfahrbahn eingefahren sei. Die Beklagte zu 1 habe vor dem Einfahren keinerlei eigene Überprüfungen geschildert.
7Zu Lasten des Klägers streite ein nicht erschütterter Anscheinsbeweis. Die Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen gälten auch für den vorliegenden Fall, in dem es wegen des Sturzes des Hintermannes (des Klägers) nicht mehr zu einer Kollision mit dem vor ihm fahrenden Fahrzeug gekommen sei. Eine Bremsung mit anschließendem Sturz in unmittelbarem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Abbremsen des vor ihm fahrenden Fahrzeugs lasse mangels anderweitiger in Betracht kommender Erklärungen allein und damit typischerweise eine fehlerhafte Reaktionshandlung auf ein als Verkehrshindernis wahrgenommenes Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers zu. Gelinge es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig zu reagieren und gelinge es nur durch einen Sturz, eine Kollision mit dem Vorausfahrenden zu vermeiden, spreche die Lebenserfahrung wie beim Auffahrunfall dafür, dass Ursache des Sturzes das eigene Fehlverhalten infolge zu geringen Abstands oder verspäteter Reaktion sei. Es sei von einem Anscheinsbeweis zulasten des Klägers auszugehen, dass er entweder gegen das Sichtfahrgebot nach § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen habe, den nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstand nicht eingehalten habe, den Erstunfall infolge eigener Unaufmerksamkeit zu spät bemerkt habe (§ 1 Abs. 2 StVO) oder mangels Beherrschung seines Motorrades stärker abgebremst habe, als es zur sicheren Vermeidung einer Kollision notwendig gewesen wäre. Der Sachverständige habe ausgeführt, der Kläger habe die Vorder- und Hinterradbremse derart betätigt, dass beide Bremsen am Motorrad blockiert hätten. Dies sei als "Schreck- oder Panikbremsung" einzustufen. Der Sturz wäre bei dem Motorrad des Klägers, das nicht über ein ABS verfüge, durch eine kontrollierte Betätigung der Vorderradbremse vermeidbar gewesen. Ein Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am Unfallort sei hingegen nicht festzustellen. Bei der nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG gebotenen Abwägung sei zu berücksichtigten, dass die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs durch den Ausschervorgang erhöht gewesen sei. Allerdings trage der Kläger einen deutlich höheren Verantwortungsteil als die Beklagte zu 1, weil erst sein sorgfaltswidriges Verhalten zu seinem Sturz geführt habe.
II.
Revision des Klägers
8Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann ein über die zuerkannte Haftungsquote von 40 % zulasten der Beklagten hinausgehender Anspruch des Klägers auf Schadensersatz aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden.
91. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Haftungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG dem Grunde nach vorliegen. Der Schaden des Klägers ist bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs entstanden.
10a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist ein Schaden bereits dann "bei dem Betrieb" eines Kraftfahrzeugs entstanden, wenn sich in ihm die von dem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahren ausgewirkt haben, das heißt, wenn bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist. Erforderlich ist aber stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll, d.h. die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. Für die Zurechnung der Betriebsgefahr kommt es damit maßgeblich darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht (vgl. nur Senatsurteil vom - VI ZR 77/23, NJW 2024, 898 Rn. 13 mwN).
11Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Haftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG nicht davon abhängt, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist (Senatsurteil vom - VI ZR 533/15, NJW 2017, 1173 Rn. 12 mwN). Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Bei einem sogenannten "Unfall ohne Berührung" ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, also, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (vgl. , NJW 2017, 1173 Rn. 14; vom - VI ZR 168/04, NJW 2005, 2081, juris Rn. 10 mwN). Das kann etwa der Fall sein, wenn der Geschädigte durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs zu einer Reaktion wie z.B. zu einem Ausweichmanöver oder zum Abbremsen veranlasst wird und dadurch ein Schaden eintritt. In einem solchen Fall kann der für eine Haftung erforderliche Zurechnungszusammenhang je nach Lage des Falles zu bejahen sein (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 263/09, NJW 2010, 3713 Rn. 5). Auch ein Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder Ausweichreaktion kann gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 263/09, NJW 2010, 3713 Rn. 6 mwN).
12b) Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler angenommen, dass bei dem berührungslosen Unfall des Klägers der erforderliche Zurechnungszusammenhang zu dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs besteht. Aus dem Tatbestand des Berufungsurteils, dessen Unrichtigkeit grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO und nicht mit einer Verfahrensrüge nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO geltend gemacht werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZR 191/22, NJW-RR 2023, 1356 Rn. 10; Senatsurteil vom - VI ZR 101/14, juris Rn. 50 mwN), ergibt sich, dass die Beklagte zu 1 an dem auf ihrer Fahrbahn haltenden Müllabfuhrfahrzeug vorbeifuhr, indem sie auf die Gegenfahrbahn wechselte. Der ihr entgegenkommende Pkw bremste stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1, die sich noch auf der Gegenfahrbahn befand, zu vermeiden. Auch der hinter dem stark abbremsenden Pkw fahrende Kläger machte nach den Feststellungen im Tatbestand des Berufungsurteils mit seinem Motorrad eine Vollbremsung. Dabei geriet er ins Rutschen und stürzte. Eine Berichtigung des Tatbestands nach § 320 ZPO ist nicht beantragt worden. Die Beweiskraft des Tatbestands wird im Streitfall auch nicht durch das Sitzungsprotokoll über die Verhandlung, aufgrund der das Urteil ergangen ist, entkräftet, § 314 Satz 2 ZPO (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom - VI ZR 191/22, NJW-RR 2023, 1356 Rn. 10; Senatsurteil vom - VI ZR 101/14, juris Rn. 50 mwN).
13Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler angenommen, dass das Fahrverhalten der Beklagten zu 1, also der Wechsel auf die Gegenfahrbahn, um an dem haltenden Müllabfuhrfahrzeug vorbeizufahren, das Fahrmanöver des Klägers - jedenfalls mittelbar - beeinflusste. Ohne das Fahrverhalten der Beklagten zu 1 hätte der ihr entgegenkommende Pkw nicht abgebremst und hätte auch der Kläger keine Vollbremsung gemacht. Das Berufungsgericht ist nach den oben genannten Grundsätzen auch rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass der Zurechnungszusammenhang nicht deshalb zu verneinen ist, weil der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit einer "Panik- oder Schreckbremsung" und damit gegebenenfalls in nicht erforderlicher Weise reagierte. Genauso wenig steht dem Zurechnungszusammenhang entgegen, dass sich nach der Darstellung der Beklagten der Zeuge Ar. (Fahrer des der Beklagten zu 1 entgegenkommenden Pkw) falsch verhalten hat, indem er trotz ausreichenden Abstands zur Beklagten zu 1, die ihren Überholvorgang ohne Komplikationen habe abschließen können, grundlos eine Gefahrenbremsung eingeleitet habe.
142. Entgegen der Ansicht der Revision ist das Berufungsgericht im Ergebnis auch zu Recht davon ausgegangen, dass der Verkehrsunfall für den Kläger nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG war.
15a) Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat (§ 17 Abs. 3 Satz 2 StVG). Der Begriff des unabwendbaren Ereignisses verlangt eine sich am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kraftfahrzeugbetrieb ausrichtende Wertung. Diese Wertung hat unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen. Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre; der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, dass sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) "ideal" verhält. Damit verlangt § 17 Abs. 3 StVG, dass der "Idealfahrer" in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden (vgl. , NJW 2006, 896 Rn. 21; vom - VI ZR 62/91, BGHZ 117, 337, 341, juris Rn. 11 mwN - zu § 7 Abs. 2 StVG aF).
16b) Das Berufungsgericht hat die Annahme, dass der Verkehrsunfall nicht durch ein unabwendbares Ereignis verursacht worden ist, damit begründet, dass der Kläger sorgfaltspflichtwidrig gehandelt habe. Ob dies zutrifft, kann an dieser Stelle dahinstehen. Dahinstehen kann auch, ob der Sturz des Klägers noch im Zeitpunkt des Abbremsens durch kontrolliertes Betätigen der Vorderradbremse vermeidbar gewesen wäre. Denn ein Idealfahrer, der weiß, dass sein Motorrad nicht über ein ABS verfügt und bei einer reflexhaften Vollbremsung ein Sturz droht, hätte von vornherein eine Fahrweise gewählt, mit der ein reflexhaftes Bremsen in der Situation des Klägers vermieden worden wäre. Er hätte den Abstand zum Vorausfahrenden und die Geschwindigkeit so bemessen, dass er selbst im Fall plötzlich scharfen Bremsens des Vorausfahrenden - das er stets einkalkulieren muss (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StVO; vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 138/85, NJW 1987, 1075, juris Rn. 13 mwN) - noch hätte kontrolliert bremsen und sowohl einen Sturz als auch eine Kollision mit dem Vorausfahrenden hätte vermeiden können.
173. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG ist nicht frei von Rechtsfehlern. Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 77/23, NJW 2024, 898 Rn. 18 mwN). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.
18a) Das Berufungsgericht ist im Ausgangspunkt zwar zu Recht davon ausgegangen, dass ein Anscheinsbeweis, der für einen schuldhaften Verstoß des Hintermanns gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO spricht, auch dann eingreifen kann, wenn ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden kommt. Die Annahme des Berufungsgerichts, ein solcher Sachverhalt liege im Streitfall vor, hat der Kläger jedoch erfolgreich mit Verfahrensrügen angegriffen.
19aa) Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht (Senatsurteil vom - VI ZR 76/23, NJW 2024, 1037 Rn. 19 mwN). Nach ständiger Rechtsprechung greift der Beweis des ersten Anscheins bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist. Dabei bedeutet Typizität nicht, dass die Ursächlichkeit einer Tatsache für den Erfolg bei allen Sachverhalten der Fallgruppe immer vorhanden sein muss, sie muss aber so häufig gegeben sein, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist (Senatsurteil vom - VI ZR 76/23, NJW 2024, 1037 Rn. 19 mwN).
20In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht hat. Das Auffahren erlaubt grundsätzlich eine alternative Schuldfeststellung dahin, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 188/86, NJW-RR 1987, 1235, 1236, juris Rn. 12). Denn der Kraftfahrer ist verpflichtet, seine Fahrweise so einzurichten, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 Rn. 10 mwN).
21Diesem Fall steht - wie das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zu Recht angenommen hat - der Fall gleich, in dem ein Motorradfahrer hinter einem stark abbremsenden Pkw ohne Berührung der Fahrzeuge stürzt und es nur durch Zufall nicht zu einer Kollision mit dem Vorausfahrenden gekommen ist. Steht ein solcher Sachverhalt fest, spricht der erste Anschein dafür, dass der stürzende Motorradfahrer den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; vgl. OLG Schleswig, SVR 2022, 302, 303 mit Anmerkung Bachmor; LG Wuppertal, r+s 2020, 349, 351; LG Saarbrücken, NZV 2011, 188, 189; AG Hoyerswerda, NZV 2013, 449, 450; Daßbach, NZV 2024, 345; Kemperdiek, jurisPR-VerkR 2/2024 Anm. 1; aA LG Hamburg, NZV 2018, 530 mit Anmerkung Bachmor; Geipel, NZV 2015, 1, 5; BeckOK StVR/Krenberger, StVO, Stand: , § 4 Rn. 38).
22bb) Das Berufungsgericht hat seine Annahme, im Streitfall spreche ein Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 4 oder § 1 Abs. 2 StVO, damit begründet, dass es nur deshalb nicht zu einem Auffahrunfall gekommen sei, da der Kläger zuvor gestürzt und in Richtung Fahrbahnrand am vorausfahrenden Fahrzeug vorbeigerutscht sei. Eine Kollision mit dem vorausfahrenden Fahrzeug habe lediglich vom Zufall abgehangen. Die gegen diese Feststellungen vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen greifen durch.
23(1) Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 44/12, NJW 2014, 71 Rn. 13; , WM 2016, 1884 Rn. 23). Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht.
24(2) Soweit das Berufungsgericht festgestellt hat, dass der Kläger bei kontrolliertem - also nicht zu einem Sturz führenden - Bremsen mit seinem Motorrad auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren wäre, rügt die Revision zu Recht, dass die dieser Feststellung zugrundeliegenden Ausführungen des Sachverständigen widersprüchlich sind. Auf der einen Seite führt das Berufungsgericht aus, dass der Sachverständige "wegen fehlender kollisionsbedingter Kontakte aus technischer Sicht keine nachweisbare zeitliche Kopplung zwischen den einzelnen Fahrzeugbewegungen" habe vornehmen können. Auf der anderen Seite nimmt es an, der Sachverständige habe den Unfall unter Berücksichtigung der vorgefundenen Unfallspuren und der Beschädigungen am Motorrad rekonstruiert. Die Revision weist zu Recht darauf hin, dass das Berufungsgericht hierbei nicht beachtet hat, dass der Sachverständige laut Gutachten "mangels entsprechender Anknüpfungspunkte" seiner Unfallrekonstruktion nur einen "möglichen Unfallablauf" zugrunde gelegt hat. Er hat hierfür etwa unterstellt, dass der Kläger lediglich sechs bis sieben Meter Abstand zum Vorausfahrenden eingehalten habe. Weitere Feststellungen, die seine Annahme stützen könnten, hat das Berufungsgericht nicht getroffen und den Sachverständigen auch nicht angehört.
25Entsprechendes gilt für die Feststellung des Berufungsgerichts, das Motorrad sei nach dem Sturz in Richtung Fahrbahnrand am vorausfahrenden Fahrzeug vorbeigerutscht. Die Revision rügt auch hier zu Recht, dass dieser Feststellung widersprüchliche Ausführungen des Sachverständigen zugrunde liegen und ohne weitere Aufklärung das Sachverständigengutachten keine Grundlage für diese Feststellung bietet (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 44/12, NJW 2014, 71 Rn. 14 mwN). Der Sachverständige führt in seinem Gutachten einerseits aus, der prinzipielle Unfallablauf lasse sich so rekonstruieren, dass das Klägerfahrzeug nach links gekippt, in den Einmündungstrichter der R-Straße gerutscht und dort die unfallbedingte Endlage erreicht habe. Andererseits teilt er mit, die genaue unfallbedingte Endlage des Klägerfahrzeugs sei nicht dokumentiert, ebenso wenig die Position des Müllabfuhrfahrzeugs. Das Berufungsgericht hat keine weiteren Feststellungen getroffen, die seine Annahme, das Motorrad sei nach dem Sturz in Richtung Fahrbahnrand am vorausfahrenden Fahrzeug vorbeigerutscht, stützen würden.
26cc) Soweit das Berufungsgericht die den Anscheinsbeweis rechtfertigende alternative Schuldfeststellung auf einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO gestützt hat, weil der Kläger sich jedenfalls verbremst habe, ist dies nicht frei von Rechtsfehlern. Denn ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO scheidet aus, wenn ein Fahrzeugführer durch sein Verhalten nur das von ihm gesteuerte Fahrzeug oder sich selbst verletzt oder gefährdet (vgl. , BGHSt 12, 282 ff.; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 1 StVO Rn. 33). Dies ist hier, da der Kläger die gegenteiligen Feststellungen des Berufungsgerichts mit Erfolg angegriffen hat (siehe unter bb), zu seinen Gunsten zu unterstellen.
27b) Allerdings liegt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls ein Fahrfehler des Klägers vor. Der Kläger hat auf das Abbremsen des vorausfahrenden Pkw falsch reagiert. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Verfahrensrügen erhoben hat, hat der Senat diese geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).
28Ein solcher Fahrfehler ist in die nach § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung zulasten des Klägers einzustellen. Dabei ist zu berücksichtigten, dass ein Schadensbeitrag des Geschädigten, der sich zugleich als Verstoß gegen eine Rechtspflicht darstellt, für die Abwägung ein erhöhtes Gewicht hat (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 59/97, NJW 1998, 1137, 1138, juris Rn. 9). Im Umkehrschluss trifft den Geschädigten bei einem bloßen Fahrfehler, der sich nicht zugleich als Verstoß gegen eine Rechtspflicht darstellt, ein weniger gewichtiger Vorwurf. Das Berufungsgericht hat nicht deutlich gemacht, dass es diesen Unterschied in der Gewichtung bei der Abwägung berücksichtigt hat. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass das Ergebnis der Abwägung bei Berücksichtigung dieses Unterschieds anders ausfallen würde.
III.
Anschlussrevision der Beklagten
29Auch die zulässige Anschlussrevision hat Erfolg.
301. Die Anschlussrevision der Beklagten ist zulässig (§ 554 ZPO). Entscheidend hierfür ist entgegen der Ansicht der Anschlussrevisionserwiderung nicht, ob die in der Anschlussrevision erörterten Fragen mit der Frage, mit der das Berufungsgericht die Zulassung der Revision begründet hat, im Zusammenhang stehen. Selbst bei beschränkter Zulassung der Revision - die hier nicht vorliegt - kann eine Anschlussrevision auch dann eingelegt werden, wenn die Anschlussrevision nicht den Streitstoff betrifft, auf den sich die Zulassung bezieht. Unzulässig ist die Anschlussrevision nur dann, wenn sie einen Lebenssachverhalt betrifft, der mit dem von der Revision erfassten Streitgegenstand nicht in einem unmittelbaren rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang steht (, juris Rn. 22 mwN; vom - VI ZR 353/09, NJW-RR 2011, 823 Rn. 12; , NZI 2015, 799 Rn. 28). Vorliegend besteht ein solcher unmittelbarer rechtlicher und wirtschaftlicher Zusammenhang, da sowohl die Revision als auch die Anschlussrevision sich mit demselben Verkehrsunfall und den Haftungsvoraussetzungen der § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG sowie der Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG befassen.
312. Die Anschlussrevision ist begründet.
32a) Das Berufungsgericht ist, wie die Anschlussrevision zu Recht rügt, verfahrensfehlerhaft zu der Überzeugung gelangt, es liege ein schuldhafter Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 6 Abs. 1 StVO vor. Das Berufungsgericht hat verfahrensfehlerhaft das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme abweichend vom Landgericht gewürdigt, ohne die Beweisaufnahme zu wiederholen.
33aa) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (Senatsbeschluss vom - VI ZR 98/22, NJW-RR 2023, 700 Rn. 7 mwN). Das Berufungsgericht kann auch die Angaben einer in erster Instanz nach § 141 ZPO informatorisch angehörten Partei, die in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 Abs. 1 ZPO Eingang gefunden haben und dort in ihrer Glaubwürdigkeit bewertet wurden, nicht ohne eigene Anhörung abweichend würdigen (Senatsurteil vom - VI ZR 103/17, NJW 2018, 308 Rn. 10 mwN; BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 58).
34bb) Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass die durchgeführte Beweisaufnahme das Ergebnis des Landgerichts nicht trage und hat eine vom Landgericht abweichende Beweiswürdigung vorgenommen. So hat das Landgericht angenommen, aus der Aussage des Zeugen Ar. folge kein sicher anzunehmendes risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1, eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang sei nicht festzustellen. Demgegenüber hat das Berufungsgericht der Aussage des Zeugen Ar. entnommen, der Zeuge habe eine beinahe erfolgte Kollision geschildert. Nach den dargelegten Grundsätzen ist die abweichende Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, ohne die Beweisaufnahme zu wiederholen, verfahrensfehlerhaft erfolgt. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach erneuter Beweisaufnahme - ggf. auch nur im Rahmen der Gewichtung eines etwaigen Verstoßes gegen § 6 Satz 1 StVO - zu einem anderen Ergebnis kommen könnte.
35b) Soweit die Anschlussrevision weitere Verfahrensrügen erhoben hat, hat der Senat diese geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).
IV.
36Die angefochtene Entscheidung beruht auf den dargestellten Rechtsfehlern. Das Berufungsurteil war aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Seiters Klein Allgayer
Böhm Linder
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:031224UVIZR18.24.0
Fundstelle(n):
NJW 2025 S. 8 Nr. 6
TAAAJ-83474