BGH Urteil v. - X ZR 114/22

Servicemodul

Leitsatz

Servicemodul

1a. In einem Vorrichtungsanspruch enthaltene Zweck-, Wirkungs- oder Funktionsangaben bestimmen und begrenzen den geschützten Gegenstand nur insoweit, als das Vorrichtungselement, auf das sie sich beziehen, räumlich-körperlich so ausgebildet sein muss, dass es die betreffende Funktion erfüllen kann (Bestätigung von , GRUR 2006, 923 Rn. 15 - Luftabscheider für Milchsammelanlage).

1b. Weist eine Vorrichtung die erforderliche Eignung auf, ist unerheblich, ob die patentgemäßen Eigenschaften und Wirkungen regelmäßig, nur in Ausnahmefällen oder nur zufällig erreicht werden und ob es der Benutzer darauf absieht, diese Wirkungen zu erzielen (Bestätigung von , GRUR 2006, 399 Rn. 21 - Rangierkatze).

2a. Eine Vorbenutzung offenbart den Gegenstand eines Patents schon dann, wenn die nicht nur theoretische und nicht nur entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen (Bestätigung von , GRUR 2015, 463 Rn. 39 - Presszange; Urteil vom - X ZR 75/18, GRUR 2020, 833 Rn. 28 - Konditionierverfahren).

2b. Die Eignung einer vor dem Prioritätstag benutzten Vorrichtung zur Erfüllung einer bestimmten Funktion ist der Öffentlichkeit nur dann zugänglich, wenn die Art und Weise ihrer Zugänglichkeit es erlaubt, die wahrnehmbaren Informationen so präzise und verlässlich aufzunehmen, dass eine darauf beruhende Nachbildung die Funktion objektiv verwirklichen würde.

Gesetze: Art 54 Abs 2 EuPatÜbk, Art 69 Abs 1 EuPatÜbk, § 3 Abs 1 PatG, § 14 PatG

Instanzenzug: Az: 3 Ni 20/19 (EP) Urteil

Tatbestand

1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 740 740 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme einer französischen Priorität vom angemeldet worden ist und ein kompaktes Servicemodul für Anlagen zur elektrolytischen Herstellung von Aluminium betrifft.

2Der Patentanspruch 1, auf den 19 Ansprüche zurückbezogen sind, lautet in der Verfahrenssprache:

Module de service (7) d'une série de cellules d'électrolyse (2) destinée à la production d'aluminium par électrolyse ignée comprenant un châssis (8) apte à être fixé à un chariot (6) et une tourelle (9) montée sur le châssis (8) de manière à pouvoir pivoter autour d'un axe vertical A en utilisation, définissant un plan Pt sensiblement horizontal en utilisation, dit plan de la tourelle, et équipée de:

- un ensemble d'outils incluant notamment un piqueur (11) monté sur un bras télescopique (11a), une pelle à godets (12) montée sur un bras télescopique (12a), au moins une première pince à anodes (13) montée sur un bras télescopique (13a) et une trémie (15) munie d'un conduit escamotable (16) ;

- un balcon ou une cabine (18) comportant des commandes destinées à manœuvrer le module et lesdits outils et un poste de conduite (19) duquel un opérateur peut actionner lesdites commandes,

et caractérisé en ce que, par rapport à un premier plan P1 et à un deuxième plan P2, perpendiculaires l'un à l'autre et au plan Pt de la tourelle (9) et se croisant sur l’axe A:

- le centre C du poste de conduite (19) est situé à une distance déterminée C1 du plan P1 et à une distance déterminée C2 du plan P2;

- le centre de la pelle à godets (12) et le centre de la première pince à anodes (13) sont situés du côté opposé du plan P1 par rapport au poste de conduite (19);

- le piqueur (11) et le conduit escamotable (16) sont disposés entre le poste de conduite (19) et la rangée formée par la pelle à godets (12) et la première pince à anodes (13).

3Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der geltenden Fassung und hilfsweise in 15 geänderten Fassungen verteidigt.

4Das Patentgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel mit ihren erstinstanzlichen Anträgen entgegen.

Gründe

5Die zulässige Berufung ist unbegründet.

6I. Das Streitpatent betrifft Servicemodule, die bei der Herstellung von Aluminium mittels Schmelzflusselektrolyse eingesetzt werden können.

71. Nach der Beschreibung des Streitpatents werden bei der Herstellung von Aluminium nach dem Hall-Héroult-Verfahren Elektrolysezellen eingesetzt.

8Mehrere Zellen würden in einer Halle in Reihen angeordnet, mit möglichst geringem Abstand zueinander und zu einer Seitenwand der Halle. Zum Austausch von abgenutzten Anoden würden Servicemodule eingesetzt, die mittels mobiler Brücken über die Zellen bewegt würden und die erforderlichen Werkzeuge aufwiesen.

9Bekannte Servicemodule benötigten viel Raum, was einer Verringerung des Abstands zu den Seitenwänden entgegenstehe und die Beweglichkeit der Module in der Nähe der Seiten einschränke. Angesichts der Vielzahl der erforderlichen Werkzeuge sei es schwierig, das Volumen zu reduzieren und gleichzeitig eine Sichtbarkeit der Vorgänge für den Bediener im Führerstand zu ermöglichen.

102. Vor diesem Hintergrund betrifft das Streitpatent das technische Problem, ein möglichst kompaktes Servicemodul mit guter Sicht auf die Arbeitsvorgänge bereitzustellen.

113. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 ein Servicemodul vor, dessen Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:

1. Servicemodul (7) für eine Reihe von Elektrolysezellen (2) zur Herstellung von Aluminium durch Schmelzflusselektrolyse.

2. Das Servicemodul umfasst ein Gestell (8) und einen Turm (9).

3. Das Gestell (8) ist zur Befestigung an einem Wagen (6) geeignet.

4. Der Turm (9) ist

4.1 so an dem Gestell (8) angebracht,

4.2 dass er im Einsatz um eine vertikale Achse A schwenkbar ist,

4.2.1 die eine im Einsatz im Wesentlichen horizontale Ebene Pt definiert, die als Turmebene bezeichnet wird,

4.3 mit einem Werkzeugsatz und einem Vorbau oder einer Kabine (18) ausgestattet.

4.3.1 Der Werkzeugsatz beinhaltet insbesondere ein an einem Teleskoparm (11a) angebrachtes Stechwerkzeug (11), eine an einem Teleskoparm (12a) angebrachte Becherschaufel (12), zumindest einen an einem Teleskoparm (13a) angebrachten ersten Anodengreifer (13) und einen mit einer einziehbaren Leitung (16) versehenen Trichter (15).

4.3.2 Der Vorbau oder die Kabine (18) umfasst Steuerungen zum Bedienen des Moduls und der Werkzeuge und einen Führerstand (19), von dem aus eine Bedienperson die Steuerungen betätigen kann.

5. In Bezug auf eine erste Ebene P1 und eine zweite Ebene P2, die senkrecht zueinander und zur Ebene Pt des Turms (9) sind und sich auf der Achse A schneiden, gilt:

5.1 Die Mitte C des Führerstands (19) ist in einem bestimmten Abstand C1 zur Ebene P1 und in einem bestimmten Abstand C2 zur Ebene P2 positioniert.

5.2 Die Mitte der Becherschaufel (12) und die Mitte des ersten Anodengreifers (13) sind auf der entgegengesetzten Seite der Ebene P1 in Bezug auf den Führerstand (19) positioniert.

5.3 Das Stechwerkzeug (11) und die einziehbare Leitung (16) sind zwischen dem Führerstand (19) und der durch die Becherschaufel (12) und den ersten Anodengreifer (13) ausgebildeten Reihe angeordnet.

124. Einige Merkmale bedürfen näherer Betrachtung.

13a) Mit der in Merkmalsgruppe 4 definierten Vorgabe, dass der zum Servicemodul gehörende Turm (9) sowohl mit einem Werkzeugsatz als auch mit einer Kabine (18) ausgestattet ist, grenzt sich das Streitpatent von einer im Stand der Technik bekannten Ausführungsform mit zwei separaten, konzentrisch angeordneten Türmen ab.

14b) Die in Merkmal 4.3.1 vorgesehenen Werkzeuge werden im Stand der Technik dazu eingesetzt, eine abgenutzte Anode zu entfernen und eine neue Anode einzusetzen.

15Die hierzu erforderlichen Arbeitsschritte sind schematisch in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 6 dargestellt (Abs. 25):

16In Schritt A wird eine die Anoden bedeckende Kruste mit dem Stechwerkzeug (1) gebrochen. In Schritt B wird die abgenutzte Anode mit einem der beiden Anodengreifer (13, 14) entfernt. In Schritt C wird die Anodenposition mit der Becherschaufel (12) gereinigt. In Schritt D wird die neue Anode mit einem Anodengreifer (13, 14) platziert und mit Material abgedeckt, das mittels der einziehbaren Leitung (16) zugeführt wird.

17c) Die in Merkmalsgruppe 5 vorgegebene Anordnung der mindestens vier Werkzeuge hat nach der Beschreibung die Funktion, während eines Anodenwechsels die Sichtbarkeit dieser Werkzeuge aus dem Führerstand (19) der Kabine (18) heraus zu ermöglichen. Dies wird in Figur 6 durch die vom Referenzpunkt (20) ausgehenden gestrichelten Linien dargestellt, die jeweils die Sicht des Bedieners zeigen (Abs. 25).

18Die erfindungsgemäße Anordnung ermöglicht es ferner, die Werkzeuge deutlich näher an der Drehachse des Turms anzuordnen, was zu einem kompakteren Modul führt und reduzierte Anfahrwege ermöglicht (Abs. 8).

19d) Die nach Merkmalsgruppe 5 relevanten Ebenen und Achsen sind in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 2 dargestellt, die die Kabine (18) und die Werkzeuge (11, 12, 15, 16) von unten zeigt.

20aa) Die Ebenen P1 und P2 schneiden sich in der Drehachse A, wie dies Merkmal 5 vorsieht.

21bb) Die Mitte C des zur Kabine (18) gehörenden Führerstands (19) weist einen Abstand C1 zur Ebene P1 und einen Abstand C2 zur Ebene P2 auf, wie dies Merkmal 5.1 vorsieht.

22Der Abstand C2 kann nach der Beschreibung auch den Wert 0 annehmen (Abs. 27).

23Der Abstand C1 muss hingegen größer als 0 sein. Dies ergibt sich aus Merkmal 5.2, wonach die Mitte der Becherschaufel (12) und die Mitte des ersten Anodengreifers (13) auf der entgegengesetzten Seite der Ebene P1 positioniert sind. Dieses Merkmal setzt voraus, dass die Mitte des Führerstands auf einer Seite der Ebene P1 angeordnet ist, also nicht in dieser Ebene liegt.

24cc) Zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass Merkmal 5.3 den Bereich, in dem das Stechwerkzeug (11) und die einziehbare Leitung (16) angeordnet sind, nach vier Richtungen hin begrenzt.

25(1) Wie auch die Berufungserwiderung nicht in Zweifel zieht, begrenzt Merkmal 5.3 den Bereich, in dem die beiden genannten Werkzeuge angeordnet werden dürfen, in den beiden Richtungen, die in Figur 2 durch die Pfeile C1, A1 und B1 dargestellt sind.

26Im unteren Bereich von Figur 2 wird diese Grenze durch den Führerstand (19) bestimmt, im oberen Bereich durch die Becherschaufel (12) und den Anodengreifer (13). Nach der Beschreibung ist die in Merkmal 5.3 definierte Vorgabe erfüllt, wenn das Stechwerkzeug (11) und die einziehbare Leitung (16) zwischen dem Führerstand und einer der Ebenen Pa oder Pb angeordnet sind. Diese Ebenen verlaufen parallel zur Ebene P1 und durch die Mitte des ersten Anodengreifers (13) bzw. der Becherschaufel (12) (Abs. 24).

27(2) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass Merkmal 5.3 den Bereich für die Anordnung des Stechwerkzeugs (11) und der einziehbaren Leitung (16) auch nach den beiden anderen Richtungen hin begrenzt, in der Darstellung nach Figur 2 also zu den beiden Seiten hin.

28Der in Merkmal 5.3 verwendete Ausdruck "Reihe" (la rangée) könnte bei isolierter Betrachtung allerdings darauf hindeuten, dass es lediglich um eine durch die Becherschaufel (12) und den ersten Anodengreifer (13) definierte Linie geht, die beliebig lang sein kann. Der Umstand, dass die beiden anderen Werkzeuge zwischen dem Führerstand und dieser Reihe angeordnet sein müssen, und der Umstand, dass Merkmal 5.3 in diesem Zusammenhang nicht den in den Merkmalen 5, 5.1 und 5.2 verwendeten Ausdruck "Ebene" (un plan) verwendet, deuten jedoch darauf hin, dass mit "Reihe" eine Linie gemeint ist, die auch in ihrer Länge begrenzt ist, und zwar ebenfalls durch die Becherschaufel (12) und den ersten Anodengreifer (13).

29Dieses Verständnis entspricht der Erläuterung in der Beschreibung des Streitpatents.

30Nach einer im Wesentlichen wortgleichen Wiederholung des Merkmals 5.3 (Abs. 24 3. Spiegelstrich Satz 2) stellt die Beschreibung als Beispiel dar, wie der Raum für das Stechwerkzeug und die einziehbare Leitung mit einer seitlichen Orientierung zueinander aufgeteilt werden kann (Abs. 24 3. Spiegelstrich Satz 3). Diese Aufteilung des Raums für die beiden Werkzeuge offenbart zugleich, welcher Raum dafür insbesondere auch in seitlicher Hinsicht insgesamt zur Verfügung steht, der damit nicht über die Grenzen hinausgeht, welche sich aus der Beziehung des Führerstands zur Becherschaufel einerseits und zum ersten Anodengreifer andererseits ergeben. Die beispielhafte Bedeutung dieser konkreten Anordnung erschöpft sich in der Zuordnung der jeweiligen Werkzeuge in einer der beiden Subräume.

31Weiterhin steht dies in Einklang mit der in der Beschreibung genannten Funktion, eine kompakte Anordnung und reduzierte Anfahrwege zu ermöglichen. Wenn nur einige Werkzeuge in einer Reihe und andere Werkzeuge zwischen dieser Reihe und dem Führerstand angeordnet sind, kann die Breite des Servicemoduls gering gehalten werden. Dieser Zielsetzung widerspräche es, wenn die in Merkmal 5.3 genannten Merkmale nur in einer Richtung zwischen den anderen Bauteilen angeordnet wären, in der anderen Richtung aber über die von den anderen Werkzeugen gebildete Reihe hinausragen dürften.

32(3) Entgegen der Auffassung der Berufung ergibt sich aus Patentanspruch 15 keine abweichende Beurteilung.

33(a) Nach Patentanspruch 15 befinden sich das Stechwerkzeug (11) und die einziehbare Leitung (16) zwischen der Ebene P12, die parallel zur Achse A ist und durch die Mitte des Führerstands (19) und die Mitte der Becherschaufel (12) verläuft, und der Ebene P13 oder P14, die parallel zur Achse A ist und durch die Mitte des Führerstands (19) und die Mitte des Anodengreifers (13 oder 14) verläuft, der am weitesten von der Mitte der Schaufel entfernt ist.

34Bei der in Figur 2 dargestellten Anordnung müssen das Stechwerkzeug (11) und die einziehbare Leitung (16) danach in dem Bereich angeordnet sein, der seitlich durch die Achsen P12 und P14 begrenzt wird und nach oben durch die Ebene Pa oder Pb.

35(b) Hieraus ist entgegen der Auffassung der Berufung nicht zu folgern, dass Patentanspruch 1 eine seitliche Begrenzung nicht zwingend vorsieht. Die Festlegung auf die Achsen P12 und P14 führt vielmehr dazu, dass die seitliche Begrenzung zumindest in einigen Bereichen näher zum Zentrum hin verschoben wird.

36Dies kann anhand der nachfolgend wiedergegebenen, von der Beklagten um Kolorierungen ergänzten Fassung von Figur 2 verdeutlicht werden.

37Wie die Berufung im Ansatz zu Recht geltend macht, entspricht der durch Patentanspruch 1 vorgegebene Bereich der grün eingefärbten Fläche; der durch Patentanspruch 15 vorgegebene Bereich wird seitlich durch die beiden blauen Linien begrenzt.

38Entgegen der Auffassung der Berufung führt Patentanspruch 15 auch bei dieser Anordnung nicht zu einer Erweiterung des zulässigen Bereichs, sondern zu einer zusätzlichen Beschränkung. Anders als nach Patentanspruch 1 sind die grün eingefärbten Teilflächen rechts der blauen Linie P12 und links der blauen Linie P14 nach Patentanspruch 15 ausgeschlossen.

39Dass die blaue Linie P14 in ihrem oberen Teil eine Teilfläche umschließt, die nach Patentanspruch 1 nicht in Betracht kommt, führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Die in Patentanspruch 15 enthaltene Bezugnahme auf Anspruch 1 führt auch insoweit nicht zu widersprüchlichen Vorgaben. Sie hat vielmehr zur Folge, dass nur diejenigen Bereiche in Betracht kommen, die sowohl auf der grün eingefärbten Fläche liegen als auch durch die beiden blauen Linien begrenzt werden. Die weiße Teilfläche rechts von der Linie P14 ist mithin auch nach Patentanspruch 15 ausgeschlossen.

40e) Entgegen der von der Beklagten in der Widerspruchsbegründung vertretenen Auffassung enthält Patentanspruch 1 keine Vorgaben zu der Frage, ob die Kabine mit dem Führerstand zwischen den in Figur 6 dargestellten Arbeitsschritten verschwenkt werden darf.

41Die Beschreibung führt allerdings aus, die Position der Werkzeuge gemäß der Erfindung ermögliche es auch, die in Figur 6 dargestellten Arbeitsgänge auszuführen, ohne dass eine Drehung des Turms (9) um die Achse A erforderlich sei; die Positionierung der Werkzeuge in Bezug auf die Position einer Anode (21) oder ihrer Welle (21) während dieser Arbeitsvorgänge erfordere nur geringfügige Bewegungen des Turms (9) durch horizontale Verschiebung oder leichte Schwenkung des Turms (9) in Bezug auf die Achse A (Abs. 25).

42Diese Ausführungen haben in Patentanspruch 1 jedoch keinen Niederschlag gefunden. Überdies schließen sie eine Drehung des Turms zwischen den einzelnen Arbeitsschritten nicht kategorisch aus.

43Darüber hinaus verhalten sich weder diese Ausführungen noch der sonstige Inhalt der Patentschrift zu der Frage, ob die Kabine (18) mit dem Führerstand (19) so auf dem Turm gelagert sein darf, dass sie relativ zu den Werkzeugen drehbar ist.

44II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

45Der Gegenstand des Streitpatents sei durch die von der Klägerin behauptete öffentliche Benutzung von Kränen durch die D.                 nicht vorweggenommen. Bei diesen Kränen seien die Merkmale 1 bis 5.2 verwirklicht, nicht aber das Merkmal 5.3. Das Stechwerkzeug und die einziehbare Leitung befänden sich nicht in dem Korridor zwischen dem Führerstand und der aus der Becherschaufel und dem Anodengreifer gebildeten Reihe.

46Die behauptete Vorbenutzung von Krananlagen durch die N.                   habe den Gegenstand des Streitpatents ebenfalls nicht offenbart. Diese Krananlagen wiesen die Merkmale 1 bis 4.3.2 auf. Die Merkmale 5 bis 5.3 seien nur verwirklicht, wenn die um 360° verdrehbare Kabine für den Führerstand in der in Anlage NK12c dargestellten Position sei. Diese Anordnung sei aber nur dann neuheitsschädlich vorweggenommen, wenn außenstehende Dritte sie aufgrund der öffentlichen Zugänglichkeit des Krans hätten wahrnehmen und erkennen können. Hierzu habe es entweder einer näheren Betrachtung der möglichen geometrischen Anordnungen von Führerstand und Werkzeugen oder einer gerade auf diese spezifische Anordnung abzielenden Vorführung des Krans für außenstehende Dritte bedurft. Weder den Angaben der vernommenen Zeugen noch den vorgelegten Videoaufnahmen sei zu entnehmen, dass eine solche Betrachtung oder Vorführung stattgefunden habe.

47III. Dies hält den Angriffen der Berufung im Ergebnis stand.

481. Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der Gegenstand des Streitpatents durch die geltend gemachte Vorbenutzung durch D.  nicht vollständig vorweggenommen ist.

49a) Nach dem Vorbringen der Klägerin entspricht der Aufbau der für D.  hergestellten Kräne der Darstellung in der nachfolgend wiedergegebenen Zeichnung (NK11), die die Klägerin mit farblichen Hervorhebungen versehen hat:

50b) Damit sind zwar zumindest die Merkmale 1 bis 4.3.2 verwirklicht, nicht aber das Merkmal 5.3.

51Wie oben dargelegt wurde, begrenzt Merkmal 5.3 den Bereich, in dem das Stechwerkzeug und die einziehbare Leitung angeordnet sind, abweichend von der Auffassung der Berufung nicht nur entlang einer von der Becherschaufel zum Anodengreifer verlaufenden Linie, sondern auch seitlich.

52Bei dem D.  -Kran sind das Stechwerkzeug und die einziehbare Leitung außerhalb dieser seitlichen Begrenzung angeordnet.

532. Im Ergebnis zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der für S.   hergestellte Krantyp in einer bestimmten Konstellation zwar sämtliche Merkmale von Patentanspruch 1 vorwegnimmt, diese Konstellation am Prioritätstag aber nicht öffentlich zugänglich war.

54a) Der grundlegende Aufbau des S.   -Krans ist in der nachfolgend wiedergegebenen Konstruktionszeichnung (NK12a) dargestellt, die die Klägerin mit farblichen Hervorhebungen versehen hat.

55Die Werkzeuge und die Kabine mit dem Führerstand sind an demselben Turm angeordnet. Die Kabine kann um die Werkzeuge herum um 360° verschwenkt werden, also jede beliebige Stellung auf der kreisförmigen Führungsbahn einnehmen.

56Die oben dargestellte Position ermöglicht nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Klägerin die Bedienung des Anodengreifers.

57Die in der nachfolgend wiedergegebenen Zeichnung (NK12c) dargestellte Position ermöglicht nach dem ebenfalls unwidersprochen gebliebenen Vorbringen die Bedienung des Stechwerkzeugs.

58b) Wie die Berufung im Ansatz zu Recht geltend macht, reicht es für eine vollständige Vorwegnahme des geschützten Gegenstands aus, wenn die Merkmale von Patentanspruch 1 zumindest in einer der Positionen verwirklicht sind, die die Kabine des S.   -Krans einnehmen kann.

59Nach der Rechtsprechung des Senats ist ein mit einem Vorrichtungsanspruch definierter Gegenstand grundsätzlich unabhängig davon geschützt, wie er hergestellt worden ist und zu welchem Zweck er verwendet wird.

60Im Anspruch enthaltene Zweck-, Wirkungs- oder Funktionsangaben bestimmen und begrenzen den geschützten Gegenstand allerdings insoweit, als das Vorrichtungselement, auf das sie sich beziehen, räumlich-körperlich so ausgebildet sein muss, dass es die betreffende Funktion erfüllen kann. Hierzu reicht es nicht aus, wenn die erforderliche Eignung erst durch zusätzliche Maßnahmen wie etwa eine Änderung der Steuerung erreicht werden kann (, GRUR 2006, 923 Rn. 15 - Luftabscheider für Milchsammelanlage).

61Weist eine Vorrichtung die erforderliche Eignung auf, ist jedoch unerheblich, ob die patentgemäßen Eigenschaften und Wirkungen regelmäßig, nur in Ausnahmefällen oder nur zufällig erreicht werden und ob es der Benutzer darauf absieht, diese Wirkungen zu erzielen (, GRUR 2006, 399 Rn. 21 - Rangierkatze).

62Im Streitfall ist danach nicht erheblich, ob die in NK12c dargestellte Position vom Hersteller oder Benutzer des Krans für einen bestimmten Arbeitsgang vorgesehen war oder in sonstiger Weise zur Benutzung empfohlen wurde. Ausreichend ist vielmehr, wenn der Kran diese Position ohne Änderung seiner Steuerung oder sonstige Umbaumaßnahmen einnehmen kann.

63Die zuletzt genannte Voraussetzung liegt vor.

64c) Zu Recht ist das Patentgericht jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass die Eignung des S.   -Krans, eine Position einzunehmen, bei der die Merkmalsgruppe 5 verwirklicht ist, der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag nicht zugänglich gemacht worden ist.

65aa) Für die öffentliche Zugänglichkeit ist allerdings nicht erforderlich, dass ein relevanter Personenkreis eine Position des Krans, bei der die Merkmalsgruppe 5 verwirklicht ist, tatsächlich gesehen hat.

66Eine Vorbenutzung offenbart den Gegenstand eines Patents schon dann, wenn die nicht nur theoretische und nicht nur entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen (, GRUR 2015, 463 Rn. 39 - Presszange; Urteil vom - X ZR 75/18, GRUR 2020, 833 Rn. 28 - Konditionierverfahren). Hat vor dem Prioritätstag eine solche Möglichkeit der Kenntnis bestanden, ist unerheblich, ob eine konkrete Person von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht hat ( Rn. 25; Beschluss vom - X ZB 13/92, GRUR 1996, 747, juris Rn. 89 - Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem; Urteil vom - I ZR 9/61, GRUR 1962, 518, 521 - Blitzlichtgerät).

67bb) Nach diesen Grundsätzen reicht es für eine öffentliche Zugänglichkeit des vom Streitpatent geschützten Gegenstands jedoch nicht aus, dass fachkundige Dritte, die keiner Geheimhaltungspflicht unterlagen, den S.   -Kran oder die von der Klägerin vorgelegten Videoaufnahmen (NK12) für einen begrenzten Zeitraum in Augenschein nehmen konnten. Vielmehr müssen die Möglichkeiten eines öffentlichen Zugangs für diesen Kran auch erlaubt haben, Informationen so wahrzunehmen und zu memorieren, dass eine darauf beruhende Nachbildung die Merkmalsgruppe 5 objektiv erfüllen würde.

68cc) Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Patentgericht im Streitfall im Ergebnis zu Recht verneint.

69(1) Allerdings kann die öffentliche Zugänglichkeit aus den oben genannten Gründen nicht schon deshalb verneint werden, weil weder der Zeuge W.    bei der Besichtigung eines S.   -Krans in W.    noch der Zeugen B.   beim Betrachten des Videos (NK12) darauf aufmerksam gemacht worden sind, welche Position die Werkzeuge in der in NK12c gezeigten Position relativ zur Kabine einnehmen.

70Öffentlich zugänglich geworden wäre eine Vorrichtung mit den Merkmalen 5 bis 5.3 schon dann, wenn aufgrund der erfolgten Besichtigungen des Krans und Vorführungen des Videos die nicht fernliegende Möglichkeit bestand, aus den zugänglich gemachten Informationen die Position der Werkzeuge und den Radius der Führungsbahn für die Kabine so präzise zu erkennen und verlässlich aufzunehmen, dass ein Nachbau objektiv geeignet gewesen wäre, auch die Merkmalsgruppe 5 zu verwirklichen.

71(2) Weder den vom Patentgericht getroffenen Feststellungen noch den weiteren Angaben der vernommenen Zeugen ist jedoch zu entnehmen, dass den Zeugen oder sonstigen nicht zur Geheimhaltung verpflichteten Personen Informationen in dieser Weise zugänglich gemacht worden sind.

72(a) Entgegen der Auffassung der Berufung reicht für die öffentliche Zugänglichkeit nicht aus, dass die Verschwenkbarkeit der Kabine um 360° erkennbar war und dass der Zeuge W.    nach eigener Einschätzung im Anschluss an die Besichtigung in der Lage gewesen wäre, die Anordnung der Werkzeuge in einer Zeichnung darzustellen.

73Der Zeuge W.    hat die ungefähre Position, die die Werkzeuge üblicherweise einnehmen, nur anhand der Position von Uhrzeigern auf einem Zifferblatt angegeben. Dass er im Anschluss an die Besichtigung in der Lage gewesen wäre, eine Position so genau festzuhalten, dass damit die geometrischen Vorgaben der Merkmalsgruppe 5 verwirklicht würden, ist seinen Angaben weder explizit zu entnehmen noch rechtfertigen sie in tatsächlicher Hinsicht eine dahingehende implizite Schlussfolgerung.

74(b) Den Aussagen ist auch nicht zu entnehmen, dass den Zeugen oder sonstigen nicht zur Geheimhaltung verpflichteten Personen die Möglichkeit gegeben wurde, sich weitergehende Kenntnisse durch Messungen oder auf sonstige Weise zu verschaffen.

75Nach den Feststellungen des Patentgerichts ist dem Zeugen W.    keine Konstruktionszeichnung gezeigt worden. Dem Zeugen B.   wurde lediglich das Video vorgeführt.

76(c) Vor diesem Hintergrund ist der Gegenstand des Streitpatents der Öffentlichkeit auch nicht dadurch zugänglich gemacht worden, dass die Kabine in dem Video mehrmals die in NK12c dargestellte Position einnimmt.

77Die Darstellung im Video vermittelt zwar einen gewissen Eindruck davon, an welchen Stellen die einzelnen Werkzeuge platziert sind. Sie ermöglicht aber schon deshalb keine hinreichend sicheren Rückschlüsse auf die konkrete Anordnung der Werkzeuge auf dem Turm in der in NK12c gezeigten Position, weil der Kran hauptsächlich von der Seite oder von schräg unten und meist in Bewegung gezeigt wird.

78Ob eine systematische Auswertung von Standbildern zu weitergehenden Erkenntnissen geführt hätte, ist schon deshalb unerheblich, weil sich aus den Zeugenaussagen nicht ergibt, dass die Personen, denen das Video vorgeführt wurde, auf solche Bilder zurückgreifen konnten.

79Der Zeuge F.   hat zwar angegeben, dass er das Video bei der Vorführung für den Zeugen B.   angehalten hat. Er konnte sich aber nur daran erinnern, dass damit der Deckelabhub verdeutlicht werden sollte. Ob auch die Anordnung der Werkzeuge besprochen wurde, konnte er hingegen nicht mit Sicherheit sagen. Vor diesem Hintergrund kann nicht festgestellt werden, dass der Zeuge B.   beim Anhalten des Videos hinreichende Informationen erhalten hat, um die genauere Position der Werkzeuge beurteilen zu können.

80Demnach vermochte die Beweisaufnahme auch insoweit keine Feststellung zur Wahrnehmung einer Lehre durch die Zeugen zu begründen, deren Nacharbeitung auch mit Bezug zu einer beliebigen Position, zu der die Kabine hätte verfahren werden können, die geometrischen Vorgaben gemäß der Merkmalsgruppe 5 verwirklicht hätte.

81IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:261124UXZR114.22.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-83213