Schwerbehindertenrecht - unentgeltliche Beförderung - Anspruch auf kostenlose Wertmarke - Bezug von Hilfe zur Pflege
Gesetze: § 228 Abs 4 Nr 2 SGB 9 2018, § 228 Abs 1 SGB 9 2018, § 228 Abs 2 S 1 SGB 9 2018, § 65 SGB 12
Instanzenzug: SG Braunschweig Az: S 8 SB 392/21 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 10 SB 107 /22 Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin begehrt die Erstattung von 91 Euro für eine 2021 an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen mit erheblicher Gehbehinderung im öffentlichen Nahverkehr.
2Der 1940 geborenen Klägerin ist ein Grad der Behinderung von 90 und das Merkzeichen G zuerkannt. Sie lebt in einem Pflegeheim und erhält vom zuständigen Sozialhilfeträger Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII. Laufende Leistungen zum Lebensunterhalt bezieht sie wegen anrechenbaren Einkommens aus Altersrente und Ehegattenunterhalt hingegen nicht.
3Im Juli 2021 beantragte die Klägerin die Ausstellung einer kostenlosen Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr. Den Antrag lehnte der Beklagte ab. Die Klägerin zähle nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Anschließend gewährte der zuständige Sozialhilfeträger der Klägerin ein Darlehen für die Anschaffung der Wertmarke unter Einbehaltung gleichbleibender monatlicher Raten.
4Das SG hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin die Kosten für die Erteilung der Wertmarke zu erstatten (Urteil vom ). Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung. Sie gehöre nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe sie keine laufenden Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII, sondern ausschließlich Hilfe zur Pflege bezogen. Die Befreiungsregelung erfasse jedoch den Bezug dieser Sozialhilfeleistung nicht. Mit ihr habe der Gesetzgeber nur Personen begünstigen wollen, die laufende Sozialhilfeleistungen zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhalts erhielten. Darin liege weder ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Urteil vom ).
5Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX. Sie gehöre zum befreiungsberechtigten Personenkreis. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete, auch Personen zu erfassen, die Beziehern von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII im Wesentlichen gleichstünden. Als Bezieherin von Hilfe zur Pflege sei sie dem Sozialhilfesystem zuzuordnen. Durch die Tilgung des Darlehens stünden ihr weniger bereite Mittel zur Verfügung als Beziehern von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt, die über keine eigenen anrechenbaren Einkünfte verfügten.
6Die Klägerin beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom zurückzuweisen.
7Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8Er verteidigt das angefochtene LSG-Urteil.
Gründe
9Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
10Das der kombinierten Anfechtungs- und (unechten) Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG) der Klägerin stattgebende erstinstanzliche Urteil war - durch Aufhebung des LSG-Urteils und Zurückweisung der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG - wiederherzustellen (zur statthaften Klageart vgl - BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2, RdNr 19 f). Entgegen der Ansicht des LSG hat die Klägerin gegen den Beklagten Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils iHv 91 Euro für die an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen mit erheblicher Gehbehinderung im öffentlichen Nahverkehr für das Jahr 2021.
11A. Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsanspruch ist der auch im Sozialrecht anwendbare allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch (vgl - BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2, RdNr 28). Eine vorrangige spezialgesetzliche Regelung über die Rückerstattung eines ohne Rechtsgrund geleisteten Betrags nach § 228 Abs 2 Satz 1 SGB IX in der ab geltenden Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) vom (BGBl I 3234) existiert nicht.
121. Die Erstattungsregelung in § 228 Abs 3 SGB IX (bis zum vgl § 145 Abs 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX) erfasst nur Fälle, in denen Berechtigte die gegen Zahlung einer Selbstbeteiligung erhaltene Wertmarke vor Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer zurückgeben oder versterben. Dies ist hier nicht der Fall.
132. Auch der besondere Erstattungsanspruch nach § 18 Abs 6 Satz 1 SGB IX (bis zum vgl § 15 Abs 1 Satz 4 SGB IX) greift nicht. Danach besteht eine Erstattungspflicht des Rehabilitationsträgers für die Kosten einer vom Leistungsberechtigten selbstbeschafften notwendigen Leistung, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Es muss sich dabei allerdings um eine Rehabilitationsleistung nach dem SGB IX (§§ 4, 5) handeln. Hieran fehlt es aber bei einer gemäß § 228 Abs 4 SGB IX ohne Eigenanteil von der Behörde herauszugebenden Wertmarke (vgl - BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2, RdNr 30 zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorgängerregelung des § 145 Abs 1 Satz 5 SGB IX in der Fassung des Gesetzes vom , BGBl I 2959).
14B. Dem allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch liegt der anerkannte Rechtsgrundsatz zugrunde, dass eine rechtsgrundlos empfangene Leistung zurückzugeben ist (vgl - BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2, RdNr 31 mwN). Danach hat die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung des bei der Ausgabe der Wertmarke für das Jahr 2021 gezahlten Betrags iHv 91 Euro, weil sie diesen Eigenanteil nach § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX nicht zu entrichten hatte und der Betrag nach § 228 Abs 2 Satz 1 SGB IX rechtsgrundlos von dem Beklagten entgegengenommen worden ist. Denn die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch der Klägerin auf Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke für das Jahr 2021 lagen vor.
151. Die Klägerin gehörte zum Kreis der berechtigten Personen iS des § 228 Abs 1 Satz 1 SGB IX. Ihr war als Schwerbehinderte das Merkzeichen G zuerkannt. Entgegen der Ansicht des LSG steht ihrem Anspruch nicht entgegen, dass die Klägerin im hier streitgegenständlichen Zeitraum keine "für den Lebensunterhalt laufende(n) Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" erhielt, wie es § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX voraussetzt. Denn über den Wortlaut hinaus genügt als Anspruchsvoraussetzung auch (nur) der Erhalt von Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII - jedenfalls soweit nach § 65 SGB XII Anspruch auf Pflege in stationären Einrichtungen besteht. Dies folgt aus einer analogen Anwendung der Anspruchsnorm auf Heimbewohner, die durch den Bezug von Hilfe zur Pflege dem Grundsicherungssystem der Sozialhilfe zugehörig sind.
162. Ein Analogieschluss setzt zunächst voraus, dass die geregelte Norm analogiefähig ist und das Gesetz nach der erkennbaren Regelungsabsicht des Gesetzgebers eine planwidrige Regelungslücke enthält (stRspr; zB - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 29; - SozR 4-7837 § 2b Nr 6 RdNr 21).
17Unterschieden wird hierbei zwischen einer anfänglichen (primären) und einer nachträglichen (sekundären) Regelungslücke. Erstere liegt vor, wenn sie schon bei Inkrafttreten des Gesetzes vorhanden war. Letztere kann entstehen, wenn sich nach dem Erlass eines Gesetzes dessen tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten zB durch einen Wandel der Rechtstatsachen oder des Normumfeldes geändert haben oder gar eine Änderung der der Rechtsordnung immanenten Wertungen eingetreten ist, sodass die Regelung des Gesetzes nachträglich unvollständig geworden ist (vgl Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S 135; Wank/Maties, Die Auslegung von Gesetzen, 7. Aufl 2023, S 85; Möllers, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl 2023, § 6 RdNr 150; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 379).
18Eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte (anfängliche oder nachträgliche) Regelungslücke muss aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht oder nicht mehr alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung aber erfasst sein sollten. Hierfür bedarf es des sicheren Nachweises, dass sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im Normtext nicht oder nicht mehr niedergeschlagen hat. Diese ist anhand der Gesetzgebungsmaterialien zu bestimmen (vgl - SozR 4-4300 § 131a Nr 4 <vorgesehen> - juris RdNr 26; - SozR 4-4300 § 131a Nr 1 RdNr 24, jeweils mwN).
19Schließlich erfordert ein Analogieschluss, dass der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (stRspr; zB - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 29; - SozR 4-7837 § 2b Nr 6 RdNr 21).
203. Diese Voraussetzungen für die Annahme einer Analogie sind erfüllt. Es liegt eine planwidrige Regelungslücke vor. Aus der Gesetzeshistorie des Anspruchs von schwerbehinderten Menschen mit erheblicher Gehbehinderung auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr und den ihr zugrunde liegenden Gesetzesmaterialien erschließt sich, dass der Gesetzgeber seit Oktober 1985 ausdrücklich auch den Personenkreis der nur Hilfe zur Pflege beziehenden Heimbewohner von der Befreiungsregelung erfasst sehen wollte. Durch den Systemwechsel vom BSHG zum SGB XII im Jahr 2005 ist eine planwidrige Regelungslücke entstanden, indem diese Personengruppe aus dem Befreiungstatbestand herausgefallen ist (dazu unter 4.). Da nicht ersichtlich ist, dass diese Rechtsfolge dem Regelungsprogramm des Gesetzgebers entspricht, ist diese nachträgliche Gesetzeslücke durch eine analoge Anwendung des § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX auf diese Heimbewohner zu schließen (dazu unter 5.).
214. Aus der Gesetzesentwicklung des Anspruchs schwerbehinderter Menschen mit erheblicher Gehbehinderung auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr ergibt sich, dass durch den Systemwechsel vom BSHG zum SGB XII im Jahr 2005 eine planwidrige Regelungslücke entstanden ist, indem die lediglich Hilfe zur Pflege beziehenden Heimbewohner aus dem Befreiungstatbestand herausgefallen sind.
22Im Einzelnen stellt sich die hier maßgebliche Gesetzeshistorie wie folgt dar:
23a) Mit dem Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom (BGBl I 989) wurde ab Oktober 1979 der Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr für schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt waren, in das SchwbG aufgenommen. Die neu eingeführte Regelung in § 57 Abs 1 SchwbG entsprach den Vergünstigungen, wie sie zuvor bereits vor allem im Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom (BGBl I 978) normiert waren (vgl BT-Drucks 8/2453 S 1 und 8). Der Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr wurde nunmehr umfassend geregelt. Die Erbringung eines Eigenanteils war nicht vorgesehen. Vielmehr sollten alle schwerbehinderten Menschen mit erheblicher Gehbehinderung "ohne Rücksicht" auf "ihre wirtschaftlichen Verhältnisse" im Nahverkehr unentgeltlich befördert werden (BT-Drucks 8/2453 S 8 f).
24Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom (BGBl I 1532) wurde wegen "finanziell untragbare(r) Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte" ( 9a RVs 6/87 - SozR 3870 § 57 Nr 1 - juris RdNr 13 unter Hinweis auf BT-Drucks 10/335 S 41; s dort auch S 63) erstmals ab April 1984 die Eigenbeteiligung der bislang freifahrtberechtigten schwerbehinderten Personen eingeführt (§ 57 Abs 1 Satz 3 SchwbG). Zugleich wurde in § 57 Abs 1 Satz 4 Nr 2 SchwbG die kostenfreie Ausgabe der gültigen Wertmarke an Schwerbehinderte mit erheblicher Gehbehinderung geregelt, die ua "laufende Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz" erhielten. Mit dieser Befreiungsregelung wollte der Gesetzgeber "die Belange typischer Gruppen einkommensschwacher Freifahrtberechtigter" berücksichtigen (BT-Drucks 10/335 S 89). Die "Hilfe zum Lebensunterhalt" nach dem BSHG war jedoch im "Abschnitt 2" geregelt und umfasste nur die Regelungen in den §§ 11 bis 26 BSHG, nicht aber die "Hilfe in besonderen Lebenslagen" nach "Abschnitt 3", zu der nach § 27 Abs 1 Nr 5 BSHG die "Hilfe zur Pflege" gehörte. Dies hatte zur Folge, dass ausgehend von dieser Systematik des BSHG einige Bundesländer bei der Durchführung des § 57 Abs 1 Satz 4 Nr 2 SchwbG unter "Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt" nicht Hilfen in besonderen Lebenslagen für bedürftige Heimbewohner verstanden (vgl - SozR 4-3250 § 145 Nr 3 - juris RdNr 26; Cramer, VersorgB 1985, 87, 89). Als Ergebnis hatten in diesen Bundesländern ausschließlich Hilfe zur Pflege beziehende schwerbehinderte Heimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung keinen Anspruch auf Ausgabe einer kostenfreien Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr mehr, obwohl diese Hilfe in einem Heim gemäß § 27 Abs 3 BSHG auch Leistungen zum Lebensunterhalt umfasste.
25Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz zur Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr wurde auf diese Problematik hingewiesen. Da eine Änderung der Norm im Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP vom (BT-Drucks 10/3218 S 3) noch nicht enthalten war, mahnte der Bundestagsabgeordnete von der Wiesche (SPD) in der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfs im Bundestag am die Einbeziehung von sozialhilfebedürftigen Heimbewohnern in die kostenlose Freifahrtberechtigung an. Es könne "nicht widerspruchslos" hingenommen werden, dass "in diesem Entwurf die sozialhilfebedürftigen schwerbehinderten Heimbewohner wieder einmal vergessen werden" (BT-Plenarprotokoll 10/136 S 10129).
26Im nahezu zeitgleich laufenden Gesetzgebungsverfahren zum Ersten Gesetz zur Änderung des SchwbG hatte allerdings der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom (BT-Drucks 10/3138) bereits einen Formulierungsvorschlag zur Neufassung des § 57 Abs 1 Satz 4 Nr 2 SchwbG unterbreitet. Danach sollten "laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach Abschnitt 2 des Bundessozialhilfegesetzes" und auch den "Lebensunterhalt umfassende Hilfen in besonderen Lebenslagen nach § 27 Abs. 3 des Bundessozialhilfegesetzes" den Befreiungsanspruch auslösen. Der Bundesrat begründete dies ausdrücklich mit der Gleichbehandlung von Hilfeempfängern, die in Altenheimen Hilfen zum Lebensunterhalt bezogen, mit solchen Hilfeempfängern, die in einem Heim lediglich Hilfe in besonderen Lebenslagen in Gestalt von Hilfe zur Pflege erhielten. Wörtlich heißt es dort (BT-Drucks 10/3138 S 35): "Hilfeempfänger, die in Altenheimen und Altenwohnheimen Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, und Hilfeempfänger, die in Einrichtungen Hilfe in besonderen Lebenslagen - in diesen Fällen Hilfe zur Pflege - erhalten, wobei die in der Einrichtung gewährte Hilfe den Lebensunterhalt umfaßt, dürfen hinsichtlich des Erwerbs einer unentgeltlichen Wertmarke nicht unterschiedlich behandelt werden."
27Die Bundesregierung stimmte in ihrer Gegenäußerung zwar dem Vorschlag des Bundesrates "grundsätzlich" zu, sie regte aber eine Formulierung an, wie sie dann schließlich auch Eingang in § 57 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG in der Fassung des Gesetzes zur Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom (BGBl I 1516) fand. Diese Formulierung - so führte die Bundesregierung in ihrer Begründung aus (BT-Drucks 10/3138 S 40) - trage dem "Anliegen des Bundesrates voll Rechnung". Sie bringe "das Anliegen des Gesetzgebers, alle Personen zu erfassen, die zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhaltes Leistung der öffentlichen Fürsorge erhalten, besser zum Ausdruck" (vgl hierzu auch - SozR 4-3250 § 145 Nr 3 RdNr 26).
28Auf Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) vom wurde der Gesetzeswortlaut schließlich in der von der Bundesregierung in der vorgenannten Gegenäußerung vorgeschlagenen Weise dahingehend gefasst, dass nunmehr auch schwerbehinderte Personen mit erheblicher Gehbehinderung von der Eigenbeteiligung zu befreien waren, wenn sie "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz" erhielten (BT-Drucks 10/3495 S 5). Das ausdrücklich erklärte Ziel dieser Regelung war es, "unentgeltliche Wertmarken" nunmehr "auch an Heimbewohner" ausgeben zu können, "die zur Deckung ihres Lebensunterhalts Leistungen der Sozialhilfe" erhielten (BT-Drucks 10/3495 S 12; vgl auch den Redebeitrag des Bundestagsabgeordneten Louven <CDU> in der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs am , BT-Plenarprotokoll 10/146 S 10862). Durch diese neue Gesetzesfassung waren jetzt entsprechend dem in den zitierten Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen auch Heimbewohner einbezogen, die die im Abschnitt 3 des BSHG als "Hilfe in besonderen Lebenslagen" geregelte Hilfe zur Pflege (§ 27 Abs 1 Nr 5 BSHG) erhielten, weil diese nach § 27 Abs 3 BSHG ua auch den im Heim gewährten Lebensunterhalt umfasste (vgl Cramer, NZA 1985, 585, 587; ders, VersorgB 1985, 87, 89). Zu dieser Auffassung gelangte auch der Senat in seinem Urteil vom (B 9 SB 6/10 R - SozR 4-3250 § 145 Nr 3 RdNr 26). So wies er unter Berufung auf die beschriebene Entstehungsgeschichte und die zum Oktober 1985 erfolgte Neufassung des § 57 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG darauf hin, dass der Gesetzgeber alle "bedürftige(n) Heimbewohner eindeutig von der Eigenbeteiligung (…) befreien" wollte.
29Durch die Bekanntmachung der Neufassung des SchwbG vom (BGBl I 1421) wurde § 57 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG mit Wirkung vom unverändert als § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG fortgeführt und galt in dieser Fassung bis zum . Nach Überführung dieser Befreiungsregelung zum in das SGB IX mit Gesetz vom (BGBl I 1046) fand sich die inhaltlich unveränderte Regelung über die Befreiung nunmehr in § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX wieder (vgl BT-Drucks 14/5074 S 115). Sie galt in dieser Fassung bis zum .
30b) Mit dem Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom (BGBl I 3022) wurde § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX mit Wirkung zum wegen der Aufhebung des BSHG und der Schaffung des SGB XII geändert und bestimmte nunmehr ua die Befreiung von der Eigenbeteiligung bei Erhalt von "für den Lebensunterhalt laufende(n) Leistungen nach dem Zwölften Buch" des SGB (statt vorher BSHG). Der SGB IX-Gesetzgeber wertete diese Änderung lediglich als "redaktionelle Anpassung an die Regelungen des SGB XII" (BT-Drucks 15/1514 S 73). Allerdings hatte der SGB XII-Gesetzgeber mit Einführung dieses Sozialgesetzbuchs die bisherige Ausgestaltung der Hilfe zur Pflege in § 27 Abs 3 BSHG als Komplexleistung aus Heimbetreuung und Lebensunterhaltssicherung aufgegeben. "(D)ie Maßnahmeleistung und die Deckung des Lebensunterhalts" sollten "nicht mehr als eine einheitliche Leistung gelten" (BT-Drucks 15/1514 S 54). Um der "schwierige(n) Vermischung von Maßnahmekosten und Kosten für den Lebensunterhalt bei Heimunterbringung" (BT-Drucks 15/1514 S 53) entgegenzuwirken, nahm er "zur besseren Klarheit und Verständlichkeit des Gesetzes" (BT-Drucks 15/1514 S 60 zu § 36) eine systematische Trennung vor, indem er nunmehr im SGB XII die Hilfen zum Lebensunterhalt getrennt von den in den Kapiteln 5 bis 9 normierten Leistungen für besondere Lebenslagen regelte (vgl - BSGE 110, 62 = SozR 4-2500 § 240 Nr 16, RdNr 32; Busse in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl 2024, § 27b RdNr 6, Stand ). Seitdem finden sich die Bestimmungen über den "notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen" im Dritten Kapitel des SGB XII (zunächst in § 35, ab in § 27b), die Hilfe zur Pflege hingegen im Siebten Kapitel des SGB XII in den §§ 61 ff, und der in der Einrichtung erbrachte notwendige Lebensunterhalt ist bei der Leistung der Hilfe zur Pflege nur noch als normativer Rechenposten zu berücksichtigen (vgl zu Letzterem Meßling/Coseriu in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl 2024, § 65 RdNr 23 mwN, Stand ). Diese systematische Trennung aufgrund des Systemwechsels vom BSHG zum SGB XII hatte bezogen auf den Befreiungstatbestand in § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX aber zur Folge, dass ab 2005 ausschließlich Hilfe zur Pflege beziehende schwerbehinderte Heimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung aus dessen Anwendungsbereich herausfielen, weil sie nach dem SGB XII keine laufenden Leistungen für den Lebensunterhalt mehr erhielten.
31Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom (BGBl I 2904) änderte der SGB IX-Gesetzgeber § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX mit Wirkung vom abermals und begrenzte den Befreiungstatbestand nunmehr ausdrücklich auf "Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel" des SGB XII. Auch diese Novellierung sah er lediglich als "redaktionelle Änderung" an, "die bei einer früheren Änderung" des SGB XII "versehentlich unterblieben" war (BT-Drucks 16/6541 S 41). Rechtsfolge war, dass schwerbehinderte Heimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung, die ausschließlich Hilfe zur Pflege erhielten, vom Wortlaut des Befreiungstatbestands des § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX schon deshalb nicht mehr erfasst wurden, weil die Hilfe zur Pflege im Siebten Kapitel des SGB XII geregelt ist.
32In der Folgezeit wurden mit dem Gesetz zur Einführung Unterstützter Beschäftigung vom (BGBl I 2959) lediglich die mit dem Gesetz zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom (BGBl I 2904) in § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX "versehentlich" gestrichenen Wörter "für den Lebensunterhalt laufende" wieder eingefügt (vgl BT-Drucks 16/10487 S 6, 11). Schließlich wurde mit dem BTHG vom (BGBl I 3234) die Befreiungsregelung, die zwischenzeitlich in § 145 Abs 1 Satz 10 Nr 2 SGB IX (in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGB IX vom , BGBl I 2480) verschoben wurde, inhaltlich unverändert in § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX überführt (vgl BT-Drucks 18/9522 S 312; s auch: BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2926/14 - juris RdNr 20). Mit der Einführung des SGB XIV durch das Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vom (BGBl I 2652) wurde § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX zum lediglich noch dahingehend geändert, dass es seitdem anstatt "den §§ 27a und 27d des Bundesversorgungsgesetzes" "dem Vierzehnten Buch" heißt.
335. Die durch den Wegfall des Anspruchs auf kostenfreie Beförderung im Nahverkehr für ausschließlich Hilfe zur Pflege beziehende schwerbehinderte Heimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung seit 2005 entstandene Regelungslücke ist durch eine analoge Anwendung des § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX auf diese Personengruppe zu schließen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass diese Rechtsfolge vom Gesetzgeber beabsichtigt war und seinem Regelungsprogramm entspricht. Deshalb haben auch diese Heimbewohner (weiterhin) Anspruch auf Ausgabe einer kostenfreien Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr.
34Aus den Gesetzesmaterialien lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Ablösung des BSHG durch das SGB XII im Jahr 2005 schwerbehinderte Heimbewohner mit erheblicher Gehbehinderung, die nur Leistungen der Hilfe zur Pflege erhalten, von dem Befreiungstatbestand des § 228 Abs 4 Nr 2 SGB IX (und seinen Vorgängernormen in § 145 Abs 1 Satz 10 Nr 2, § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX) ausschließen wollte. Hinweise dafür, dass der SGB IX-Gesetzgeber bei seinen von ihm ausdrücklich nur als "redaktionelle Anpassungen" des Befreiungstatbestands an die Regelungen des SGB XII bezeichneten Änderungen die in den oben wiedergegebenen parlamentarischen Debatten und Drucksachen geäußerten Gründe für die bis Dezember 2004 geltende Gesetzesformulierung "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Bundesozialhilfegesetz" und die damit seit Oktober 1985 verfolgte gesetzgeberische Regelungsabsicht, "eindeutig" auch nur Hilfe zur Pflege beziehende Heimbewohner von der Eigenbeteiligung zu befreien, bedacht oder auch nur im Blick hatte, finden sich nicht. Ebenso wenig ergibt sich aus ihnen ein Anhalt dafür, dass der Gesetzgeber diese Personengruppe mit dem Inkrafttreten des SGB XII aus dem Kreis der kostenbefreiten Freifahrtberechtigten durch die erfolgten rein "redaktionelle(n) Anpassungen" des Befreiungstatbestands an dieses Gesetzbuch ausschließen wollte (vgl auch - SozR 4-3250 § 145 Nr 4 RdNr 41; - SozR 4-3250 § 145 Nr 3 RdNr 28, jeweils zu der Vorgängervorschrift des § 145 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SGB IX in der Fassung des Gesetzes vom <BGBl I 2959>).
35Dies ist auch folgerichtig. Es besteht hierfür nämlich kein sachlicher Grund. Denn es handelt sich sowohl bei diesen Heimbewohnern als auch bei den Heimbewohnern, die - zusätzlich noch - für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Buch des SGB XII beziehen, um Personen, die der notwendigen Unterstützung durch das Existenzsicherungssystem der Sozialhilfe bedürfen (vgl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom - L 10 SB 54/15 - juris RdNr 24 ff). Insbesondere mutet es der Gesetzgeber Beziehern von Hilfe zum Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen nicht zu, die Kosten der Wertmarke für die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr aus dem Barbetrag des § 27b Abs 3 SGB XII zu zahlen, obgleich dieser grundsätzlich auch für Bedarfe der Fortbewegung und Mobilität vorgesehen ist (vgl hierzu - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 25; Wrackmeyer-Schoene in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 8. Aufl 2024, § 27b RdNr 9 mwN). Daher ist nicht davon auszugehen, dass er Bezieher von Hilfe zur Pflege, die den Barbetrag zwar nicht vom Sozialhilfeträger ausgezahlt, aber bei der Einkommensanrechnung freigelassen bekommen, von dieser Privilegierung ausnehmen wollte. Bedürftige Heimbewohner ohne (nennenswertes) Alterseinkommen hätten andernfalls mehr Mittel - letztlich 91 Euro pro Jahr oder 46 Euro pro Halbjahr (vgl zur Höhe der Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung § 228 Abs 2 Satz 2 iVm § 160 Abs 3 SGB IX und Nr 2 der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom , BAnz AT B1) - zur Verfügung als solche Heimbewohner, die sich ein den Lebensunterhalt deckendes Alterseinkommen erarbeitet haben, wenn sich beide die Wertmarke beschaffen, um als Nachteilsausgleich für ihre erhebliche Gehbehinderung die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr nutzen zu können.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:190924UB9SB223R0
Fundstelle(n):
NAAAJ-82961