BFH Urteil v. - VIII R 19/22

Benutzungspflicht des beSt für Steuerberatungsgesellschaften ab dem ; Wiedereinsetzung

Leitsatz

1. NV: Berufsausübungsgesellschaften nach § 3 Satz 1 Nr. 2, § 49 des Steuerberatungsgesetzes, die in das Steuerberaterverzeichnis eingetragen sind, sind gemäß § 52d Satz 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verpflichtet, seit dem das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt) zu nutzen.

2. NV: Der Senat teilt nicht die im Beschluss des X. Senats des (BFH/NV 2024, 845, Rz 17 ff.) —in einem nicht tragenden Teil der Entscheidung— geäußerten Zweifel zu der Frage, ob zum ein auf gesetzlicher Grundlage wirksam errichteter sicherer Übermittlungsweg im Sinne des § 52d Satz 2 i.V.m. § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO bestand.

3. NV: Die Wiedereinsetzung in die wegen Nichtnutzung des beSt versäumte Revisionsbegründungsfrist kommt in Betracht, wenn die zuständige Steuerberaterkammer über die Nutzungspflicht des beSt unzutreffend und unvollständig informiert und der Prozessbevollmächtigte darauf vertraut hat.

Gesetze: FGO § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2; FGO § 52d Satz 2; FGO § 56; StBerG § 86f Nr. 2; StBerG § 157e; StBPPV § 2 Abs. 4; StBPPV § 15; StBPPV § 24; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 80

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, welche für das Jahr 2016 (Streitjahr) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden.

2 Der Kläger ist Diplom-Sozialpädagoge, systemischer Therapeut, Coach und Supervisor sowie Leiter der Erziehungsfachstelle „X“ in A. Die Klägerin ist ausgebildete Hauswirtschaftsleiterin und war im Streitjahr für den hauswirtschaftlichen Bereich der Erziehungsfachstelle „X“ als Angestellte zuständig.

3 Auf der Grundlage der §§ 78a ff. des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) i.V.m. dem Rahmenvertrag des Landes B mit dem Landkreis C und einer Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarung über die Erbringung von Leistungen nach §§ 8a, 27 i.V.m. §§ 34, 35, 35a, 36 und 72a SGB VIII nahm der Kläger im Streitjahr Kinder in der Erziehungsfachstelle „X“ zur Betreuung auf.

4 Im Streitjahr lebten von den leiblichen Kindern der Kläger zwei noch im Haushalt der Kläger. Darüber hinaus wurden vom bis das Kind R (geboren 2008), vom bis das Kind S (geboren 2006) und vom bis das Kind T (geboren 2011; Halbschwester der R) in der Erziehungsfachstelle „X“ betreut. Dem Kläger wurden hierfür nach § 27 i.V.m. §§ 34, 35, 35a SGB VIII Pflegeentgelte in Form von Regeltagessätzen gezahlt.

5 In ihrer beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) eingereichten Einkommensteuererklärung für das Streitjahr erklärten die Kläger aus der Tätigkeit in der Erziehungsfachstelle „X“ Einkünfte aus selbständiger Arbeit für den Kläger in Höhe von 68.324,29 €.

6 Das FA veranlagte die Kläger mit Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom , der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand, im Hinblick auf die Einkünfte aus selbständiger Arbeit erklärungsgemäß.

7 Schon am hatte sich der Kläger mit einem Schreiben an das FA gewandt, welches am beim FA einging. Er vertrat unter Bezugnahme auf das (BFHE 249, 1, BStBl II 2017, 432) die Auffassung, dass die Pflegeentgelte gemäß § 3 Nr. 11 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr anzuwendenden Fassung (EStG) steuerfrei seien.

8 Mit Schreiben vom teilte das FA dem Kläger mit, dass es das Schreiben vom als Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid auslege. Laut einem Schreiben vom sah das FA den Einspruch auch als zulässig an.

9 Am zeigte der ehemalige Prozessbevollmächtigte dem FA die Vertretung der Kläger an. Er wies auf eine Entscheidung des hin, in der die Pflegeentgelte, die in einer Erziehungsfachstelle gemäß § 34 SGB VIII gezahlt worden seien, als steuerfreie Einnahmen behandelt wurden.

10 Das FA erließ am eine Einspruchsentscheidung, in der es „den Einspruch vom “ als unbegründet zurückwies. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb bestehen. Die Pflegeentgelte hätten Vergütungscharakter und seien nicht gemäß § 3 Nr. 11 EStG als Beihilfen steuerfrei.

11 Das FG hat die anschließend erhobene Klage als unbegründet abgewiesen.

12 Zwar habe das FA das Schreiben des Klägers vom zu Unrecht als Einspruch angesehen. Das Schreiben sei vor Bekanntgabe des angefochtenen Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom Kläger abgesandt worden. Jedoch könne das Schreiben des ehemaligen Prozessbevollmächtigten vom als Einspruch ausgelegt werden. Dieses Schreiben sei zwar nach Ablauf der Einspruchsfrist eingegangen, den Klägern sei aber nach den unzutreffenden Ausführungen des FA in den Schreiben vom und vom gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO) die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren.

13 Das FG hat die Pflegeentgelte nicht als Beihilfen im Sinne des § 3 Nr. 11 EStG, sondern als steuerpflichtige marktübliche Entgelte für besonders qualifizierte Erziehungsleistungen des Klägers beurteilt.

14 Die Begründung des FG ist im Einzelnen in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2023, 978 wiedergegeben.

15 Das Urteil des FG wurde der neuen Prozessbevollmächtigten der Kläger am zugestellt. Die neue Prozessbevollmächtigte ist eine Steuerberatungsgesellschaft in der Rechtsform einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung, die durch die Steuerberater E und F sowie Steuerberaterin G vertreten wird. Die von der Prozessbevollmächtigten im Namen der Kläger erhobene Revision gegen das Urteil des FG ging beim BFH per Telefax am ein. Die Revisionsbegründung reichte die Prozessbevollmächtigte ebenfalls per Telefax am beim BFH ein. Sie wies darauf hin, dass die Prozessbevollmächtigte noch nicht über eine Safe-ID verfüge, weil ihr das erforderliche Schreiben der Bundessteuerberaterkammer noch nicht zugegangen sei. Auch die Registrierungsbriefe für die Steuerberater E und F als vertretungsberechtigte Gesellschafter hätten noch nicht vorgelegen.

16 Die Senatsvorsitzende hat die Kläger mit Schreiben vom auf die seit dem geltende Nutzungspflicht für das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt) hingewiesen. Am haben die Kläger die Revisionsbegründung erneut, diesmal elektronisch über die persönliche Safe-ID der vertretungsberechtigten Steuerberaterin G übermittelt und zu ihrer Entlastung vorgebracht, sie hätten auf ein Informationsschreiben des Präsidenten der Steuerberaterkammer des Landes B vertraut, wonach die Nutzungspflicht für das beSt erst mit dem Erhalt des Registrierungsbriefs der Bundessteuerberaterkammer beginne. Die Kläger haben dieses Schreiben zur Glaubhaftmachung vorgelegt.

17 Die Kläger rügen eine Verletzung materiellen Bundesrechts in Gestalt des § 3 Nr. 11 EStG.

18 Die Kläger beantragen sinngemäß,

das Urteil des FG des Landes Sachsen-Anhalt vom  - 4 K 931/20 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2016 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahingehend zu ändern, dass die Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers aus der Erziehungsfachstelle „X“ in Höhe von 0 € berücksichtigt werden.

19 Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Gründe

II.

20 Die Revision ist zulässig. Den Klägern ist hinsichtlich der nicht fristgerechten Übermittlung der Revisionsbegründung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (s. II.1.). Die Revision ist jedoch unbegründet (§ 126 Abs. 2 und Abs. 4 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Zwar ist das Urteil des FG rechtsfehlerhaft, soweit das FG den Klägern wegen Versäumung der Einspruchsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO gewährt hat. Da das FG die Klage als unbegründet abgewiesen hat, ist die Entscheidung jedoch im Ergebnis richtig (s. II.2.).

21 1. Die Revision ist zulässig.

22 Zwar ist die Revisionsbegründung in der gebotenen Form als elektronisch zu übermittelndes Dokument (§ 52d Satz 1 und 2 FGO) erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist beim BFH eingegangen. Da das angefochtene Urteil der Prozessbevollmächtigten der Kläger am gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, war die Revision gemäß § 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung und damit gemäß § 54 Abs. 1, Abs. 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO), § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) bis zum Ablauf des (einem Mittwoch), zu begründen. Der Schriftsatz vom hat die Frist nicht gewahrt (s. II.1.a bis c). Den Klägern ist aber Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Revisionsbegründung zu gewähren (s. II.1.d).

23 a) Berufsausübungsgesellschaften nach § 3 Satz 1 Nr. 2, § 49 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG), die in das Steuerberaterverzeichnis eingetragen sind, sind gemäß § 52d Satz 1 und 2 FGO verpflichtet, seit dem das beSt zu nutzen. Bei der Prozessbevollmächtigten, einer Steuerberatungsgesellschaft, handelt es sich um eine solche Gesellschaft. Die Nutzungspflicht ab dem wird, wenn ein Registrierungsbrief vorliegt, nicht davon berührt, ob das beSt zu diesem Datum tatsächlich freigeschaltet ist, ob dem Inhaber des beSt die für dessen Nutzung vorzuhaltenden erforderlichen technischen Einrichtungen zur Verfügung stehen oder ob er das beSt in die Kanzleisoftware implementiert hat (BFH-Beschlüsse vom  - IV B 46/23, BFH/NV 2024, 392, Rz 5, 6; vom  - XI B 59/23, BFH/NV 2024, 1349, Rz 8 ff.).

24 b) Der Senat teilt nicht die im Beschluss des X. Senats des (BFH/NV 2024, 845, Rz 17 ff.) —in einem nicht tragenden Teil der Entscheidung— geäußerten Zweifel, dass wegen angeblicher Nichtigkeit der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung (StBPPV) keine Erstregistrierungspflicht von Steuerberatern für das beSt bestanden habe und es damit an einem auf gesetzlicher Grundlage wirksam errichteten sicheren Übermittlungsweg im Sinne des § 52d Satz 2 i.V.m. § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO sowie an der aktiven Nutzungspflicht für das beSt zum Zeitpunkt des Fristablaufs für die Revisionsbegründung fehlen könnte.

25 aa) Rechtsgrundlage für die wirksame gesetzliche Errichtung des beSt als sicherem Übermittlungsweg sind (nur) die §§ 86c bis 86e StBerG. Diese Regelungen sind nach dem anwendbar. Die aktive Nutzungspflicht von Steuerberatern für das beSt ergibt sich nur aus § 52d Satz 2 FGO, sofern diesen ab dem ein sicherer Übermittlungsweg nach § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Verfügung steht.

26 bb) Die wirksame gesetzliche Errichtung des sicheren Übermittlungswegs im Sinne des § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO zum setzt nicht voraus, dass auch die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung wirksam erlassen worden ist. Die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung enthält nur technische und datenschutzrechtliche Vorgaben unter anderem für die Einrichtung und Inbetriebnahme des beSt und richtet sich erkennbar ausschließlich an die Bundessteuerberaterkammer und die örtlichen Steuerberaterkammern. Schon aus § 86f StBerG ergibt sich, dass es im Ermessen des Verordnungsgebers stand, die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung zu erlassen (sog. Verordnungsermessen; vgl. etwa BeckOK GG/Uhle, 59. Ed. [], GG Art. 80 Rz 30). Die Bundessteuerberaterkammer und die örtlichen Steuerberaterkammern hätten das beSt unter Berücksichtigung technischer und datenschutzrechtlicher Anforderungen, die für einen sicheren Übermittlungsweg im Sinne von § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO notwendig sind, auch in berufsständischer Eigenverantwortlichkeit nach den Vorgaben in §§ 86c bis 86e StBerG entwickeln und einrichten können. Da die Verordnung hinweggedacht werden kann, ist sie kein notwendiger Bestandteil der gesetzlichen Regelungen zur gesetzlichen Errichtung des beSt im Sinne des § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO.

27 cc) Aus der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung ergeben sich weder rechtliche Pflichten des Steuerberaters zur elektronischen Einreichung von Dokumenten noch zur Benutzung des beSt. Das gilt zunächst für die individuelle Pflicht zur Registrierung bei der Steuerberaterplattform. Diese Verpflichtung beruht auf § 86c StBerG und nicht auf der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung (vgl. § 2 Abs. 4 StBPPV). § 15 StBPPV regelt nur die Anforderungen an die Identifizierung und Authentisierung bei der Erstanmeldung beim beSt. Es handelt sich um Standards, die die Bundessteuerberaterkammer bei der Einrichtung und Inbetriebnahme des beSt zu beachten hat. Eine Rechtspflicht des einzelnen Steuerberaters zur Erstanmeldung ergibt sich aus der Verordnungsregelung nicht. Es handelt sich —wenn überhaupt— um eine faktische Pflicht: Wer das beSt nutzen will (muss), kommt —faktisch— nicht umhin, sich beim beSt zu registrieren und das Anmeldeverfahren zu durchlaufen. Die hier allein maßgebliche Frage der Nutzungspflicht gemäß § 52d Satz 2 FGO aufgrund des Vorhandenseins eines gesetzlich errichteten sicheren Übermittlungswegs im Sinne des § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO ist in rechtlicher Hinsicht aber unabhängig von diesem faktischen Registrierungszwang zu beantworten.

28 dd) Der Senat teilt auch die im (BFH/NV 2024, 845, Rz 22, 23) geäußerten Zweifel am verfassungsgemäßen Erlass der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung nicht.

29 aaa) Ermächtigungsgrundlage für die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung ist § 86f Nr. 2 StBerG. Die Norm ist durch Art. 4 des Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom (BGBl I 2021, 2363, 2418) in das Steuerberatergesetz eingefügt worden. Das Änderungsgesetz ist am in Kraft getreten (vgl. Art. 36 Abs. 1; BGBl I 2021, 2363, 2438). Die Ermächtigungsgrundlage für die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung (§ 86f StBerG) gemäß § 157e StBerG ist „erstmals nach Ablauf des anzuwenden“. Die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung ist am (BGBl I 2022, 2105) verkündet worden und gemäß § 24 StBPPV am in Kraft getreten.

30 bbb) Bei § 86f StBerG fallen das Inkrafttreten () und der erstmalige Anwendungszeitpunkt () auseinander. Der X. Senat des BFH hält den Erlass der Rechtsverordnung vor Anwendbarkeit ihrer Ermächtigungsgrundlage für unzulässig. Dem vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.

31 (1) Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausgeführt, worauf sich der X. Senat des BFH beruft, von einer Ermächtigung könne erst Gebrauch gemacht werden, wenn sie vorliege. Die ermächtigende Norm müsse also in Kraft gesetzt sein, bevor die darauf gestützte Norm erlassen werden könne (, BVerfGE 34, 9, unter B.II.2.). Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat, was der X. Senat des BFH ebenfalls herangezogen hat, unter Berufung auf diese Entscheidung formuliert, als Grundlage einer Rechtsverordnung könnten nur solche Ermächtigungsnormen herangezogen werden, die zum Zeitpunkt der Ausfertigung der Verordnung bereits „in Geltung gestanden“ hätten ( 2 C 18.21, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht —NVwZ— 2023, 1423, Rz 16).

32 (2) Der Senat teilt gleichwohl die Auffassung nicht, dass die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung ohne Ermächtigungsgrundlage erlassen worden ist.

33 Das Verkünden einer Verordnung vor Anwendbarkeit der zugrunde liegenden Ermächtigungsnorm ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass die Verordnung an dem Stichtag in Kraft tritt, an dem sie ihren Zweck erfüllen muss. Die Ermächtigung, die technischen Voraussetzungen für das Funktionieren des beSt zum zu schaffen, würde leerlaufen, wenn der Verordnungsgeber nicht vor dem hätte tätig werden dürfen, da damit zu rechnen war, dass die praktische Umsetzung der vorgegebenen technischen Voraussetzungen einiger Zeit bedurfte. Der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung musste beispielsweise gemäß § 86f StBerG auch der Bundesrat zustimmen. Ohne vorherigen Abschluss des Normgebungsverfahrens wäre es nicht möglich gewesen, dass die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung am in Kraft trat. Selbst wenn der Bundesrat der Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung am , einem Feiertag, zugestimmt hätte, hätte die Verordnung erst am in Kraft treten können.

34 Für den rechtswirksamen Erlass einer Verordnung vor ihrer erstmaligen Anwendbarkeit spricht ferner, dass sich die Verordnungsadressaten nur so auf die Rechtsfolgen der Verordnung einstellen können und im vorliegenden Fall zum Beispiel die technischen Ausgangsvoraussetzungen für das beSt zum schaffen konnten.

35 (3) Der Senat entnimmt den Entscheidungen des (BVerfGE 34, 9) und des 2 C 18.21 (NVwZ 2023, 1423) keine Maßstäbe, die der vorher beschriebenen erforderlichen realitätsgerechten Handhabung des Normgebungsverfahrens entgegen stehen. Die Entscheidung des BVerfG enthält insoweit zwar die Aussage, dass ein Gesetz nicht auf eine kompetenzrechtliche Norm gestützt werden kann, die noch nicht in Kraft getreten ist. Hierum geht es vorliegend aber nicht. Im Urteil vom  - 2 C 18.21 (NVwZ 2023, 1423) hat das BVerwG darüber entschieden, ob ein nachträgliches Inkrafttreten einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage eine Rechtsverordnung heilen kann, die zuvor auf eine unzureichende Rechtsgrundlage gestützt worden war. Dies hat das BVerwG (zu Recht) abgelehnt. Das BVerwG führt zwar aus: „Denn als Grundlage einer Norm können nur solche Kompetenzvorschriften herangezogen werden, die zum Zeitpunkt der Ausfertigung dieser Norm bereits in Geltung gestanden haben“ (Urteil vom  - 2 C 18.21, NVwZ 2023, 1423, Rz 16). Mit „Geltung“ ist aus Sicht des Senats aber erkennbar der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnungsermächtigung und nicht der Zeitpunkt der erstmaligen Anwendung der Ermächtigungsnorm gemeint.

36 Selbst wenn man diese Frage anders beurteilen wollte, sieht der erkennende Senat die Gerichte als berechtigt an, den offensichtlichen Fehler des Gesetzgebers, § 86f StBerG nicht von der generellen Anwendungsregel in § 157e StBerG ausgenommen zu haben, als unbeachtlich zu beurteilen, um dem eindeutig Gewollten zum Durchbruch verhelfen zu können. Aus § 157e StBerG ergibt sich der eindeutige Wille des Gesetzgebers, dass die aktive Nutzungspflicht des beSt für Steuerberater am beginnen sollte.

37 ccc) Die Auffassung des Senats, dass ab dem eine aktive Nutzungspflicht für das beSt bestanden hat und die Steuerberaterplattform- und -postfachverordnung wirksam erlassen worden ist, wird auch in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung in Kenntnis des Beschlusses des X. Senats des (BFH/NV 2024, 845) geteilt (, Rz 25 bis 32; , Rz 46 ff.).

38 c) Die Voraussetzungen einer Ersatzeinreichung gemäß § 52d Satz 3 und 4 FGO liegen unstreitig nicht vor.

39 d) Den Klägern ist jedoch Wiedereinsetzung (§ 56 FGO) in die versäumte Revisionsbegründungsfrist zu gewähren.

40 aa) Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 56 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO). Ist dies geschehen, so kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 56 Abs. 2 Satz 4 FGO).

41 bb) Ein Antrag auf Wiedereinsetzung ist in dem am beim BFH eingegangenen Schreiben der Prozessbevollmächtigten zu sehen. Der Antrag ist fristgerecht nach Wegfall des Hindernisses gestellt worden. Durch das Schreiben der Senatsvorsitzenden vom haben die vertretungsberechtigten Gesellschafter der Prozessbevollmächtigten erkannt, dass die Gesellschaft ab dem zur elektronischen Übermittlung der Revisionsbegründung verpflichtet war. Die Prozessbevollmächtigte hat daraufhin den Antrag auf Wiedereinsetzung elektronisch gestellt und die erforderliche Übermittlung der Revisionsbegründung über das beSt der vertretungsberechtigten angestellten Steuerberaterin G nachgeholt.

42 cc) Die Fristversäumung war unverschuldet. Die Kläger durften auf die unzutreffende Information des Präsidenten der Steuerberaterkammer des Landes B vertrauen.

43 aaa) Ein Verschulden im Sinne des § 56 FGO liegt —jedenfalls, wenn es sich um die Fristversäumnis eines Steuerberaters oder Rechtsanwalts handelt— nur dann nicht vor, wenn dieser die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt angewendet hat (vgl. z.B. , BFH/NV 2020, 375, Rz 8, m.w.N.). Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).

44 bbb) Angehörige der rechts- und steuerberatenden Berufe müssen zwar in der Regel das Verfahrensrecht kennen. Dies gilt insbesondere auch für die Verpflichtung der Steuerberater, ab dem Schriftsätze sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen über das beSt als elektronisches Dokument an die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit zu übermitteln (BFH-Beschlüsse vom  - IV B 77/22, BFH/NV 2024, 20, Rz 14; vom  - XI B 101/22, BFHE 279, 523, BStBl II 2023, 763, Rz 20; zu Berufsausübungsgesellschaften BFH-Beschlüsse vom  - IV B 46/23, BFH/NV 2024, 392; vom  - XI B 59/23, BFH/NV 2024, 1349). Im hier gegebenen Fall einer Rechtsänderung kann sogar erwartet werden, dass die Voraussetzungen für die wirksame Einlegung eines Rechtsmittels mit erhöhter Sorgfalt überprüft werden (vgl. , juris, Rz 24).

45 ccc) Im vorliegenden Fall stand der form- und fristgerechten Revisionsbegründung jedoch nicht fehlendes Wissen um die grundsätzliche Nutzungspflicht des beSt entgegen, sondern ein Irrtum darüber, wie in der Übergangsphase bis zur regulären Übersendung der Registrierungsbriefe zu verfahren sei.

46 Die Kläger haben bereits mit der Antragstellung am durch die Vorlage eines Informationsschreibens des Präsidenten der Steuerberaterkammer des Landes B glaubhaft gemacht, dass der Prozessbevollmächtigten bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist ein Registrierungsbrief der Steuerberaterkammer nicht vorlag und dass die Steuerberaterkammer ihre Mitglieder rechtsfehlerhaft dahin informiert hatte, dass die aktive Nutzungspflicht erst mit dem Erhalt des Registrierungsbriefs beginne. Über die Möglichkeit des Fast-Lane-Verfahrens wurde in dem Schreiben nicht belehrt.

47 Die Gesellschafter der Prozessbevollmächtigten waren nicht gehalten, diese Auskunft ihrer Berufsvertretung kritisch zu hinterfragen (vgl. auch , EFG 2024, 1715, Rz 59 bis 65). Auch hält es der Senat im Lichte von Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für geboten, die Übergangsschwierigkeiten bei der Einrichtung des beSt zu berücksichtigen, die sich nicht zuletzt darin manifestiert haben, dass die Registrierungsbriefe planmäßig nicht vor dem , sondern —gerichtsbekannt— erst beginnend mit diesem Datum in Tranchen über mehrere Monate hinweg versandt worden sind (ebenso , BFH/NV 2024, 845, Rz 28, 33). Ein Verschulden kann abweichend davon hingegen anzunehmen sein, wenn dem für die prozessbevollmächtigte Berufsausübungsgesellschaft handelnden vertretungsberechtigten Steuerberater vor Ablauf einer gesetzlichen Einlegungs- oder Begründungsfrist bekannt ist, über die sogenannte „Fast-Lane“ eine schnelle Registrierung erreichen zu können, er untätig bleibt und den Eintritt der Nutzungspflicht erst nach Eingang des regulären Registrierungsbriefs annimmt (, BFH/NV 2024, 804, Rz 21, 22).

48 2. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 und Abs. 4 FGO). Das FG hat zwar zu Unrecht angenommen, es liege ein zulässiger Einspruch vor. Es hat deshalb zu Unrecht seine Befugnis, den angefochtenen Bescheid inhaltlich überprüfen zu dürfen, bejaht (s. II.2.a). Der Bescheid ist formell bestandskräftig. Es hat aber die Klage im Ergebnis zutreffend als unbegründet abgewiesen. Denn aufgrund des nicht fristgerecht erhobenen Einspruchs hätte das FG die Klage ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abweisen müssen (s. II.2.b).

49 a) Die Kläger haben mit dem Schreiben vom keinen wirksamen Einspruch erhoben. Das vom FG als Einspruch behandelte Schreiben des ehemaligen Prozessbevollmächtigten vom ist erst nach Ablauf der Einspruchsfrist beim FA eingegangen. Das FG hat zu Unrecht selbst eine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist ausgesprochen.

50 aa) Gemäß § 355 Abs. 1 AO ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Das nach den Feststellungen des FG vor dem tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr und vor dem Ablauf der Drei-Tages-Frist gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO (Zugang am , einem Freitag) abgesandte Schreiben vom ist danach kein Einspruch (vgl. , BFH/NV 2013, 693, Rz 17).

51 bb) Das Schreiben des früheren Prozessbevollmächtigten an das FA vom ist vom FG ohne Rechtsfehler als Einspruch ausgelegt worden. Die Auslegung des Einspruchs als vorprozessualer Rechtsbehelf ist Gegenstand der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht grundsätzlich gebunden ist, soweit im Revisionsverfahren keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben werden (§ 118 Abs. 2 FGO). Das Revisionsgericht kann die Auslegung des FG nur daraufhin überprüfen, ob das FG die anerkannten Auslegungsregeln beachtet (§§ 133, 157 BGB) und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat. Revisionsrechtlich in vollem Umfang nachprüfbar ist aber, ob die Erklärung überhaupt auslegungsbedürftig ist. Hieran fehlt es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat (, BFH/NV 2022, 705, Rz 15). Es ist nicht zu beanstanden, dass das FG dem Schreiben des früheren Prozessbevollmächtigten vom einen Bezug zu dem vermeintlichen Einspruchsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr beigemessen hat (vgl. dazu , BFH/NV 2016, 1676, Rz 22 bis 24). Die Auslegung des Schreibens als Einspruch verstößt auch nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze. Der damalige Prozessbevollmächtigte hat sich ausdrücklich auf das vermeintliche Einspruchsverfahren zum Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr bezogen und hierzu Stellung genommen. Dass das Schreiben nicht als Einspruch bezeichnet worden ist, ist unschädlich (§ 357 Abs. 1 Satz 3 AO).

52 cc) Das FG hat den am und damit nach Ablauf der Einspruchsfrist erhobenen Einspruch aber zu Unrecht wegen einer von ihm selbst zu gewährenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als fristgerecht behandelt. Die Kläger hatten aufgrund der unzutreffenden Schreiben des FA vom und vom selbst keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gemäß § 110 AO beantragt. Eine stillschweigende Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist aufgrund der Sachentscheidung des FA über den Einspruch liegt ebenfalls nicht vor (II.2.a.cc aaa). Das FG konnte die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist nicht selbst gewähren (II.2.a.cc bbb).

53 aaa) Eine trotz Fristversäumnis ergangene Sachentscheidung der Verwaltung kann als stillschweigende Gewährung einer Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO gewertet werden, wenn sich die Behörde über die Gewährung der Wiedereinsetzung im Klaren ist oder wenn zumindest ein verständiger Antragsteller nach den Gesamtumständen auf eine entsprechende Entscheidung in der Wiedereinsetzungsfrage schließen kann und darf. Das ist nicht der Fall, wenn —wie hier— die Wiedereinsetzung nicht beantragt worden ist, das FA die Fristversäumnis nicht erkannt und deshalb ausschließlich die sachliche Richtigkeit der Steuerfestsetzung im Einspruchsverfahren erörtert und hierüber entschieden hat (vgl. , BFH/NV 1990, 8, unter 2.b bb [Rz 20]). Sollte das FG-Urteil so zu verstehen sein, dass das FG von einer konkludenten und zutreffenden Gewährung der Wiedereinsetzung durch das FA ausgegangen sein sollte, wofür angesichts der Formulierungen in der Vorentscheidung indes nichts spricht, wäre dies rechtsfehlerhaft.

54 bbb) Das FG ist außerhalb der Überprüfung, ob eine Wiedereinsetzung vom FA zu Unrecht ausdrücklich oder stillschweigend versagt worden ist, nicht zu einer eigenen Entscheidung über die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 Abs. 2 Satz 4 AO von Amts wegen berufen. Denn zuständig für diese Entscheidung ist diejenige Finanzbehörde, die über die versäumte Handlung (hier: den Einspruch) zu befinden hat (§ 110 Abs. 4 AO). Auch insoweit ist das FG-Urteil rechtsfehlerhaft.

55 b) Stellt sich im finanzgerichtlichen Verfahren die Unanfechtbarkeit des den Verfahrensgegenstand bildenden Bescheids wegen eines zunächst nicht erkannten unzulässigen Einspruchs heraus, so ist die Klage ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abzuweisen (s. z.B. , BFH/NV 2011, 1835, Rz 24). Die fristgerechte Einlegung des Einspruchs stellt eine bei der Sachentscheidung zu beachtende materiell-rechtliche Vorfrage dar (, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791, unter II.2.a [Rz 13]). Das FG hat damit rechtsfehlerhaft angenommen, der Einspruch vom habe die Möglichkeit eröffnet, die angefochtene Steuerfestsetzung sachlich zu überprüfen.

56 3. Der Senat weist darauf hin, dass er in dem Schreiben des ehemaligen Prozessbevollmächtigten vom wegen der unzutreffenden Stellungnahmen des FA im Einspruchsverfahren auf Grundlage des Grundsatzes der Meistbegünstigung die Auslegung dieses Schreibens als Änderungsantrag gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 AO für möglich hält (zur Meistbegünstigung s. , Rz 25, 35). Dieser Änderungsantrag ist nach Aktenlage noch nicht beschieden. Das FA wird über den Änderungsantrag und die Frage, ob es sich bei den Pflegeentgelten um steuerfreie Beihilfen handelt, nach Maßgabe der Vorgaben des (BFHE 278, 563, BStBl II 2024, 13) zu entscheiden haben. Die Begründung des FG, mit der es das Vorliegen der Steuerbefreiung gemäß § 3 Nr. 11 EStG verneint hat, hat —trotz der im Ergebnis richtigen Klageabweisung— aufgrund der fehlenden Sachprüfungsbefugnis des FG keine Bindungswirkung für die Entscheidung über das Änderungsbegehren.

57 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:U.221024.VIIIR19.22.0

Fundstelle(n):
UAAAJ-82736