Soziale Pflegeversicherung - pflegebedürftiger Mensch mit Behinderung in besonderer Wohnform der Eingliederungshilfe - Begrenzung der Höhe der Pauschalleistung auch für Selbstzahler - Verfassungsmäßigkeit
Gesetze: § 43a SGB 11, § 13 Abs 3 S 3 SGB 11, § 36 Abs 1 S 1 SGB 11, § 36 Abs 4 S 1 SGB 11, § 37 Abs 1 S 1 SGB 11, § 71 Abs 4 Nr 3 SGB 11, § 103 Abs 1 S 1 SGB 9 2018, Art 2 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 3 Abs 3 S 2 GG
Instanzenzug: Az: S 19 P 132/20 Gerichtsbescheidvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 4 P 56/21 Urteil
Tatbestand
1Im Streit steht der Anspruch auf Pflegegeld nach § 37 SGB XI anstelle der Leistung nach § 43a SGB XI.
2Der 1951 geborene, nach dem Pflegegrad 3 pflegebedürftige Kläger ist bei der beklagten Pflegekasse pflegeversichert und daneben beihilfeberechtigt (je zur Hälfte). Er ist von Geburt an geistig behindert und lebt seit 1998 in einer Lebensgemeinschaft, die Menschen mit Behinderungen neben Wohnraumüberlassung Leistungen der Eingliederungshilfe erbringt. Der Kläger bewohnt dort auf vertraglicher Grundlage ein Einzelzimmer und nimmt Leistungen ua der Pflege und Betreuung in Anspruch. Er ist in die Hilfebedarfsgruppe 3 eingestuft. Den Leistungen und den Entgelten hierfür liegen nach dem vom Kläger mit der Lebensgemeinschaft abgeschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrag die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung der Lebensgemeinschaft mit dem Träger der Eingliederungshilfe sowie der Bayerische Rahmenvertrag für teilstationäre und stationäre Leistungen zugrunde. Die Kosten seiner Versorgung in der Lebensgemeinschaft trägt der Kläger selbst. Eine Kostenübernahme durch den Träger der Eingliederungshilfe hat dieser mit Blick auf das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen des Klägers abgelehnt.
3Zum beantragte der Kläger die Zahlung von Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 anstelle der ihm bislang gezahlten geringeren Pauschalleistung nach § 43a SGB XI (jeweils hälftig neben dem Beihilfeanspruch). Die Beklagte lehnte einen Anspruch auf Pflegegeld ab und zahlte weiterhin die Leistung nach § 43a SGB XI an den Kläger, der in einer Räumlichkeit nach § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI lebe (“besondere Wohnform“) und bei dem deshalb keine häusliche Pflege vorliege (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
4Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ) und das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ): Auf Pflegegeld bestehe nur bei häuslicher Pflege Anspruch. Diese liege nicht vor, wenn Pflegebedürftige in einer Räumlichkeit nach § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI gepflegt würden. Die Lebensgemeinschaft, in der der Kläger lebe, Leistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch nehme und gepflegt werde, sei bis als vollstationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe zu qualifizieren gewesen und ab als Räumlichkeit nach § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI anzusehen, nachdem sich mit dem Rechtswechsel im Eingliederungshilferecht Änderungen in ihrem Leistungsangebot nicht ergeben hätten. Statt des begehrten Pflegegelds habe der Kläger weiterhin Anspruch auf die Leistung nach § 43a SGB XI, der nicht entgegenstehe, dass der Träger der Eingliederungshilfe eine Leistungsbewilligung abgelehnt habe, sondern er die ihm auf vertraglicher Grundlage erbrachten Eingliederungshilfeleistungen der Lebensgemeinschaft selbst zahle. Verfassungsrecht werde durch den Ausschluss vom Pflegegeld nicht verletzt.
5Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von §§ 36, 37 iVm § 71 SGB XI. Diese Vorschriften seien seit dem so zu interpretieren, dass der pflegebedürftige Kläger in Räumlichkeiten einer Einrichtung der Eingliederungshilfe über eine eigene Häuslichkeit verfüge. Hilfsweise erstrebt der Kläger die Aussetzung des Verfahrens zur Einholung der Entscheidung des BVerfG, ob der Leistungsausschluss vom Pflegegeld für Menschen mit Behinderungen, die ihnen erbrachte Leistungen einer Einrichtung der Eingliederungshilfe selbst zahlen, verfassungswidrig ist.
Gründe
8Die Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Er hat weder Anspruch auf Pflegegeld noch sonst auf höhere Leistungen nach dem SGB XI bis zur Höhe des Pflegegelds nach dem Pflegegrad 3. Anspruch hat er auf die Pauschalleistung nach § 43a SGB XI.
91. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, soweit dadurch das vom Kläger begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 3 abgelehnt worden ist. Der Sache nach begehrt er entweder dieses Pflegegeld oder sonst höhere Leistungen nach dem SGB XI bis zur Höhe des Pflegegelds nach Pflegegrad 3 (jeweils hälftig).
10In zeitlicher Hinsicht ist Streitgegenstand der zutreffend erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) auf die - wie hier - teilweise Ablehnung der begehrten Pflegeleistungen grundsätzlich die gesamte Spanne zwischen der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl - SozR 4-3300 § 140 Nr 1 RdNr 10), hier also der Zeitraum vom bis .
112. Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf häusliche Pflegehilfe als Sachleistung und können anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (§ 36 Abs 1 Satz 1, § 37 Abs 1 Satz 1 SGB XI). Häusliche Pflegehilfe und damit an deren Stelle Pflegegeld sind auch zulässig, wenn Pflegebedürftige nicht in ihrem eigenen Haushalt gepflegt werden; sie sind nicht zulässig, wenn Pflegebedürftige in einer stationären Pflegeeinrichtung oder in einer Einrichtung oder in Räumlichkeiten iS des § 71 Abs 4 SGB XI gepflegt werden (§ 36 Abs 4 Satz 1 SGB XI idF des PSG III vom , BGBl I 3191). Räumlichkeiten iS von § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI (idF des PpSG vom , BGBl I 2394) sind solche, in denen der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese im Vordergrund steht (a), auf deren Überlassung das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) Anwendung findet (b) und in denen der Umfang der Gesamtversorgung der dort wohnenden Menschen mit Behinderungen durch Leistungserbringer regelmäßig einen Umfang erreicht, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht (c).
12Inhaltlich erfahren die in § 71 Abs 4 Nr 3 Buchst c SGB XI in der ab geltenden Fassung genannten Merkmale und Kriterien eine Konkretisierung durch die auf § 71 Abs 5 SGB XI gestützten Richtlinien des GKV-Spitzenverbands vom (im Folgenden: Richtlinien). Soweit sich diese innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, woran der Senat hier keinen Zweifel hat, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlung zu beachten (vgl zu Richtlinien nach § 17 Abs 1 SGB XI - vorgesehen für BSGE und SozR, RdNr 18 ff). Der Umfang einer Gesamtversorgung, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht, wird danach erreicht, wenn ein Leistungserbringer Unterkunft und Verpflegung, Leistungen der Eingliederungshilfe, die räumliche und sächliche Ausstattung sowie ggf allgemeine Pflegeleistungen zur Verfügung stellt (Ziff 3 Abs 1 der Richtlinien). Maßgebend für das Vorliegen des Umfangs einer Gesamtversorgung, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht, ist nicht die tatsächliche Inanspruchnahme, sondern das zwischen dem Leistungsberechtigten und Leistungserbringer vertraglich verpflichtende Vorhalten und Vergüten eines entsprechenden Leistungsangebots, das im Bedarfsfall in Anspruch genommen werden kann (Ziff 3 Abs 7 der Richtlinien).
133. Nach der auf seinen mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen beruhenden Würdigung des LSG lebt der pflegebedürftige Kläger in einer solchen "besonderen Wohnform" der Eingliederungshilfe und werden ihm dort Leistungen der Eingliederungshilfe einschließlich Pflegeleistungen erbracht.
14Nach den Feststellungen des LSG und den von ihm in Bezug genommenen Feststellungen des SG (vgl zu deren Einbeziehung durch das Revisionsgericht B 11a/11 AL 69/04 R - BSGE 95, 232 = SozR 4-4300 § 144 Nr 11, RdNr 14) findet das WBVG Anwendung, weil sich die Lebensgemeinschaft in dem Wohn- und Betreuungsvertrag vom , angepasst durch Vertrag vom zum , dazu verpflichtet hat, dem Kläger Wohnraum zu überlassen und selbst Pflege- und Betreuungsleistungen zu erbringen, die der Bewältigung eines durch Behinderung bedingten Hilfebedarfs dienen. Sie stellt ihm Wohnraum (Einzelzimmer im Haus "S.", Gemeinschaftsräume einschließlich deren Reinigung bzw Unterstützung des Klägers hierbei) und Verpflegung, Angebote und Maßnahmen der Begleitung, Assistenz, Hilfe, Förderung oder Pflege sowie die Bereitstellung betriebsnotwendiger Anlagen zur Verfügung (Anlage 0 § 3 des Vertrags: "Leistungen der Dorfgemeinschaft M."). Die Unterbringung und Versorgung der in den Räumlichkeiten der Lebensgemeinschaft wohnenden Menschen mit Behinderungen erfolgt ausweislich der mit dem Träger der Eingliederungshilfe geschlossenen Leistungsvereinbarung nach §§ 123 ff SGB IX grundsätzlich ganztägig an 365 Tagen pro Jahr, wobei der Zweck des Wohnens von Menschen mit Behinderungen und der Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe für diese iS von § 71 Abs 4 Nr 3 Buchst a SGB XI im Vordergrund steht; die Kostentragung für die Leistungen der Pflege und Betreuung durch den Kläger folgt der Vergütungsvereinbarung nach §§ 123 ff SGB IX in Übereinstimmung mit § 15 Abs 3 WBVG. Schließlich hat sich nach den Feststellungen des LSG zum Stichtag der Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am an dem geschuldeten Leistungsangebot der Lebensgemeinschaft nichts geändert, sodass die auch vom Gesetzgeber des PSG III in den Materialien zum Ausdruck kommende (vgl BT-Drucks 18/9518 S 72) Annahme greift, dass eine Einrichtung, die am als vollstationäre Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen nach § 43a iVm § 71 Abs 4 SGB XI aF anerkannt gewesen ist, zum eine Räumlichkeit nach § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI ist (Ziff 3 Abs 1 der Richtlinien). Die hierauf gestützte Würdigung des LSG, dass damit der Umfang der Gesamtversorgung der in der Lebensgemeinschaft wohnenden Menschen mit Behinderungen durch den Leistungserbringer regelmäßig einen Umfang erreicht, der weitgehend der Versorgung in einer vollstationären Einrichtung entspricht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
15Ein Anspruch auf Pflegegeld ist danach mangels häuslicher Pflege ausgeschlossen. Insbesondere steht dem nicht entgegen, dass der Kläger die ihm erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe selbst zahlt. Der Begriff der Räumlichkeit in § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI knüpft allein an den Ort an, an dem gepflegt wird, nicht aber daran, wer die Kosten der Eingliederungshilfeleistungen trägt.
164. Anspruch hat der Kläger auf die Leistung nach § 43a SGB XI, die ihm von der Beklagten auch bewilligt und gezahlt worden ist (hälftig neben dem Beihilfeanspruch).
17a) Nach § 43a SGB XI in der ab geltenden Fassung des PSG III übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in einer vollstationären Einrichtung iS des § 71 Abs 4 Nr 1 SGB XI, in der die Teilhabe am Arbeitsleben, an Bildung oder die soziale Teilhabe, die schulische Ausbildung oder die Erziehung von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund des Einrichtungszwecks stehen, zur Abgeltung der in § 43 Abs 2 SGB XI genannten Aufwendungen 15 Prozent der nach Teil 2 Kapitel 8 des SGB IX vereinbarten Vergütung (Satz 1). Die Aufwendungen der Pflegekasse dürfen im Einzelfall je Kalendermonat 266 Euro nicht überschreiten (Satz 2). Die Sätze 1 und 2 gelten auch für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in Räumlichkeiten iS des § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI, die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach Teil 2 des SGB IX erhalten (Satz 3).
18Die Leistung nach § 43a SGB XI für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 in Räumlichkeiten im Sinne des § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, ist eine pflegegradunabhängige pauschale Beteiligung der Pflegekasse an pflegebedingten Aufwendungen in Höhe von maximal 266 Euro im Monat. Nach der Rechtsprechung des Senats ist sie ein Individualanspruch der Versicherten auf Beteiligung der Pflegekassen an den Pflegekosten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe in begrenztem Umfang (vgl - BSGE 133, 141 = SozR 4-3300 § 43a Nr 2, RdNr 19). Nach ihrer Konzeption ist diese Leistung ein finanzieller Ausgleich dafür, dass auch in den "besonderen Wohnformen" der Eingliederungshilfe Leistungen der Pflegeversicherung grundsätzlich nicht erbracht werden, sondern Pflegeleistungen auf gesetzlicher Grundlage Bestandteil der Fachleistungen der Eingliederungshilfe sind (§ 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI und § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX, jeweils idF des BTHG vom , BGBl I 3234).
19b) Soweit die Eingliederungshilfe nach dem Prinzip der Leistungen aus einer Hand als integralen Bestandteil "auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung" umfasst, kann das nur als Verpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe verstanden werden, im Außenverhältnis zu den Leistungsberechtigten in deren Interesse auch die im begrenzten Umfang des § 43a SGB XI mit den Mitteln der Pflegeversicherung zu finanzierende Pflege sicherzustellen (vgl näher - BSGE 133, 141 = SozR 4-3300 § 43a Nr 2, RdNr 13 ff mwN); dies ist in den Leistungsvereinbarungen zwischen dem Einrichtungsträger und dem Träger der Eingliederungshilfe zu berücksichtigen (vgl dazu Fuchs in DVfR, Fachbeitrag A5-2023, 1, 6).
20c) Dem Individualanspruch des Klägers auf die Leistung nach § 43a SGB XI steht nicht entgegen, dass der Träger der Eingliederungshilfe zwar seinen Anspruch auf Eingliederungshilfe für grundsätzlich gegeben gehalten, eine Kostenübernahme aber wegen zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens abgelehnt hat, und der Kläger die vom Leistungserbringer erhaltenen Leistungen einschließlich Pflegeleistungen, die ihm auf vertraglicher Grundlage erbracht werden, daher vollständig selbst zahlt.
21Auch Selbstzahler erhalten iS des § 43a Satz 3 SGB XI Leistungen der Eingliederungshilfe. Sie haben dem Grunde nach einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen, wie sich aus § 99 Abs 1 SGB IX ergibt (vgl Wehrhahn in jurisPK-SGB IX, 4. Aufl 2023, § 99 RdNr 13, Stand ). Danach erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe Menschen mit Behinderungen iS von § 2 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 SGB IX erfüllt werden kann. Nach § 92 SGB IX sowie den Regelungen des Kapitels 9 des SGB IX, denen die Einzelheiten der Beitragsbemessung zu entnehmen sind (vgl Frerichs in Hauck/Noftz, § 92 SGB IX RdNr 11, Stand März 2024), ist zu den Leistungen der Eingliederungshilfe ein Beitrag aus Einkommen und Vermögen aufzubringen.
22Danach sind auch Vermögende wie der Kläger, der die Kosten der Leistungen der Eingliederungshilfe in voller Höhe selbst zahlt, nicht vom Erhalt dieser Leistungen ausgeschlossen, sondern nur von deren Kostenübernahme. Entsprechend richten sich die zwischen dem Kläger und der Lebensgemeinschaft in dem Wohn- und Betreuungsvertrag vereinbarten Inhalte der Eingliederungshilfe sowie die damit verbundene Vergütung - in gleicher Weise wie bei anderen Leistungsberechtigten - nach den Vereinbarungen zwischen der Lebensgemeinschaft als Leistungserbringer und dem Bezirk M als Träger der Eingliederungshilfe. Der Kläger zahlt selbst für die ihm auf vertraglicher Grundlage erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe, die als integralen Bestandteil - entsprechend § 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XI und § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX - auch Pflegeleistungen umfassen; hierfür erhält er - anstelle des Einrichtungsträgers oder des Trägers der Eingliederungshilfe - den pauschalen, der Höhe nach gesetzlich begrenzten Ausgleich von der Pflegekasse unmittelbar.
23d) Ergänzend zu dem pauschalen Individualanspruch nach § 43a SGB XI steht dem Kläger ein Anspruch auf ungekürztes Pflegegeld anteilig für die Tage zu, an denen er sich nicht in der Räumlichkeit aufhält, sondern in einer häuslichen Umgebung, und er dort gepflegt und betreut wird, wobei die Tage der An- und Abreise als volle Tage der häuslichen Pflege gelten (§ 37 Abs 2 SGB XI, § 38 Satz 5 SGB XI, § 43a Satz 4 SGB XI).
245. Der pflegegradunabhängige Anspruch nach § 43a SGB XI ist auch für den Kläger als Selbstzahler seiner Eingliederungshilfeleistungen auf 266 Euro im Monat begrenzt. Die Begrenzung der Höhe der Pauschalleistung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderungen in "besonderen Wohnformen" der Eingliederungshilfe gegen die Pflegekasse begegnet auch für Selbstzahler der Eingliederungshilfeleistungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
25a) Der Gesetzgeber hat bei sozialpolitischen Entscheidungen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts grundsätzlich eine besonders weite Gestaltungsfreiheit, die nur einer eingeschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle unterliegt. Sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers sind hinzunehmen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des GG unvereinbar sind. Der Gleichheitssatz verbietet nur eine Verteilung von Leistungen nach unsachlichen Gesichtspunkten (vgl letztens nur BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 172/22, juris RdNr 7 mwN aus der Rechtsprechung des BVerfG; vgl zur Differenzierung der Leistungshöhe zwischen Pflegesachleistung und Pflegegeld bereits BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 1133/12 - NZS 2014, 414, juris RdNr 17 ff).
26b) Es verstößt danach nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG, Leistungen für Pflegebedürftige in Räumlichkeiten der Eingliederungshilfe anders auszugestalten als bei häuslicher Pflege oder Pflege in stationären Pflegeeinrichtungen, weil die Differenzierung der Art der Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Ort der Pflegeleistungen angesichts der je nach Ort unterschiedlichen Strukturen der Sicherstellung der Pflege kein unsachlicher Gesichtspunkt ist. § 43a SGB XI weicht auch nicht von den allgemeinen Regelungsstrukturen der Pflegeversicherung - insbesondere Ortsbezogenheit und keine vollständige Bedarfsdeckung auch bei pflegegradabhängigen Leistungen - ab. Bezogen auf unterschiedliche Pflegeversicherungsleistungen in einer zugelassenen Pflegeeinrichtung und einer Einrichtung der Behindertenhilfe hat der Senat bereits darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 43a SGB XI - wegen der in einer Behinderteneinrichtung im Vordergrund stehenden Maßnahmen, die der Integration des Behinderten in die Gesellschaft dienen und nicht in die Zuständigkeit der Pflegeversicherung fallender Kosten hierfür - eine sachlich gerechtfertigte Differenzierung vorgenommen hat ( - SozR 3-1100 Art 3 Nr 169, juris RdNr 24). Dies zeigt auch die Entstehungsgeschichte des § 43a SGB XI (vgl hierzu letztens - BSGE 133, 141 = SozR 4-3300 § 43a Nr 2, RdNr 16 mwN) und dessen weitere Entwicklung, nach der die Regelung ein Baustein eines in sich schlüssigen Regelungskomplexes und Leistungssystems ist (vgl dazu Fuchs in DVfR, Fachbeitrag A5-2023, 1, 8 ff). In diesem ist es verfassungsrechtlich auch nicht geboten, hinsichtlich der Höhe der Leistung zwischen Menschen mit Behinderungen, die ihnen erbrachte Leistungen der Eingliederungshilfe selbst zahlen, und denen, deren Kosten hierfür vom Träger der Eingliederungshilfe übernommen werden, zu differenzieren.
27Es begründet zudem keinen Gleichheitsverstoß durch das Pflegeversicherungsrecht, dass das Eingliederungshilferecht seit mit der Konzentration auf das Prinzip der Personenzentrierung von der Differenzierungslogik nach dem Ort der Leistungserbringung abgewichen ist (vgl dazu Bieback in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 8. Aufl 2024, § 90 SGB IX RdNr 12); normativ wird für die Leistungen der Pflegeversicherung weiterhin an den Ort angeknüpft, an dem die Pflegeleistungen erbracht werden. Auch unter Berücksichtigung der neuen Struktur der Eingliederungshilfe nach dem BTHG und ihrer Erbringung in "Räumlichkeiten" ("besondere Wohnformen") hat der Gesetzgeber mit der Anknüpfung an die vormalige Gesetzeslage (vgl BT-Drucks 18/9522 S 278) daran festgehalten, dass Pflegeleistungen integraler Bestandteil der Eingliederungshilfe sind, an deren Kosten sich die Pflegeversicherung in begrenztem Umfang beteiligt. Die Änderung des § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI zielte darauf ab, "die gleichen Rechtswirkungen wie bisher zu erzielen" (BT-Drucks 18/9518 S 72).
28Strengere Maßstäbe ergeben sich vorliegend nicht aus dem besonderen Gleichheitssatz in Art 3 Abs 3 Satz 2 GG bzw dem Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK (vgl zur Bedeutung und Wirkung der Vorschriften der UN-Behindertenkonvention - BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 16 ff). Die Abgrenzungsregelungen zwischen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe knüpfen schon nicht benachteiligend an eine Behinderung an, sondern an die Leistungs- und Finanzierungsverantwortung verschiedener Leistungsträger im gegliederten Sozialleistungssystem.
29c) Die diesen Regelungen zugrunde liegenden Typisierungen und Pauschalierungen werden - auch mit Blick auf Freiheitsgrundrechte - verfassungswidrig nicht dadurch, dass pflegebedürftige Personen in Räumlichkeiten nach § 71 Abs 4 Nr 3 SGB XI Leistungen der Eingliederungshilfe vom Leistungserbringer iS des § 43a SGB XI "erhalten", diese wegen zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens aber selbst zahlen, der Träger der Eingliederungshilfe also keine Kosten übernimmt. Dies gebietet verfassungsrechtlich weder, dass Selbstzahler statt des Anspruchs auf die Leistung nach § 43a SGB XI Anspruch auf Pflegegeld haben müssten, obwohl sie nicht iS des SGB XI im häuslichen Umfeld gepflegt werden, noch dass die Leistung nach § 43a SGB XI für Selbstzahler von Leistungen der Eingliederungshilfe einschließlich Pflegeleistungen auf die Höhe des pflegegradabhängigen Pflegegelds angehoben werden müsste. Dennoch mögliche höhere Leistungen der Pflegeversicherung für diese Personengruppe vorzusehen, kommt allein dem Gesetzgeber zu.
30d) Soweit der Kläger auch eine Verletzung des Art 2 Abs 1 GG geltend macht, kommt ein verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in dessen Schutzbereich hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger die Einrichtung, in der er lebt, selbst ausgewählt hat (vgl für hiervon abweichende Konstellationen § 103 Abs 1 Satz 2 SGB IX und zur Kritik hieran noch nach der Rechtslage bis Welti, Sozialrecht aktuell 2012, 189, 195 ff).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:050924UB3P922R0
Fundstelle(n):
GAAAJ-82570