Bremsanlage
Leitsatz
Bremsanlage
1. Das Schiedsgericht kann über die eigene Zuständigkeit und im Zusammenhang hiermit über das Bestehen oder die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung auch insoweit entscheiden, als seine Befugnis zur Beurteilung des Bestands eines Patents in Rede steht.
2. Verteidigt der Beklagte erst nach der Zustellung des qualifizierten Hinweises das Streitpatent hilfsweise in einer geänderten Fassung, die technische Aspekte betrifft, die in den bisher gestellten Hilfsanträgen nicht berührt waren, kann es nicht ohne Weiteres als nachlässig angesehen werden, wenn der Kläger Entgegenhaltungen hierzu noch nicht in der ersten Instanz vorlegt.
Gesetze: § 531 Abs 2 ZPO, § 1040 Abs 1 ZPO, § 83 Abs 1 PatG, § 117 PatG
Instanzenzug: Az: 6 Ni 15/22 Urteil
Tatbestand
1Die Beklagte ist Inhaberin des deutschen Patents 10 2005 055 751 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme der Priorität eines deutschen Gebrauchsmusters vom angemeldet worden ist und eine Bremsanlage betrifft.
2Patentanspruch 1, auf den 21 weitere Ansprüche zurückbezogen sind, lautet:
Bremsanlage, eine Betätigungseinrichtung und eine Steuer- und Regeleinrichtung aufweisend, wobei die Steuer- und Regeleinrichtung anhand der Bewegung und/oder Position der Betätigungseinrichtung mindestens eine elektromotorische Antriebsvorrichtung steuert, wobei die Antriebsvorrichtung einen Kolben (1) eines Kolben-Zylinder-Systems über eine nicht-hydraulische Getriebevorrichtung verstellt, so dass sich in einem Arbeitsraum des Kolben-Zylinder-Systems ein Druck einstellt, wobei der Arbeitsraum über eine Druckleitung mit einer Radbremse in Verbindung ist, wobei zwischen einem Bremszylinder der Radbremse und dem Arbeitsraum des Kolben-Zylinder-Systems mindestens ein Ventil angeordnet ist, wobei die Steuer- und Regeleinrichtung das mindestens eine Ventil zum Druckab- oder Druckaufbau im Bremszylinder öffnet, dadurch gekennzeichnet, dass die Steuer- und Regeleinrichtung die Druckänderung in den Radbremsen durch Auswertung der Druckvolumenkennlinie der entsprechenden Radbremsen über den Kolbenweg oder den Strom des Elektromotors einregelt.
3Patentanspruch 23, auf den 21 weitere Ansprüche zurückbezogen sind, stellt ein entsprechendes Verfahren unter Schutz.
4Die Klägerin hat geltend gemacht, der Gegenstand des Streitpatents gehe über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldeunterlagen hinaus und sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat vorrangig die Unzulässigkeit der Klage geltend gemacht und sich hierbei auf einen zwischen den Parteien bestehenden Lizenzvertrag berufen, der das Streitpatent umfasst und in Nr. 12.3 eine Schiedsabrede enthält, nach der alle Streitigkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem Vertrag oder über seine Gültigkeit ergeben, unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs vom Schiedsgericht zu entscheiden sind. In der Sache hat die Beklagte das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in elf geänderten Fassungen verteidigt.
5Das Patentgericht hat das Streitpatent für nichtig erklärt, soweit es über die Fassung nach Hilfsantrag 1.2 hinausgeht. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Sie macht weiterhin in erster Linie geltend, die Nichtigkeitsklage sei nach § 1032 Abs. 1 ZPO unzulässig. Für den Fall, dass die Klage als zulässig angesehen wird, verteidigt sie das Streitpatent in zwei geänderten Fassungen des erstinstanzlichen Hilfsantrags 1* (Antrag A als Hauptantrag und Antrag B als Hilfsantrag). Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Gründe
6Die zulässige Berufung ist unbegründet.
7I. Das Patentgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, im Wesentlichen wie folgt begründet.
8Die Nichtigkeitsklage sei zulässig. Zwar habe die Beklagte vor Beginn der mündlichen Verhandlung und damit rechtzeitig die Einrede der Schiedsvereinbarung erhoben. Dennoch sei die Klage nicht als unzulässig abzuweisen. Der Regelung in Nr. 12.3 des Know-how- und Lizenzvertrags sei nicht zu entnehmen, dass dem Schiedsgericht die Befugnis eingeräumt worden sei, die Beklagte zur Beseitigung nicht rechtsbeständiger Schutzrechte zu verpflichten. Jedenfalls sei die Einrede der Schiedsvereinbarung entfallen, nachdem in einem zwischen den Parteien geführten Schiedsverfahren ein Endschiedsspruch ergangen sei. Auch die Rechtskraft der in diesem Schiedsverfahren ergangenen Teilschiedssprüche vom und vom stehe der Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nicht entgegen, da diese einen anderen Streitgegenstand betreffe als die beiden Teilschiedssprüche.
9In der erteilten Fassung habe das Streitpatent keinen Bestand. Sein Gegenstand sei neu, jedoch durch die deutsche Offenlegungsschrift 44 45 975 (NK5) in Verbindung mit dem Fachwissen nahegelegt.
10Die Verteidigung des Streitpatents in der Fassung der erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Hilfsanträge sei zulässig. Der Gegenstand von Patentanspruch 3 in der Fassung von Hilfsantrag 1* gehe nicht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus und sei patentfähig. Die Erfindung sei für den Fachmann, ein Team aus einem Ingenieur der Fachrichtung Fahrzeugtechnik und einem Ingenieur der Elektrotechnik, so deutlich und vollständig offenbart, dass er sie ausführen könne.
11II. Die angefochtene Entscheidung hält der Überprüfung im Berufungsrechtszug stand.
121. Zu Recht ist das Patentgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der Beklagten erhobene Schiedseinrede der Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nicht entgegensteht.
13a) Die Frage, ob die Entscheidung über den Rechtbestand eines Patents Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sein kann, ist bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden. In der Literatur wird sie unterschiedlich beurteilt.
14Zum Teil wird unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien die Auffassung vertreten, Streitigkeiten über die Nichtigerklärung oder Zurücknahme von Patenten könnten nicht wirksam zum Gegenstand einer Schiedsvereinbarung gemacht werden (MünchKomm.ZPO/Münch, 6. Aufl. 2022, § 1030 Rn. 34; Voit in Musielak/Voit, ZPO, 21. Aufl. 2024 Rn. 3; Schütze/Thümmel, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 7. Aufl. 2021, S. 212; Bartenbach, Patentlizenz- und Know-how-Vertrag, 7. Aufl. 2013 Rn. 3065). Die in Bezug genommenen Materialien führen hierzu aus, solche Verfahren beträfen Rechte, die kraft Verwaltungsakt erteilt worden seien und die deshalb nicht der Disposition der Beteiligten im Wege von Vereinbarungen unterlägen. Über diese Rechte sei deshalb durch richterliches Gestaltungsurteil zu entscheiden, das nicht nur zwischen den Parteien, sondern gegenüber jedermann wirke (BT-Drucks. 13/5274 S. 35).
15Nach einer Gegenansicht, der die Beklagte beitritt, können die Parteien auch die Entscheidung über den Rechtsbestand eines Patents zum Gegenstand einer Schiedsvereinbarung machen (siehe etwa Berger, RiW 2001, 7, 12; Ruess, SchiedsVZ 2010, 23 f.; Wolf/Eslami in: BeckOK ZPO, 54. Edition, , § 1030 Rn. 5; Geimer in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2023, § 1030 Rn. 14; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, 7. Aufl. 2005, Kap. 4 Rn. 11; Baumann, Patentstreitigkeiten vor Schiedsgerichten, 2008, S. 239 f.; Holzner, Die objektive Schiedsfähigkeit von Immaterialgüterrechtsstreitigkeiten, 2001, S. 110 f.; Kaneko, EU-Einheitspatent und Schiedsverfahren, 2018, S. 232 f.). Komme das Schiedsgericht zu dem Ergebnis, dass das Patent keinen Bestand habe, habe diese Entscheidung zwar nicht unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung, wie sie der Nichtigerklärung eines Patents durch ein staatliches Gericht zukomme, die im Patentregister vermerkt werde (§ 30 Abs. 1 PatG), sondern wirke nur inter partes. Die Schiedsvereinbarung könne jedoch weitergehend vorsehen, dass der Patentinhaber für diesen Fall verpflichtet sei, gegenüber dem Patentamt auf das betreffende Patent zu verzichten, wodurch das Patent seine Wirkung auch erga omnes verliere.
16b) Die Frage bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Die Beurteilung des Rechtsbestands ist nicht Gegenstand der von den Parteien getroffenen Schiedsabrede.
17aa) Nach § 1040 Abs. 1 ZPO kann das Schiedsgericht über die eigene Zuständigkeit und im Zusammenhang hiermit über das Bestehen oder die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung auch insoweit entscheiden, als seine Befugnis zur Beurteilung des Bestands eines Patents in Rede steht.
18Aufgrund des Teilschiedsspruchs vom steht bindend fest, dass das Schiedsgericht nicht befugt ist, die Beklagte zur Stellung eines Löschungsantrags zu verpflichten.
19Mit diesem Schiedsspruch hat das Schiedsgericht die Anträge der Klägerin auf Feststellung, dass das Schiedsgericht unter bestimmten Voraussetzungen für die Beurteilung des Rechtsbestands zuständig ist und die Beklagte gegebenenfalls zum vollständigen oder teilweisen Widerruf des Schutzrechts verpflichten kann, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Schiedsvereinbarung der Parteien keine Regelung enthält, die dem Schiedsgericht solche Befugnisse einräumt.
20Diese Entscheidung steht gemäß § 1055 ZPO einem rechtskräftigen gerichtlichen Urteil gleich.
21Die Entscheidung kann wie jeder Schiedsspruch mit einem Antrag auf gerichtliche Aufhebung gemäß § 1059 ZPO angefochten werden (, NJW 2002, 3031, 3032). Ein solcher Antrag ist innerhalb der in § 1059 Abs. 3 ZPO normierten Frist nicht gestellt worden.
22bb) Der zuvor ergangene Teilschiedsspruch vom enthält keine hierzu in Widerspruch stehende Entscheidung.
23In diesem Teilschiedsspruch hat das Schiedsgericht unter anderem einen Antrag der Beklagten zurückgewiesen, mit dem diese sinngemäß die Feststellung beantragt hat, dass das Schiedsgericht nicht befugt sei, sie zu einem Antrag auf Löschung der Vertragsschutzrechte zu verpflichten. Zur Begründung hat es ausgeführt, der von der Klägerin gestellte Antrag, die Beklagte zu verpflichten, die Löschung der Schutzrechte zu beantragen, sei entgegen der Auffassung der Beklagten schiedsfähig. Mit der Frage, ob die Entscheidung über die Löschung und damit über den Rechtsbestand des Streitpatents zum Gegenstand des Schiedsvertrags gehört, hat sich das Schiedsgericht in diesem Teilschiedsspruch nicht befasst.
24Vor diesem Hintergrund ist der Teilschiedsspruch vom dahin auszulegen, dass darin nur über die Schiedsfähigkeit einer Verpflichtung, die Löschung der Vertragsschutzrechte zu beantragen, entschieden wurde, nicht aber über die im Teilschiedsspruch vom bindend entschiedene Frage, ob ein solches Begehren zum Gegenstand des Schiedsvertrags gehört.
25cc)Ob der Teilschiedsspruch vom sich auch zu der Frage verhält, inwieweit das Schiedsgericht befugt ist, die Beklagte zur Erklärung eines Verzichts auf Vertragsschutzrechte mit Wirkung inter partes zu verpflichten, bedarf keiner abschließenden Entscheidung.
26(1) Die im Teilschiedsspruch vom angestellte Erwägung, entgegen der Auffassung der Schiedsbeklagten (hiesige Klägerin) könne ihrem dort gestellten Antrag nicht als minus ein Anspruch auf einen Verzicht auf Schutzrechte inter partes entnommen werden, lässt nicht eindeutig erkennen, ob das Schiedsgericht einen solchen Anspruch als ebenfalls nicht von der Schiedsvereinbarung gedeckt oder lediglich als nicht im Verfahren geltend gemacht angesehen hat. Im zuletzt genannten Fall fehlte es insoweit an einer bindenden Entscheidung über die Zulässigkeit.
27(2) Wie der Teilschiedsspruch insoweit zu verstehen ist, bedarf keiner abschließenden Entscheidung.
28Aus den überzeugenden Argumenten, mit denen das Schiedsgericht eine Befugnis verneint hat, die Beklagte zur Stellung eines Löschungsantrags zu verpflichten, ergibt sich, dass auch keine Befugnis besteht, sie zur Erklärung eines Verzichts mit Wirkung inter partes zu verpflichten. Das Vorbringen der Beklagten hierzu, insbesondere ihr Hinweis auf die mit einer Klärung des Rechtsbestands im Schiedsverfahren möglicherweise verbundenen Kostenvorteile, rechtfertigen keine abweichende Beurteilung.
292. Im Ergebnis zutreffend hat das Patentgericht das Streitpatent für nichtig erklärt, soweit es über die Fassung nach Hilfsantrag 1.2 hinausgeht. Das Streitpatent hat auch in der Fassung der erstmals im zweiten Rechtszug gestellten Anträge A und B keinen Bestand.
30a) Zum Gegenstand des Streitpatents und zur Auslegung von Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung wird auf die Ausführungen des Patentgerichts in Abschnitt II. der Entscheidungsgründe Bezug genommen, denen der Senat beitritt.
31b) Die Verteidigung des Streitpatents in der Fassung der erstmals im zweiten Rechtszug gestellten Anträge A und B ist zulässig.
32Das Patentgericht hat Hilfsantrag 1* als zulässig angesehen und sachlich beschieden. Würde dieser Hilfsantrag weiterhin verfolgt, wäre seine Zurückweisung als verspätet im Berufungsverfahren daher ausgeschlossen (, GRUR 2015, 976 - Einspritzventil).
33Der nunmehr als Hauptantrag gestellte Anspruchssatz A unterscheidet sich von Hilfsantrag 1* lediglich dadurch, dass er die dortigen Patentansprüche 6, 30, 32 und 33, die das Patentgericht als nicht rechtsbeständig angesehen hat, nicht umfasst. Dadurch hat sich die Nummerierung insoweit geändert, als der nebengeordnete Anspruch 28 nach Hilfsantrag 1* jetzt Anspruch 27 ist.
34Der hilfsweise hierzu gestellte Antragssatz B ist auf die nebengeordneten Vorrichtungs- und Verfahrensansprüche beschränkt.
35Danach sind die Voraussetzungen für eine Zulassung der neuen Anträge im Berufungsrechtszug erfüllt. Die Antragsänderung ist sachdienlich, zudem können die geänderten Anträge auf Tatsachen gestützt werden, die der Senat seiner Verhandlung und Entscheidung nach § 117 PatG zugrunde zu legen hat.
36c) Das Patentgericht hat das Streitpatent teilweise für nichtig erklärt, soweit sein Gegenstand über die Fassung nach dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1.2 hinausgeht. In der Fassung des angefochtenen Urteils umfasst das Streitpatent die nebengeordneten Vorrichtungsansprüche 1, 2 und 4 sowie die nebengeordneten Verfahrensansprüche 26, 27 und 29 in der Fassung nach dem erstinstanzlichen Hilfsantrag 1*. Soweit damit ihre Nichtigkeitsklage abgewiesen ist, nimmt die Klägerin diese Entscheidung ausdrücklich hin.
37Danach ist im Berufungsrechtszug lediglich darüber zu entscheiden, ob die nebengeordneten Patentansprüche 3 und 27 in der Fassung der Berufungsanträge rechtsbeständig sind.
38d) Patentanspruch 3 in der Fassung des als Hauptantrag gestellten Antrags A schlägt eine Bremsanlage vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen (Änderungen gegenüber Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung sind hervorgehoben):
1 Bremsanlage, aufweisend:
1.1 eine Betätigungseinrichtung und
1.2 eine Steuer- und Regeleinrichtung.
2 Die Steuer- und Regeleinrichtung steuert anhand der Bewegung und/oder Position der Betätigungseinrichtung mindestens eine elektromotorische Antriebsvorrichtung, wobei
3 Die Antriebsvorrichtung verstellt einen Kolben (1) eines Kolben-Zylinder-Systems über eine nicht-hydraulische Getriebevorrichtung, so dass sich in einem Arbeitsraum des Kolben-Zylinder-Systems ein Druck einstellt.
4 Der Arbeitsraum ist über eine Druckleitung mit einer Radbremse in Verbindung.
5 Zwischen einem Bremszylinder der Radbremse und dem Arbeitsraum des Kolben-Zylinder-Systems ist mindestens ein Ventil angeordnet.
6 Die Steuer- und Regeleinrichtung öffnet das mindestens eine Ventil zum Druckab- oder Druckaufbau im Bremszylinder.
7 Die Steuer- und Regeleinrichtung regelt die Druckänderung in den Radbremsen ein
7.1 durch Auswertung der Druckvolumenkennlinie der entsprechenden Radbremsen
7a über den Kolbenweg
39e) Einige Merkmale bedürfen der Erläuterung.
40aa) Nach den Feststellungen des Patentgerichts ist es fachüblich, dass im Arbeitsraum eines elektromotorisch angetriebenen Kolben-Zylinder-Systems ein Vordruck eingestellt werden kann, auf dessen Basis eine nachfolgende Bremsregelung erfolgt. Diese zutreffende Beurteilung greifen die Parteien nicht an.
41Dem liegt zugrunde, dass der Druck im Hauptbremszylinder nicht allein durch die Bewegung oder Position der Betätigungseinrichtung beeinflusst wird, also etwa durch die Betätigung des Bremspedals durch den Fahrer des Kraftfahrzeugs. In die Steuerung der elektromotorischen Antriebsvorrichtung können vielmehr weitere Faktoren einfließen. Merkmalsgruppe 12 sieht insoweit vor, dass in Abhängigkeit vom Reibbeiwert ein Vordruck eingestellt werden kann. Bei gleicher Betätigung des Bremspedals durch den Fahrer kann sich danach, je nach Reibbeiwert, ein unterschiedlicher Vordruck im Hauptbremszylinder ergeben.
42Dieser Druck beeinflusst wiederum den Druck in den Bremszylindern der Radbremsen. Die zur Betätigung der zwischen dem Hauptbremszylinder und den Bremszylindern der Radbremsen angeordneten Ventile (Merkmal 5) benötigte Energie hängt unter anderem davon ab, wie hoch die Druckdifferenz zwischen Hauptbremszylinder und Radbremszylinder ist.
43bb) Die nachstehend abgebildete Figur 7 zeigt beispielhaft die Bremsregelung bei unterschiedlichen Reibbeiwerten. Der Reibbeiwert (Reibungskoeffizient), der hier mit µ bezeichnet ist, gibt das Verhältnis von Reibungskraft zur Anpresskraft zwischen Reifen und Fahrbahn an. Der Reibbeiwert ist etwa bei trockener Straße hoch, bei vereister Fahrbahn niedrig.
44Der Vordruck im Hauptzylinder ist durch die gestrichelte Linie 91 dargestellt. Die durchgezogenen Linien zeigen den Druckverlauf bei hohem Reibbeiwert (links) und bei niedrigem Reibbeiwert (rechts). Dabei sind die Druckabbaugradienten pab/dt und die Druckaufbaugradienten pau/dt dargestellt.
45Wie die Beschreibung erläutert, hängt der Druckaufbaugradient vom Differenzdruck zum Vordruck ab. Insbesondere bei Regelung mit niedrigem Druckniveau, wie sie bei einem niedrigen Reibbeiwert angezeigt ist, könne ein hoher Differenzdruck und damit ein hoher Druckaufbaugradient auftreten. Eine schnelle Taktung der Magnetventile zum treppenförmigen Druckaufbau könne zu Druckschwingungen führen, die in der Figur 7 mit den wellenförmigen Linien 92a und 93a angedeutet sind. Dies sei nachteilig, weil es erhebliche Geräusche verursache und sogar auf das Radverhalten einwirken könne.
46Demgegenüber wird in der Streitpatentschrift in Figur 7a die Situation dargestellt, die sich nach der Lehre des Streitpatents ergibt.
47Danach wird - entsprechend Merkmal 12.2 - bei geringerem Reibbeiwert ein Vordruck 91a eingestellt, der niedriger ist als der Vordruck 91 bei hohem Reibbeiwert. Dies hat zur Folge, dass die Differenz zwischen dem Druckverlauf bei niedrigem Reibbeiwert und dem aktuellen Vordruck geringer ist als bei der in Figur 7 dargestellten Konstellation. Wie die Beschreibung erläutert und in der mündlichen Verhandlung mit den Parteien erörtert wurde, kann dadurch elektrische Energie gespart werden (Abs. 71).
48f) Der Gegenstand von Patentanspruch 3 in der mit dem Hauptantrag verteidigten Fassung ist ausgehend von NK5 durch den Stand der Technik nahegelegt.
49aa) Das Patentgericht hat ausgeführt, dass NK5 den Gegenstand von Patentanspruch 3 im Umfang der Merkmale 1 bis 7a vorwegnimmt oder nahelegt. Auf diese Ausführungen, die der Senat teilt, wird Bezug genommen.
50bb) Die gegenüber der erteilten Fassung von Patentanspruch 1 neu eingefügten Merkmale 2a und 2b sind nicht geeignet, eine erfinderische Tätigkeit zu begründen.
51Dies ergibt sich aus den von der Berufung nicht angegriffenen Ausführungen des Patentgerichts, wonach der Einsatz eines bürstenlosen Motors, der von Endstufen über drei Stränge von einem Microcontroller gesteuert wird und eine kleine Zeitkonstante aufweist, als Antriebsvorrichtung fachüblich ist.
52cc) Auch die in Merkmalsgruppe 12 vorgesehene Regelung des Vordrucks in Abhängigkeit vom Reibbeiwert begründet keine erfinderische Tätigkeit.
53(1) Wie bereits ausgeführt wurde, entspricht Merkmal 12.1 nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Patentgerichts fachüblicher Vorgehensweise und ist daher nicht geeignet, eine erfinderische Tätigkeit zu begründen.
54(2) Anders als die Klägerin meint, ist es durch NK5 allerdings nicht nahegelegt, die Steuer- und Regeleinrichtung gemäß Merkmal 12.2 so auszubilden, dass bei einem hohem Reibbeiwert ein erster Vordruck, bei niedrigem Reibbeiwert ein zweiter, niedrigerer Vordruck eingestellt wird.
55NK5 sieht zwar vor, dass der Bremsdruck in Abhängigkeit vom Bremsanforderungssignal sowie nach weiteren Kriterien, etwa dem Radschlupf, aufgebaut, radindividuell im Radbremszylinder gehalten und abgebaut werden kann (Sp. 2 Z. 6 bis 12). Dies vermittelt die Erkenntnis, dass es vorteilhaft sein kann, wenn der Bremsdruck nicht allein durch die Bewegung oder Position des Bremspedals und damit vom Verhalten des Fahrers bestimmt wird, sondern weitere Faktoren einfließen können.
56NK5 gibt jedoch keinen konkreten Hinweis darauf, wie dies geschieht, und spricht insbesondere nicht die Möglichkeit an, den Vordruck im Hauptzylinder des Kolben-Zylinder-Systems in Abhängigkeit vom Reibbeiwert einzustellen.
57(3) Die Klägerin zeigt auch nicht auf, dass ein Vorgehen gemäß Merkmal 12.2 zum maßgeblichen Zeitpunkt dem allgemeinen Fachwissen entsprach.
58Dem hierzu vorgelegten Auszug eines einschlägigen Fachbuchs (Breuer/Bill, Bremsenhandbuch, 2. Aufl. 2003, NK15) ist lediglich zu entnehmen, dass bei einem Anti-Blockier-System (ABS) vorgesehen werden kann, in einer Situation, in der der Reibbeiwert der beiden Vorderräder unterschiedlich groß ist, zur Begrenzung der Bremskraftdifferenz zwischen beiden Rädern die Einstellung so vorzunehmen, dass beide Vorderräder auf kleinem Reibbeiwert (Kraftschlussbeiwert) bremsen. Daraus ergibt sich kein Hinweis darauf, den Vordruck im Hauptzylinder bei unterschiedlichen Reibbeiwerten unterschiedlich hoch einzustellen.
59(4) Ausgehend von NK5 ist eine Ausgestaltung der Bremsanlage gemäß Merkmal 12.2 jedoch in Verbindung mit den weiteren von der Klägerin erstmals im Berufungsrechtszug vorgelegten Entgegenhaltungen nahegelegt.
60(a) Der Vortrag der Klägerin, die Merkmale der Merkmalsgruppe 12 seien durch die US-amerikanische Patentanmeldung 2001/0020800 (NK17), die japanische Patentschrift 2000-309257 (NK16) und die US-amerikanische Patentanmeldung 2002/027388 (NK18) nahegelegt, ist nicht wegen Verspätung unberücksichtigt zu lassen.
61(aa) Dieser erstmals im Berufungsrechtszug gehaltene Vortrag ist neu.
62Die Beklagte hat den damaligen Hilfsantrag 7A, der Patentanspruch 3 in der Fassung von Hilfsantrag 1* bzw. Antrag A entspricht, erst mit Schriftsatz vom in ihrer Stellungnahme zum qualifizierten Hinweis des Patentgerichts vorgelegt. Das Patentgericht hat vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung keine vorläufige Einschätzung zum Rechtsbestand dieses Anspruchs geäußert. Die Klägerin hat im ersten Rechtszug zur Patentfähigkeit lediglich eingewandt, der so beschriebene Gegenstand sei durch die im Stand der Technik beschriebenen ABS-Systeme bzw. Antischlupfdruckregelungen, wie sie etwa aus der deutschen Offenlegungsschrift 195 00 433 (NK3) oder NK5 bekannt seien, nahegelegt.
63(bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dieser Vortrag jedoch nicht nach § 117 PatG i.V.m. § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert.
64Die Beklagte hat mit dem bereits erwähnten Schriftsatz nicht nur Hilfsantrag 7A, sondern weitere Hilfsanträge vorgelegt, die zum Teil technische Aspekte betreffen, die in den bisher gestellten Hilfsanträgen nicht berührt waren. Dies gab der Klägerin Anlass zu prüfen, ob der Gegenstand dieser Hilfsanträge rechtsbeständig ist, wofür ihr vom Patentgericht lediglich eine Frist von gut einem Monat eingeräumt wurde. Dies hat die Klägerin auch nicht verkannt, wie ihr fristgerecht eingereichter Schriftsatz vom erkennen lässt. Angesichts der Breite des damaligen neuen Vorbringens der Beklagten und des Umstands, dass der Klägerin für die Erwiderung hierauf lediglich ein Zeitraum von gut einem Monat zur Verfügung stand, kann es indessen nicht ohne weiteres als nachlässig angesehen werden, dass sie Entgegenhaltungen hierzu nicht schon in erster Instanz vorgelegt hat.
65(b) Wie oben bereits aufgezeigt wurde, spricht NK5 die Möglichkeit an, den Bremsdruck bei der dort beschriebenen Anordnung einer entsprechend ausgebildeten Bremsanlage radindividuell im Radbremszylinder einzustellen, sodass er in Abhängigkeit vom Bremsanforderungssignal sowie gegebenenfalls weiterer Kriterien, wie Radschlupf, Bremsdruck aufgebaut, gehalten und abgebaut werden kann.
66Dies gab Anlass, nach Möglichkeiten zu suchen, wie eine solche Regelung des Bremsdrucks verwirklicht werden kann.
67(aa) Eine Anregung, den Vordruck in Abhängigkeit von den Straßenverhältnissen und damit vom Reibbeiwert einzustellen, ergab sich aus NK16.
68NK16 geht davon aus, dass vorausschauende Bremssteuerungen im Stand der Technik bekannt seien. Dabei handle es sich um Systeme, die etwa für den Fall, dass ein mögliches Hindernis im Fahrweg erkannt und ein definierter Sicherheitsabstand unterschritten werde, automatisch einen bestimmten Bremseinstelldruck bereitstellten. Dieser sorge, wenn ein Bremsvorgang erforderlich werde, für einen kürzeren Bremsweg (NK16Ü Abs. 3). Da ein so gesteuerter Bremsvorgang vom Fahrer als unangenehm empfunden werden könne, wenn er versehentlich ausgelöst werde, schlägt NK16 als Verbesserung vor, die Bremssteuerung mit einem Bremsobjektdetektor auszustatten, um eine besser angepasste Bremsvorladung zu ermöglichen (Abs. 6). Diese Bremsvorladung wird im Hauptzylinder der Bremsanlage bewirkt (Abs. 39, 46, 48). Als besonders vorteilhaft beschreibt NK16 eine Bremssteuerung, bei der der Bremsdruckgenerator so konfiguriert ist, dass der Wert der Bremsvorladung auch in Abhängigkeit vom Reibbeiwert bestimmt wird, und zwar in der Weise, dass die Bremsvorladung umso größer ist, je höher der Reibungskoeffizient der Straßenoberfläche ist (Abs. 14).
69Die in NK16 angesprochene Bremsvorladung dient dazu, die Bremsanlage auf einen möglicherweise bevorstehenden Bremsvorgang vorzubereiten. Dies geschieht dadurch, dass im Hauptzylinder bereits ein gewisser Druck aufgebaut wird, der einen eventuell eingeleiteten Bremsvorgang verkürzt. Dies entspricht dem Vordruck im Kolben-Zylinder-System gemäß Merkmalsgruppe 12.
70Der Umstand, dass NK16 einen Vakuumbremskraftverstärker beschreibt, steht dem nicht entgegen. Die Übertragung der in NK16 offenbarten Regelung des Bremsdrucks in Abhängigkeit vom Reibbeiwert von einem Vakuumbremskraftverstärker auf eine Bremsanlage mit elektromotorischer Steuerung des Kolbens des Hauptbremszylinders geht über handwerkliches Können nicht hinaus.
71(bb) Eine Anregung, den Vordruck in Abhängigkeit von den Straßenverhältnissen und damit vom Reibbeiwert unterschiedlich einzustellen, ergab sich ferner aus NK17.
72NK17 betrifft einen Bremsdruckgeber (braking pressure source device) mit einem Hauptzylinder, bei dem ein Druckkolben (pressurizing piston) teilweise eine Druckkammer und eine dieser gegenüberliegende Gegendruckkammer definiert, so dass der Druck in der Gegendruckkammer auf den Druckkolben wirkt (Abs. 3). Die beiden Kammern sind durch einen Verbindungskanal miteinander verbunden. Der Druck im Hauptzylinder soll dabei durch den Bremsdruckgeber und durch eine Steuerventileinrichtung beeinflusst werden (Abs. 7).
73Als drittes Ausführungsbeispiel sieht NK17 ein Bremssystem vor, das so ausgelegt ist, dass ein erstes Drucksteuerventil bei niedrigem Reibbeiwert vollständig geöffnet wird. Diese Öffnung des Ventils führt dazu, dass in der Gegendruckkammer ein Hilfsdruck erzeugt wird. Dies wiederum bewirkt, dass beim Betätigen des Bremspedals die Anstiegsrate des Drucks im Hauptzylinder geringer ist als im normalen Bremsbetrieb (Abs. 324). Bei niedrigem Reibbeiwert der Straßenoberfläche könne der Druck im Hauptbremszylinder damit geringer sein als sonst (Abs. 327 f.). Dies ermöglicht nach NK17 eine komplexe (intricate) Steuerung der Bremswirkung (brake operation force).
74Auch NK17 beschreibt damit eine Bremsanlage, bei der die Steuer- und Regeleinrichtung so ausgebildet ist, dass bei niedrigerem Reibbeiwert ein niedrigerer Vordruck eingestellt werden kann als bei hohem Reibbeiwert.
75Daraus ergab sich die Anregung, die in NK5 beschriebene Bremsanlage in entsprechender Weise zu modifizieren, um eine noch differenziertere Bremswirkung zu erzielen.
76(cc) Schließlich ergab sich auch aus NK18 eine Anregung, die in NK5 beschriebene Vorrichtung um eine Regelung nach Merkmal 12.2 zu ergänzen.
77NK18 beschreibt eine Bremsanlage, bei der in einem Hauptzylinder in Abhängigkeit von der Kraft, mit der ein Bremspedal betätigt wird, ein hydraulischer Druck eingestellt werden kann. Zusätzlich ist eine Steuervorrichtung vorgesehen, mit der dieser hydraulische Druck erhöht werden kann (Abs. 2). Ob eine solche Erhöhung des Drucks erfolgt, kann nach NK18 unter anderem vom aktuellen Reibbeiwert der Fahrbahnoberfläche abhängig sein (Abs. 36). Bei niedrigem Reibbeiwert unterbleibt eine Erhöhung des hydraulischen Drucks im Hauptzylinder, was dazu führt, dass auch der Druck in den Radbremszylindern geringer ist (Abs. 43).
78Auch NK18 gibt damit einem Hinweis darauf, dass der im Hauptzylinder des Kolben-Zylindersystems geregelte Vordruck bei höherem Reibbeiwert auf einen höheren Wert eingestellt wird als bei einem niedrigeren Reibbeiwert.
79g) Für Patentanspruch 27 in der Fassung des Antrags A, der einen Verfahrensanspruch mit korrespondierenden Merkmalen zum Gegenstand hat, ergibt sich keine andere Beurteilung.
80h) Sind damit der Gegenstand der Patentansprüche 3 und 27 in der Fassung des als Hauptantrag gestellten Antrags A nicht patentfähig, bleibt die Berufung hinsichtlich des Hauptantrags ohne Erfolg.
81i) Da das Streitpatent in der hilfsweise verteidigten Fassung nach Antrag B Patentanspruch 3 in der Fassung des Antrags A umfasst, kann die Berufung auch insoweit keinen Erfolg haben.
82III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:141124UXZR124.22.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-82228