Leitsatz
Im Rahmen der Inkongruenzanfechtung ist die verfrühte Leistung im Ganzen zurück zu gewähren, nicht nur in Höhe des Nutzungsvorteils (Zwischenzinses).
Gesetze: § 131 Abs 1 Nr 1 InsO, § 143 Abs 1 InsO
Instanzenzug: OLG Braunschweig Az: 9 U 103/22 Urteilvorgehend LG Braunschweig Az: 6 O 6048/20
Tatbestand
1Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom am eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. Co. KG (im Folgenden: Schuldnerin). Das Luftfahrt-Bundesamt der Beklagten leitete bis zum insgesamt 314 Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin ein, weil diese die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (Fluggastrechte-VO) ergebenden Fluggastrechte nicht gewahrt und die nach der Fluggastrechte-VO erforderlichen Maßnahmen unterlassen habe. In diesem Zeitpunkt lagen nach Angaben des Luftfahrt-Bundesamtes weitere 403 Anzeigen von Fluggästen vor, auf die hin noch keine Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin eröffnet worden waren. In Bezug auf diese Anzeigen vereinbarte die Schuldnerin mit dem Luftfahrt-Bundesamt am , dass insgesamt 295 Bußgeldbescheide im Gesamtumfang von 2.308.000 € zuzüglich Gebühren und Auslagen ergehen würden, mit denen die Altfälle abgegolten sein sollten. Die Schuldnerin erklärte sich bereit, diese Bußgeldbescheide zu akzeptieren und keine Einsprüche einzulegen. In der Folge ergingen die angekündigten Bußgeldbescheide, auf welche die Schuldnerin zuzüglich Gebühren und Auslagen Zahlungen in Höhe von insgesamt 2.424.432,50 € leistete.
2Der Kläger hat den Abschluss der Vereinbarung vom sowie die daraufhin von der Schuldnerin geleisteten Zahlungen als unentgeltliche Leistungen angefochten. Hilfsweise hat er die im letzten Monat vor Insolvenzantragstellung fast ausschließlich vor Fälligkeit geleisteten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der inkongruenten Deckung angefochten. Er hat die Beklagte auf Rückgewähr sämtlicher Zahlungen nebst Zinsen in Anspruch genommen. Das Landgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision "gemäß Ziffer IV der Gründe teilweise zugelassen". Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich von Zahlungen über 428.578,50 € aus dem letzten Monat vor dem Insolvenzantrag nebst Zinsen.
Gründe
3Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
4Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung unter anderem in NZI 2024, 418 veröffentlicht ist, hat im Wesentlichen ausgeführt, es könne im Rahmen des § 134 InsO dahinstehen, ob die Vereinbarung vom einen rechtlich bindenden Vergleich darstelle. Hätte die Vereinbarung keinen bindenden Charakter, wären die angefochtene Zustimmung hierzu keine Rechtshandlung im Sinne des § 129 InsO und die anschließenden Zahlungen auf die ergangenen Bußgeldbescheide nicht unentgeltlich erfolgt. Wäre der Vergleich bindend, aber rechtswidrigen Inhalts, stellten die Zustimmung hierzu und die darauf geleisteten Zahlungen ebenfalls keine unentgeltliche Leistung dar. Es lägen jedoch anfechtbare Zahlungen aus dem kritischen Zeitraum des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor, die die Beklagte nicht zu dieser Zeit habe fordern können. Der nach der Verkehrssitte "unverdächtige" Zeitraum für Zahlungen vor Fälligkeit sei auf drei Tage zu beschränken. Nach der Betrachtungsweise des Klägers seien demzufolge die ab dem erfolgten Zahlungen in Höhe von insgesamt 428.578,50 € vorzeitig geleistet. Inhalt des Rückzahlungsanspruchs sei die Erstattung der hierdurch der Masse entzogenen Nutzungsvorteile, wozu der Kläger indes keinen Vortrag gehalten habe.
II.
5Die Revision, mit der der Kläger nach Rücknahme seiner weitergehenden Revision nur noch die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils in Bezug auf Zahlungen über 428.578,50 € aus dem letzten Monat vor dem Insolvenzantrag nebst Zinsen erreichen will, ist zulässig. Das Berufungsgericht hat die Revision - wie sich mit hinreichender Klarheit aus den Urteilsgründen ergibt - nur in Bezug auf die Frage der Höhe des Rückgewähranspruchs aus § 131 Abs. 1 InsO im Fall verfrühter Zahlungen zugelassen. Die Zulassung betrifft mithin die Höhe des Insolvenzanfechtungsanspruchs aus vorzeitig geleisteten Zahlungen ab dem in Höhe von insgesamt 428.578,50 €.
III.
6Im Umfang der Zulassung hat die Revision des Klägers Erfolg, weil die Ausführungen des Berufungsgerichts einer rechtlichen Überprüfung in Bezug auf die Rechtsfolge der inkongruenten Deckung nicht standhalten.
71. Aufgrund der wirksam auf die Anspruchshöhe beschränkten Zulassung der Revision (vgl. dazu , VersR 2015, 1428 Rn. 13) sind die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Anspruchsgrund der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Der Senat weist darauf hin, dass - von Sonderfällen wie der Zahlung zur Ausnutzung eines Skontoabzugs (vgl. , WM 2010, 1129 Rn. 5) abgesehen - die den Anspruchsgrund tragende Überlegung des Berufungsgerichts, die kongruente Zeitspanne einer verfrühten Leistung sei im Hinblick auf § 675s Abs. 1 Satz 1 BGB in den seit dem gültigen Fassungen um zwei Tage auf nunmehr höchstens drei Tage zu verkürzen (in diesem Sinne auch MünchKomm-InsO/Kayser/Freudenberg, 4. Aufl., § 131 Rn. 11; HK-InsO/Thole, 11. Aufl., § 131 Rn. 18; Schoppmeyer in Prütting/Bork/Jacoby, InsO, 2014, § 131 Rn. 77), gerechtfertigt erscheint.
82. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Masse aufgrund der verfrühten Zahlungen nicht nur um entgangene Nutzungsvorteile geschmälert, weshalb die geleisteten Zahlungen, welche die Beklagte gemäß § 138 Abs. 2 und 3 ZPO nicht bestritten hat, als solche zurückzugewähren sind.
9a) Allerdings hat der Senat es als Frage der Zurechenbarkeit angesehen, ob die wenige Tage nach Zahlung eingetretene Fälligkeit einer Anfechtung in voller Höhe des Zahlungsbetrags entgegensteht (, NZI 2005, 497, 498; sich anschließend OLG Dresden, Urteil vom - 13 U 368/18, juris Rn. 62). Nach überwiegender Auffassung im Schrifttum unterliegt die verfrühte Leistung grundsätzlich im Ganzen, auch als Geldzahlung, nicht etwa nur hinsichtlich des Zwischenzinses, der Anfechtung (MünchKomm-InsO/Kayser/Freudenberg, 4. Aufl., § 131 Rn. 42; Schoppmeyer in Prütting/Bork/Jacoby, InsO, 2014, § 131 Rn. 67; Uhlenbruck/Borries/Hirte, InsO, 15. Aufl., § 131 Rn. 10; im Ansatz ebenso Jaeger/Henckel, InsO, 1. Aufl., § 131 Rn. 27, aber nur Zwischenzins als Nachteil, wenn Fälligkeit zu einer Zeit eingetreten ist, in der die Zahlung als kongruente Deckung nicht hätte angefochten werden können). Nach der Gegenauffassung soll nur Nutzungsersatz ("Zwischenzins") für die Zeitspanne zu zahlen sein, in der der Anfechtungsgegner keinen Anspruch auf die Leistung hatte (Bartels in Prütting/Bork/Jacoby, InsO, 2024, § 129 Rn. 206).
10b) Die überwiegende Auffassung im Schrifttum trifft zu. Hierfür sprechen Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Sinn und Zweck der Anfechtungsvorschriften. Rechtsfolge des § 131 Abs. 1 InsO ist die Anfechtbarkeit der Rechtshandlung. Eine Unterscheidung nach der Art der Inkongruenz sieht das Gesetz nicht vor. Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners weggegeben ist, muss gemäß § 143 Abs. 1 InsO zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden. Die Inkongruenzanfechtung einer verfrühten, nicht zu der Zeit zu beanspruchenden Leistung zielt darauf ab, einem so bevorzugten Gläubiger den Vorteil wieder zu nehmen und dadurch die Gläubigergleichbehandlung herbeizuführen (Schoppmeyer in Prütting/Bork/Jacoby, InsO, 2014, § 131 Rn. 62a). Der Vorteil für den Gläubiger aber besteht in der ganzen Leistung. Der Abzug des Zwischenzinses behebt für sich allein die Inkongruenz der verfrühten Zahlung nicht (Jaeger/Henckel, KO, 9. Aufl., § 30 Rn. 217). Auch kann der Umstand, dass die vorzeitig getilgte Schuld doch noch vor Eröffnung durch Vereinbarung fällig geworden sein mag, die Anfechtbarkeit nicht rückwirkend zu beseitigen.
IV.
11Das angefochtene Urteil ist danach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts ist zurückzuweisen, soweit die Beklagte zur Zahlung von 428.578,50 € nebst Zinsen an den Kläger verurteilt worden ist.
12Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 ZPO; für die Revisionsinstanz in Verbindung mit § 516 Abs. 2 ZPO unter Berücksichtigung des geringeren Gegenstandswerts für die Terminsgebühr.
SchoppmeyerRöhlSelbmann
WeinlandKunnes
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:141124UIXZR13.24.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-81914