BSG Beschluss v. - B 1 KR 47/23 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 122 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 139 Abs 4 ZPO, § 160 Abs 2 ZPO, § 160 Abs 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Sozialgericht für das Saarland Az: S 45 KR 360/20 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht für das Saarland Az: L 2 KR 67/20 Urteil

Gründe

1I. Die Klägerin ist mit ihrem Begehren auf Versorgung mit einer operativen Mammareduktionsplastik (MRP) bei der Beklagten ohne Erfolg geblieben. Das SG hat die Beklagte hingegen zur Gewährung der Versorgung verurteilt. Nach erfolgter Selbstbeschaffung hat das LSG die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, der Klägerin die Kosten für die durchgeführte Brustoperation zu erstatten: Die Beklagte habe die Versorgung der Klägerin mit der MRP zu Unrecht abgelehnt. Die besondere Rechtfertigung für die Operation an einem für sich genommen gesunden Körperteil zur Behandlung einer anderweitigen Erkrankung liege hier vor. Nach Carstens/Schröter, Die Mammareduktionsplastik - orthopädische Aspekte, MedSach 2015, 76 f, liege das Problem der Makromastie/Gigantomastie in der ständigen und damit gleichbleibenden Zugbelastung und damit Veränderung der "funktionellen" Statik des Schultergürtels und des oberen Rückens, dem der Organismus mit einem vermehrten Muskeltonus im Sinne der Autoregulation kompensierend entgegenwirke. Die Problematik habe eine gewisse Ähnlichkeit mit der Entwicklung funktioneller, myostatischer Rückenbeschwerden im Nacken und oberen Rumpfbereich bei Arbeitnehmern, die den ganzen Tag still und unbewegt vor einem Bildschirm ihre berufliche Tätigkeit mit vornüber geneigtem Oberkörper verrichteten. Allein auf diesem Weg entstünden in großer Zahl sog "Cervical-Thorakal-Syndrome", die sehr ähnliche Beschwerden beinhalteten, wie sie von den Frauen mit übergroßen Brüsten beklagt würden. Eine Erkrankung in diesem Sinne liege bei der Klägerin vor (Urteil vom ).

2Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

3II. 1. Die zulässige Beschwerde der Beklagten ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den die Beklagte entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet.

4a) Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Die Beklagte rügt vorliegend die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) dadurch, dass das LSG seine Einschätzung maßgeblich auf medizinische Fachliteratur gestützt habe, ohne vorher seine hierfür erforderliche Sachkunde zur Kenntnis zu geben.

5b) Der gerügte Gehörsverstoß liegt auch vor.

6Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Regelung erfasst einen Teilbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention; vgl - juris RdNr 9 mwN). Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524 = juris RdNr 11; BSG, aaO; jeweils mwN). Das Gericht muss die Beteiligten über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen und Beweisergebnisse vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich zu äußern (vgl - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Wenn ein Gericht - wie hier - eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Das Gericht muss darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und was diese beinhaltet, damit die Beteiligten dazu Stellung nehmen und ihre Prozessführung hierauf einrichten können (vgl - juris RdNr 20 f mwN; - juris RdNr 7 ff; - juris RdNr 7; - juris RdNr 5).

7Das LSG hat danach vorliegend eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es seine Entscheidung, insbesondere hinsichtlich der Definition des Begriffs der "schweren Erkrankung der Wirbelsäule" und der Kausalitätsbeziehung zwischen Brustgewicht und muskuloskelettalen Funktionseinschränkungen von Halswirbelsäule und Schultergürtel, ganz maßgeblich auf eine von ihm selbst unter Auswertung der medizinischen Literatur entwickelte Beurteilung gestützt hat, also letztlich auf eigene Sachkunde.

8Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, worauf sich diese gründet. Jedenfalls ist zugunsten der Beklagten zu unterstellen, dass ein Hinweis auf den Aufsatz von Carstens/Schröter (Die Mammareduktionsplastik - orthopädische Aspekte, MedSach 2015, 76) und seine Bedeutung für die Urteilsfindung des LSG während der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt ist.

9Das LSG hat weder einen Hinweis auf die beabsichtigte Heranziehung des Aufsatzes von Carstens/Schröter nach § 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO protokolliert noch nachträglich im Urteil dokumentiert (vgl auch - BGHZ 164, 166, 172 f), obwohl es sich hierbei um einen wesentlichen Vorgang gehandelt hat, wenn ein solcher Hinweis denn ergangen sein sollte. Denn vom Gericht in der mündlichen Verhandlung zu erteilende Hinweise, um einer Überraschungsentscheidung vorzubeugen, sind wesentliche Vorgänge. Eine ausdrückliche Vorschrift, dass solche Umstände aktenkundig zu machen sind, fehlt im SGG. § 139 ZPO ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anzuwenden (vgl - SozR Nr 21 zu § 103 SGG), auch nicht dessen Absatz 4. Gleichwohl hat das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren wesentliche Vorgänge zu dokumentieren, wenn sie erst in der mündlichen Verhandlung den Beteiligten zur Kenntnis gebracht werden. Dies folgt unmittelbar aus § 160 Abs 2 ZPO. Unterbleibt dies im Protokoll und auch noch im Urteil und ist unklar, ob die Dokumentation des wesentlichen Vorgangs nur versehentlich unterblieben ist oder gar nicht stattgefunden hat, genügt der Vortrag des die Verfahrensrüge erhebenden Beteiligten, dass ihm dieser Vorgang nicht bekannt ist. Hierdurch wird der andere Beteiligte nicht unangemessen benachteiligt. Denn er hat die Möglichkeit, nach § 122 SGG iVm § 160 Abs 4 ZPO zu beantragen, dass ein wesentlicher Vorgang, den das Gericht nicht von sich aus protokolliert, in das Protokoll aufgenommen wird.

10Da das Protokoll über einen Hinweis schweigt und das Berufungsurteil sich nicht dazu verhält, dass die Protokollierung nur versehentlich unterlassen wurde, ist der Verfahrensfehler hinreichend belegt. Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil - wie die Beklagte hinreichend vorgetragen hat - nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die von ihr dann vorgebrachten Einwendungen zu einer anderen Entscheidung bzw weiterer Beweiserhebung hätte kommen müssen.

112. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:141124BB1KR4723B0

Fundstelle(n):
XAAAJ-81656