BGH Urteil v. - X ZR 47/23

Leitsatz

1. Das Revisionsgericht hat die örtliche Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts zu überprüfen, wenn diese von der Auslegung einer klärungsbedürftigen Frage des Unionsrechts abhängt und das Berufungsgericht eine eigene Pflicht zur Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union deshalb verneint hat, weil es die Revision zugelassen hat (Ergänzung zu , BGHZ 153, 82 = NJW 2003, 426).

2. Die internationale und örtliche Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Fall 2 Brüssel Ia ist gegeben, wenn ein Verbraucher einen Reiseveranstalter nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags vor dem Gericht des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, und die Vertragspartner beide in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässig sind, das Reiseziel aber im Ausland liegt (Anschluss an , NJW 2024, 2823 Rn. 29 ff. - FTI).

Gesetze: § 545 Abs 2 ZPO, Art 267 Abs 3 AEUV, Art 18 Abs 1 Alt 2 EUV 1215/2012

Instanzenzug: Az: 8 U 804/22vorgehend LG Mainz Az: 9 O 393/21 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte auf teilweise Rückzahlung des Reisepreises in Anspruch.

2Der Kläger buchte bei der Beklagten, die ein Reisebüro betreibt, eine Kreuzfahrt von Bremerhaven nach Island und zu den Färöer-Inseln vom 8. bis zum Preis von 17.998 Euro. Die Kreuzfahrt wurde am Abend des abgebrochen.

3Der Kläger hat die im Bezirk des Landgerichts Hanau ansässige Beklagte vor dem für seinen Wohnsitz zuständigen Landgericht Mainz auf Zahlung von 5.961,64 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Anspruch genommen.

4Das Landgericht hat die Klage wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben.

5Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

6Der Senat hat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-774/22 ausgesetzt. Der Gerichtshof hat in jener Sache durch Urteil vom entschieden. Die Parteien haben daraufhin einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.

Gründe

7Die Revision hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

8I.    Das Berufungsgericht ist dem Landgericht darin beigetreten, dass die örtliche Zuständigkeit für die Klage nicht auf Art. 18 Abs. 1 Fall 2 der Verordnung Brüssel Ia gestützt werden könne, weil es an dem für die Anwendung der Verordnung erforderlichen Auslandsbezug fehle.

9II.    Dies hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

101.    Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts unterliegt im Streitfall trotz der Regelung in § 545 Abs. 2 ZPO der revisionsrechtlichen Überprüfung.

11a)    Nach § 545 Abs. 2 ZPO kann die Revision nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen oder verneint hat.

12Eine Überprüfung der erstinstanzlichen Zuständigkeit ist danach auch dann ausgeschlossen, wenn das Berufungsgericht die Revision zur Klärung dieser Frage zugelassen hat (vgl. nur , NJW-RR 2011, 72 Rn. 2).

13b)    Der Bundesgerichtshof hat zu der im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung in § 549 Abs. 2 ZPO a.F. entschieden, dass die örtliche Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt, wenn daneben die internationale Zuständigkeit in Streit ist und beide Zuständigkeiten von derselben Voraussetzung abhängen (, BGHZ 134, 127 = NJW 1997, 397, juris Rn. 13 ff.).

14Diese Konstellation ist, wie die Revisionserwiderung zu Recht geltend macht, im Streitfall nicht gegeben.

15Im Streitfall hängt die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht davon ab, ob Art. 18 Abs. 1 Brüssel Ia anwendbar ist. Wenn diese Frage mangels des erforderlichen Auslandsbezuges zu verneinen wäre, ergäbe sich die internationale Zuständigkeit schon daraus, dass beide Parteien in Deutschland ansässig sind.

16c)    Die Frage, ob das Landgericht gemäß Art. 18 Abs. 1 Brüssel Ia örtlich zuständig ist, unterliegt im Streitfall aber deshalb der revisionsrechtlichen Überprüfung, weil sie bei Einlegung des Rechtsmittels einer Entscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union bedurfte.

17aa)    Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterliegt die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ungeachtet des § 545 Abs. 2 ZPO der revisionsrechtlichen Überprüfung.

18Dieses Gesetzesverständnis trägt dem Umstand Rechnung, dass der internationalen Zuständigkeit deutlich größeres Gewicht zukommt als der örtlichen, sachlichen, funktionellen oder sonstigen innerstaatlichen Zuständigkeit. Es gewährleistet zudem die Wahrung der Pflichten zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (, BGHZ 153, 82 = NJW 2003, 426, juris Rn. 13 f.).

19bb)    Im Streitfall ist eine revisionsrechtliche Überprüfung unter dem zuletzt genannten Aspekt geboten.

20Anders als unter der Geltung des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ; dazu , BGHZ 153, 82 = NJW 2003, 426, juris Rn. 14) können Fragen zur Auslegung der Verordnung Brüssel Ia dem Gerichtshof der Europäischen Union zwar schon durch das erst- oder zweitinstanzliche Gericht vorgelegt werden. Die in Art. 267 Abs. 3 AEUV normierte Regelung, dass das in letzter Instanz entscheidende Gericht zur Vorlage verpflichtet ist, liefe aber leer, wenn der Bundesgerichtshof eine gebotene Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union nicht herbeiführen könnte, nachdem das Berufungsgericht eine eigene Pflicht zur Einholung einer Vorabentscheidung deshalb verneint hat, weil es die Revision zugelassen hat. In der genannten Konstellation ist eine revisionsrechtliche Überprüfung der klärungsbedürftigen Zuständigkeitsfrage deshalb zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts geboten.

21Im Streitfall hat das Berufungsgericht die Frage, ob Art. 18 Abs. 1 Fall 2 Brüssel Ia in der Konstellation des Streitfalls anwendbar ist, zu Recht als klärungsbedürftig angesehen. Eine eigene Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union hat es im Hinblick auf die Zulassung der Revision verneint. Folglich ist eine revisionsrechtliche Überprüfung der Frage geboten, um die erforderliche Klärung herbeizuführen.

222.    Das Landgericht Mainz ist für die Klage gemäß Art. 18 Abs. 1 Fall 2 Brüssel Ia örtlich zuständig.

23Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass die internationale und örtliche Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Fall 2 Brüssel Ia gegeben ist, wenn ein Verbraucher einen Reiseveranstalter nach Abschluss eines Pauschalreisevertrags vor dem Gericht des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat, und die Vertragspartner beide in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässig sind, das Reiseziel aber im Ausland liegt (, NJW 2024, 2823 Rn. 29 ff. - FTI).

24Im Streitfall ist die Zuständigkeit danach gegeben, weil der Kläger im Bezirk des Landgerichts Mainz seinen Wohnsitz hat und das Ziel der gebuchten Pauschalreise im Ausland liegt.

25III.    Die Sache ist gemäß § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

26Das Berufungsgericht wird gemäß § 538 Abs. 1 ZPO über die Begründetheit der Klage zu entscheiden haben. Ein Antrag auf Zurückverweisung an das Landgericht gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO ist ausweislich des angefochtenen Urteils nicht gestellt.

Bacher                         Hoffmann                         Deichfuß

             Kober-Dehm                           Marx

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:261124UXZR47.23.1

Fundstelle(n):
OAAAJ-81646