BVerwG Beschluss v. - 6 B 8/24

Übermittlung von Sozialdaten von Jugendamt an Ausländerbehörde

Leitsatz

Die Befugnis zur Datenübermittlung zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X erfasst auch Sozialdaten erwachsener Ausländer und ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Jugendliche oder Heranwachsende im Raum stehen.

Instanzenzug: OVG Lüneburg Az: 11 LC 273/21 Beschlussvorgehend Az: 10 A 215/21

Gründe

I

1Der vollziehbar ausreisepflichtige Kläger nigerianischer Staatsangehörigkeit begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Datenübermittlung zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde des Beklagten.

2Der Kläger hat eine 2019 geborene, im Bundesgebiet lebende Tochter deutscher Staatsangehörigkeit. Zur Prüfung der nachträglichen Befristung seiner Ausweisung ersuchte die Ausländerbehörde das Jugendamt um Auskunft zum Umgang des Klägers mit seiner Tochter. Daraufhin übermittelte das Jugendamt Informationen zur Umsetzung eines zwischen dem Kläger und der Kindsmutter geschlossenen gerichtlichen Vergleichs über das Umgangsrecht sowie eigene Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung. Die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Übermittlung gerichtete Klage des Klägers ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben.

3Das Oberverwaltungsgericht hat zur Begründung des Berufungsurteils im Wesentlichen ausgeführt, § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X decke auch die Übermittlung von Sozialdaten erwachsener Ausländer. Dem Gesetzeswortlaut sei keine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Jugendliche zu entnehmen. Vielmehr solle der Ausländerbehörde der Zugriff auf die fachliche Expertise der Jugendämter ermöglicht werden. Dies sei auch erforderlich, wenn über den Aufenthalt des ausländischen Elternteils eines Jugendlichen zu entscheiden sei. Ferner lasse die Vorschrift die Übermittlung einer Prognose des Jugendamtes über die Entwicklung sozialer Beziehungen des Ausländers zu, selbst wenn mit den Sozialdaten des Ausländers zusammenhängende Daten von dessen Familienangehörigen erfasst würden.

4Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Beschwerde, der der Beklagte entgegentritt.

II

51. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren und Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten ist abzulehnen, weil seine Beschwerde aus den im Folgenden dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 und § 121 Abs. 1 ZPO).

62. Die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.

7Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache nur zu, wenn eine konkrete fallübergreifende und bislang höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist. Ein die Revisionszulassung rechtfertigender Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig im Sinne der Entscheidung des Berufungsgerichts beantwortet werden kann (stRspr; vgl. zuletzt 6 B 71.23 - N&R 2024, 168 Rn. 7).

8Nach § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X ist eine Übermittlung von Sozialdaten eines Ausländers, soweit sie im Einzelfall auf Ersuchen der mit der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden nach § 87 Abs. 1 AufenthG erforderlich ist, mit der Maßgabe zulässig, dass über die Angaben nach § 68 hinaus für die Entscheidung über den weiteren Aufenthalt oder die Beendigung des Aufenthalts eines Ausländers, bei dem ein Ausweisungsgrund nach den §§ 53 bis 56 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt, nur Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten mitgeteilt werden können.

9a. Die Beschwerde wirft als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf:

"Ist die Vorschrift des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. d) SGB X entsprechend dem historischen Willen des Gesetzgebers nur auf Auskünfte des Jugendamtes über das zu erwartende zukünftige Verhalten eines jugendlichen Ausländers anwendbar, oder kann diese Vorschrift beliebig auch auf Sachverhalte erwachsener Ausländer bis hin zu Sachverhalten, die auch deren deutsche Verwandte umfassen, ausgedehnt werden?"

10Diese auf die Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X zielende Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, denn sie lässt sich auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens aufgrund des Gesetzeswortlauts eindeutig beantworten.

11Wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind weder dem Wortlaut noch der Systematik des Gesetzes Anhaltspunkte für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X auf jugendliche oder heranwachsende Ausländer zu entnehmen. Der Bundesrat hatte im Gesetzgebungsverfahren die Schaffung von Übermittlungsbefugnissen zwischen Jugendämtern und Ausländerbehörden angeregt, da gutachterliche Stellungnahmen der Jugendämter bis dato von den Ausländerbehörden nicht ohne Weiteres zur Entscheidungsfindung herangezogen werden konnten (BT-Drs. 11/6541 S. 9). Auch wenn den Gesetzgebungsorganen bei der Neuregelung die Fallgruppe der Ausweisung jugendlicher Ausländer vor Augen stand, rechtfertigt dieser Regelungsanlass nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers keine dahingehende Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Denn die Regelung ist ganz allgemein darauf gerichtet, Ausländerbehörden im Rahmen ihnen obliegender Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, von denen auch Jugendliche (un-)mittelbar betroffen sein können, Zugriff auf das Wissen und die Expertise der Jugendämter zu eröffnen. Mit Blick auf die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG und das potentielle Gewicht aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch für Dritte wie die minderjährigen Kinder eines Ausländers bedürfen Entscheidungen darüber der Ermittlung einer fundierten Tatsachengrundlage (vgl. - InfAuslR 2008, 347 Rn. 11 ff.). Damit die Ausländerbehörden diesem im Verfassungsrecht wurzelnden Aufklärungsauftrag sachgerecht nachkommen können, spricht auch der Normzweck dafür, den Anwendungsbereich des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X weit zu fassen und nicht auf Fälle zu beschränken, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen jugendliche oder heranwachsende Ausländer im Raum stehen.

12b. Als grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet die Beschwerde ferner die Frage, ob die Datenübermittlungsbefugnis aus § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X auch untrennbar mit den Daten eines Ausländers verbundene Daten deutscher Staatsbürger umfasst. Diese Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt. Personenbezogene Daten eines Ausländers im Sinne von § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X a. F. können auch Daten sein, die von einem Familienangehörigen des Ausländers herrühren oder Informationen über diese enthalten; maßgeblich ist eine materielle Betrachtungsweise. Die Daten müssen in unmittelbarem Zusammenhang mit der zu treffenden Entscheidung der Ausländerbehörde stehen. Das ist der Fall, wenn sie zumindest auch Informationen zu der Person enthalten, hinsichtlich der das aufenthaltsrechtliche Verfahren geführt wird ( 5 B 59.89 - juris Rn. 2 ff.). An dieser zu § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X a. F. ergangenen Rechtsprechung ist festzuhalten. Denn weder hat die Beschwerde dargelegt noch ist ersichtlich, dass mit der Neuformulierung der Rechtsfolge durch den Gesetzgeber (§ 71 Abs. 2 SGB X a. F.: "Eine Offenbarung personenbezogener Daten eines Ausländers ..."; nunmehr § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X: "Eine Übermittlung von Sozialdaten eines Ausländers ...") eine inhaltliche Einschränkung des Kreises potentiell mitbetroffener Dritter auf nichtdeutsche Staatsangehörige verbunden sein sollte.

13c. Schließlich besitzt die Frage

"Kann auf § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. d) SGB X auch die Datenübermittlung von Daten deutscher Staatsbürger gestützt werden, die den Stand und die Prognose einer Vater-Kind-Beziehung betreffen?"

keine grundsätzliche Bedeutung, denn sie beantwortet sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Oben wurde bereits ausgeführt, dass § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X mit dem Ziel in das Gesetz aufgenommen worden ist, die Einführung jugendamtlicher Stellungnahmen in aufenthaltsrechtliche Verfahren zu ermöglichen. Mit dem Wortlaut der Vorschrift "... Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten ..." hat der Gesetzgeber die Übermittlungsbefugnis explizit auf Verhaltensprognosen erstreckt. Um eine solche Prognose zutreffend stellen zu können, muss das Jugendamt sämtliche ihm bekannte Informationen zu dem Ausländer berücksichtigen, einschließlich seiner Beziehungen zu Verwandten. Es liegt auf der Hand, dass die Staatsangehörigkeit als rechtliches Statusmerkmal betroffener Dritter im Kontext der Bestimmung der Reichweite der sozialrechtlichen Übermittlungsbefugnis von Sozialdaten gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X ohne Bedeutung ist.

143. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO). Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:211124B6B8.24.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-81516