BGH Urteil v. - 2 StR 521/23

Leitsatz

1.    Hat eine Revision der Nebenklage zum Schuldspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, die Feststellungen über das nach § 353 Abs. 2 StPO gebotene Maß aufzuheben, soweit diese auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis beruhen.

2.    Liegt einer Verständigung im Sinne des § 257c StPO eine Vereinbarung über den Gesamtstrafenausspruch zugrunde, ist bei einem Erfolg der aufgrund von § 400 Abs. 1 StPO beschränkten Nebenklagerevision regelmäßig eine Aufhebung der gesamten Verurteilung geboten, wenn der nicht angefochtene Teil des Urteils auf dem verständigungsbasierten Geständnis des Angeklagten beruht. Die eingetretene vertikale Teilrechtskraft steht dem nicht entgegen.

Gesetze: § 257c Abs 4 StPO, § 353 Abs 1 StPO, § 353 Abs 2 StPO, § 400 Abs 1 StPO, Art 6 Abs 1 S 1 MRK

Instanzenzug: Az: 2 StR 521/23 Beschlussvorgehend LG Gießen Az: 2 KLs - 502 Js 16604/21

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe und in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Bedrohung mit einem Verbrechen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt, dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und eine Entscheidung über den Vorwegvollzug getroffen. Soweit es das Tatgeschehen zum Nachteil des Nebenklägers betrifft (Fall II.2 der Urteilsgründe), hat das Landgericht einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch des Totschlags angenommen und das Handeln des Angeklagten insoweit allein als gefährliche Körperverletzung bewertet. Die weitere dem Urteil zugrundeliegende Tat (Fall II.1 der Urteilsgründe) betrifft den revidierenden Nebenkläger nicht. Mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision wendet sich der Nebenkläger gegen die Annahme des Rücktritts im Fall II.2 der Urteilsgründe, wobei er sowohl die zugrundeliegende Beweiswürdigung als auch die rechtliche Würdigung des Landgerichts angreift. Das Rechtsmittel hat Erfolg und führt zur Aufhebung der gesamten Verurteilung des Angeklagten K.     .

I.

2Das Landgericht hat – soweit für den Rechtsmittelangriff von Bedeutung – folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. Am gegen 22.27 Uhr fuhr der Angeklagte mit einem Audi A4 in Begleitung des Mitangeklagten B.     sowie des         S.       und des                 I.       auf den Parkplatz eines Gymnasiums in B.       . Dort hielten sich zu diesem Zeitpunkt 20 bis 25 Personen, unter anderem der Nebenkläger, der vormalige Nebenkläger A.      sowie deren Bekannte Ҫ.        , Y.       und Ҫö.       auf. Ferner waren mehrere Fahrzeuge dort abgestellt.

4a) Während B.     , S.         und I.       ausstiegen, blieb der Angeklagte zunächst im Fahrzeug. B.      ging auf die Gruppe zu und rief in deren Richtung: „Jetzt kriegt ihr auf die Fresse, jetzt werdet ihr sterben!“ und „Wer will Stress, wer will Probleme, wer will sterben?“. Er trat dicht an sie heran, wobei er insbesondere Ҫ.        nahekam und Grimassen zog. Ҫ.        fühlte sich bedroht und versetzte B.      einen Stoß, woraufhin dieser zu Boden ging.

5b) Als der Angeklagte dies sah, stieg er aus, wobei er eine Schusswaffe in den Händen hielt.

6aa) Er hielt die Waffe A.      dicht an die Stirn, so dass dieser, wie vom Angeklagten gewollt, befürchtete, der Angeklagte werde ihn erschießen.

7bb) Ҫ.         und Y.      stürzten auf den Angeklagten zu, um diesem die Schusswaffe zu entreißen. Es entstand eine Rangelei, in deren Verlauf der Angeklagte und Ҫ.       zu Boden gingen. Als der Angeklagte wieder allein die Gewalt über die Schusswaffe hatte, richtete er sich auf und versuchte, Schüsse aus der Waffe abzugeben. In welche Richtung die Schussversuche erfolgten, war nicht feststellbar. Aufgrund einer Ladehemmung traten nur Funken aus der Waffe aus, wobei zwei Patronen infolge der Nachladebewegung des Angeklagten nicht abgefeuert aus der Waffe herausfielen. Danach funktionierte die Schusswaffe wieder.

8Der Angeklagte zielte nunmehr auf den rechten Oberschenkel des Nebenklägers und schoss diesem – ohne weitere Vorwarnung – aus einer Entfernung von drei bis fünf Metern, wie von ihm gewollt, in den oberen rechten Oberschenkel. Das Projektil trat in die Vorderseite des Oberschenkels ein und aus dessen Rückseite wieder aus. Der Angeklagte wusste, dass durch den Schuss in den Oberschenkel die Gefahr einer Verletzung bestand, die bei dem Nebenkläger einen lebensbedrohlichen Blutverlust hätte hervorrufen können. Dies nahm er billigend in Kauf.

9Nachdem der Nebenkläger zunächst zu Boden gefallen war, richtete er sich schnell wieder auf und stand einige Zeit an dem Ort der Schussabgabe, wobei er annahm, dass der Angeklagte lediglich mit einer Platzpatrone geschossen habe. Nach einer Weile bemerkte er jedoch, dass er sich nicht mehr gut aufrecht halten konnte, und versteckte sich deshalb hinter einem in der Nähe abgestellten Fahrzeug, um sich dort hinzulegen. Dort hatte auch Ҫ.       Schutz gesucht.

10In der Zeit von der Schussabgabe bis zu dem Verbergen hinter dem Fahrzeug hatte der Angeklagte den Nebenkläger im Blick und erkannte, dass dieser nicht tödlich verletzt war. Von einem ihm möglichen weiteren Schuss auf den Nebenkläger nahm er Abstand.

11cc) Stattdessen gab er mindestens drei Schüsse in Richtung anderer Ziele ab. Ein Schuss traf, wie von ihm billigend in Kauf genommen, das Fahrzeug des Geschädigten Ko.      . Bei einem weiteren Schuss zielte der Angeklagte in Richtung des Oberkörpers des A.     , verfehlte diesen jedoch. Danach gab er einen weiteren Schuss ab, ohne dass festgestellt werden konnte, wohin er dabei zielte. Die Strafkammer konnte nicht ausschließen, dass der Angeklagte erkannt hatte, dass A.       von dem ersten Schuss nicht getroffen worden war, und von weiteren Schüssen auf A.      Abstand nahm, obwohl ihm solche möglich gewesen wären.

12dd) Der Angeklagte kehrte nunmehr zu dem Audi A4 zurück. Als er im Begriff war einzusteigen, bemerkte er Ҫö.     , der sich aufgrund der Geschehnisse hinter einem der parkenden Fahrzeuge versteckt hatte. Aus einer Entfernung von circa zwei bis drei Metern hielt er die Schusswaffe in Höhe von dessen Kopf und fragte ihn, ob er „Stress haben und sterben“ wolle. Als H.      hinzukam, richtete der Angeklagte die Waffe einen Augenblick lang auf diesen, schwenkte dann aber wieder zurück in Richtung des Ҫö.      . Aufgrund des Vorhalts der Waffe entstand bei diesem, wie vom Angeklagten gewollt, der Eindruck, der Angeklagte werde die Schusswaffe nunmehr gegen ihn einsetzen.

13Der Angeklagte kehrte daraufhin zu dem Fahrzeug zurück und fuhr mit B.     , S.        und I.       von dem Schulparkplatz herunter. Unmittelbar danach fuhren sie jedoch wieder auf das Schulgelände und riefen aus dem Fahrzeug nach dem sich verborgen haltenden Nebenkläger und den Zeugen. Schließlich verließen sie das Schulgelände in Richtung Innenstadt.

142. Das Landgericht hat seine Überzeugung neben anderen Beweismitteln auch auf das Teilgeständnis des Angeklagten gestützt, das dieser auf der Grundlage einer Verständigung abgegeben hat. Es ist davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB zum Nachteil des Nebenklägers schuldig gemacht habe. Von einem versuchten Totschlag zu dessen Nachteil sei er freiwillig zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StGB). Daneben habe er A.      mit einem Verbrechen bedroht (§ 241 Abs. 2 StGB), indem er diesem eine geladene Schusswaffe an den Kopf gehalten habe. Hinzu träten die Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) am Fahrzeug des Ko.      sowie das vorsätzliche Führen einer Schusswaffe (§ 52 Abs. 3 Nr. 2a WaffG), wobei das Waffendelikt die zunächst real konkurrierenden Tatbestände zur Tateinheit verklammere.

II.

15Das Rechtsmittel des Nebenklägers hat Erfolg.

161. Die Revision ist zulässig. Der Nebenkläger erstrebt, wie sich der Revisionsbegründung hinreichend deutlich entnehmen lässt, neben dem aufgrund der Tathandlung des Angeklagten zu seinem Nachteil erfolgten Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung dessen tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten Totschlags, einer gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO zum Anschluss berechtigenden Gesetzesverletzung (§ 400 Abs. 1 StPO).

172. Die Revision ist auch begründet. Die Wertung der Strafkammer, der Angeklagte sei vom Versuch des Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers strafbefreiend zurückgetreten, ist nicht rechtsfehlerfrei begründet.

18a) Ein strafbefreiender Rücktritt vom unbeendeten Versuch liegt vor, wenn der Täter freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB). Das Aufgeben der Tat setzt den Entschluss voraus, auf deren Durchführung im Ganzen und endgültig zu verzichten. Nicht aufgegeben ist die Tat dagegen, solange der Täter mit dem Versuch ihrer Begehung lediglich vorübergehend innehält (vgl. , Rn. 8).

19Ein Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn der Versuch fehlgeschlagen ist. Dies ist der Fall, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit dem bereits eingesetzten oder anderen naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt oder wenn er subjektiv die Vollendung nicht mehr für möglich hält (st. Rspr.; vgl. etwa , Rn. 22). Maßgeblich dafür ist – wie für die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch – das Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (sogenannter Rücktrittshorizont, vgl. BGH, Beschlüsse vom – 2 StR 147/21, StV 2024, 94 Rn. 9, und vom – 2 StR 206/23, Rn. 5; jeweils mwN). Bei einem mehraktigen Geschehen, innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlichen Erfolgs gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters nach jedem Einzelakt an. Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen, ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (st. Rspr.; vgl. , Rn. 8, und vom – 2 StR 213/15, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, fehlgeschlagener 9; Beschlüsse vom – 2 StR 317/21, Rn. 12, und vom – 2 StR 147/21, StV 2024, 94 Rn. 9; jew. mwN).

20b) Hieran gemessen ist ein strafbefreiender Rücktritt von einem versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil des Nebenklägers auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. hierzu , Rn. 11; Beschluss vom ‒ 2 StR 119/22, NStZ-RR 2023, 185, 186; jew. mwN) nicht tragfähig belegt.

21aa) Soweit die Strafkammer die Annahme eines Rücktritts des Angeklagten vom versuchten Tötungsdelikt zum Nachteil des Nebenklägers damit begründet hat, der Angeklagte hätte „in der Zeit unmittelbar nach dem Schuss auf den Oberschenkel auf den Nebenkläger D.      weitere – lebensbedrohliche – Schüsse […] abfeuern können“, habe hiervon jedoch abgesehen, hat die Strafkammer allein auf eine theoretische Handlungsmöglichkeit des Angeklagten zur weiteren Schussabgabe abgestellt. Diese belegt jedoch nicht, dass der Angeklagte in diesem Moment tatsächlich den Entschluss fasste, von weiteren lebensgefährlichen Schüssen auf den Nebenkläger abzusehen. Derartiges hat der Angeklagte nach seiner von der Strafkammer dargestellten Einlassung nicht behauptet. Vielmehr wird dort lediglich geschildert, er habe nach dem gezielten Schuss auf den Oberschenkel des Nebenklägers noch dreimal geschossen, einmal auf das Fahrzeug des Ko.       und zweimal in Richtung Boden.

22Ein Entschluss des Angeklagten, von weiteren mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Verletzungshandlungen zum Nachteil des Nebenklägers abzusehen, ergibt sich auch nicht aus der Gesamtheit der Urteilsgründe. Denn diese schweigen zur Handlungsmotivation des Angeklagten. Es erschließt sich ohne weitere Erklärung nicht, warum es bei dem Angeklagten zu einem mehrfachen Vorsatzwechsel gekommen sein soll, da er nach den Feststellungen nach dem Entschluss, von weiteren Verletzungshandlungen zum Nachteil des Nebenklägers abzusehen, jedenfalls einen Schuss mit bedingtem Tötungsvorsatz auf A.      abgab. Hinzu tritt, dass sich der Darstellung nicht entnehmen lässt, worauf die weitere Feststellung beruht, der Angeklagte habe den Nebenkläger durchgehend, das heißt, „von der Schussabgabe bis zu dem Verbergen hinter dem Pkw“, im Blick gehabt.

23bb) Die Strafkammer hat bei der Prüfung des Rücktritts zudem allein auf den Zeitpunkt unmittelbar nach der Schussabgabe auf den Nebenkläger abgestellt. Den Feststellungen zufolge feuerte der Angeklagte anschließend jedoch noch „mindestens drei weitere Projektile Richtung anderer Ziele“ ab. Es hätte daher der Erörterung bedurft, ob zumindest einige dieser Schüsse mit dem auf den Nebenkläger abgegebenen Schuss aus Sicht des Angeklagten ein einheitliches Geschehen bildeten. In diesem Fall würde sich der Rücktrittshorizont in entscheidungserheblicher Weise nach hinten verschieben.

24(1) Die enge zeitliche Abfolge der Schüsse an einer Örtlichkeit spricht dafür, dass die betreffenden Handlungen – unabhängig von der konkurrenzrechtlichen Bewertung – durch die subjektive Zielsetzung des Angeklagten dergestalt zu einer Einheit verbunden sind, dass es für die Beurteilung der Frage des Rücktrittshorizonts allein auf dessen Vorstellung nach Abschluss des letzten – mit festgestelltem Tötungsvorsatz ausgeführten – Teilaktes ankommt (vgl. , StV 2024, 94 Rn. 11).

25(2) Hätte die Strafkammer diesen Zeitpunkt nach Abgabe des ersten Schusses auf A.      der Beurteilung des Rücktrittshorizonts zugrunde gelegt, hätte sie eingehend erörtern müssen, ob der Angeklagte es zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch für möglich hielt, den Nebenkläger durch weitere mit bedingtem Tötungsvorsatz geführte Schüsse zu treffen, denn dieser hatte sich im Laufe des Tatgeschehens hinter einem Auto versteckt. Dabei wären neben den Lichtverhältnissen zur Tatzeit um 22.27 Uhr und der Schussabgabe auf A.      auch das dieser Schussabgabe nachfolgende Verhalten des Angeklagten gegenüber Ҫö.      , die nochmalige Rückkehr des Angeklagten mit dem von ihm gesteuerten Fahrzeug sowie die Rufe des Angeklagten und seiner Unterstützer aus dem Fahrzeug nach dem sich verborgen haltenden Nebenkläger und den weiteren Zeugen in den Blick zu nehmen gewesen.

26c) Die aufgezeigten Rechtsfehler entziehen der für sich genommen rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers und damit dem gesamten Schuldspruch im Fall II.2 der Urteilsgründe die Grundlage.

27d) Der Senat hebt die Feststellungen im Fall II.2 der Urteilsgründe insgesamt auf. Soweit diese von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind, hindert das den Feststellungen zugrundeliegende verständigungsbasierte Geständnis des Angeklagten ihre Aufrechterhaltung.

28aa) Zwar wäre im Grundsatz nach § 353 Abs. 2 StPO bei einer Aufhebung wegen sachlich-rechtlicher Mängel (vgl. , BGHSt 14, 30, 35; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 353 Rn. 15) von einer Aufhebung der objektiven und subjektiven Feststellungen zur tateinheitlichen Verurteilung wegen unerlaubten Führens einer Schusswaffe in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Bedrohung mit einem Verbrechen abzusehen, da diese von der rechtsfehlerhaften Begründung eines strafbefreienden Rücktritts vom Totschlagsversuch zum Nachteil des revidierenden Nebenklägers nicht betroffen sind.

29bb) Indes ist in den schriftlichen Urteilsgründen mitgeteilt, dass dem Verfahren eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO zugrunde liegt. Zudem beruhen die Feststellungen auch auf dem Geständnis des Angeklagten. Daher gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) die umfassende Aufhebung der Feststellungen im Fall II.2 der Urteilsgründe. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine von der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision, die allein zum Strafausspruch Erfolg hat, in Abweichung von dem revisionsrechtlichen Regelungskonzept des § 353 Abs. 1 und 2 StPO auch zur Aufhebung des Schuldspruchs mitsamt den zugrundeliegenden Feststellungen führt, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht (vgl. , BGHSt 67, 171 ff.).

30Dies folgt daraus, dass das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht an die Verständigung und damit an den dem Angeklagten im ersten Rechtsgang zugesagten Strafrahmen, der Grundlage für sein Geständnis war, nicht gebunden ist (vgl. , NStZ 2017, 373, 374; vom – 2 StR 439/20, BGHR StPO § 257c Abs. 3 Satz 2 Strafrahmen 5; vom – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37, 41, und vom – 5 StR 347/22, BGHSt 67, 171, 173; BT-Drucks. 16/12310, S. 15). Würden der Schuldspruch und die den Schuldspruch tragenden Feststellungen aufrechterhalten, müsste der Angeklagte sich jedoch an seinem im Vertrauen auf die Bindungswirkung der Verständigung (§ 257c Abs. 4 StPO) abgegebenen Geständnis festhalten lassen, obwohl er nicht durch das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO davor geschützt wäre, dass im neuen Rechtsgang eine Strafe verhängt wird, die über die ihm im ersten Rechtsgang zugesagte Strafobergrenze hinausgeht. Ein solches Ergebnis liefe dem in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK statuierten Recht auf ein faires Verfahren zuwider (vgl. , BGHR StPO § 257c Abs. 3 Satz 2 Strafrahmen 5, und vom – 5 StR 347/22, BGHSt 67, 171, 173).

31Die Aufhebung des Schuldspruchs mit den zugehörigen Feststellungen gewährleistet, dass der Angeklagte frei entscheiden kann, wie er sich bei offenem Verfahrensausgang im nächsten Rechtsgang verteidigen will, insbesondere ob er ein Geständnis ablegen möchte.

32cc) Soweit die vorstehenden Grundsätze bisher von Rechtsprechung und Literatur vornehmlich in Bezug auf Staatsanwaltsrevisionen erörtert wurden, gilt für die Nebenklagerevision unbeschadet der Beschränkung ihrer Rechtsmittelbefugnis (§ 400 Abs. 1 StPO) nichts Anderes.

33(1) Es ergibt für den Angeklagten keinen Unterschied, ob das Urteil auf die Revision der Staatsanwaltschaft oder der Nebenklage der Aufhebung unterliegt (vgl. auch SSW-StPO/Ignor/Wegner, 5. Aufl., § 257c Rn. 122; BeckOKStPO/Eschelbach, 52. Ed., § 257c Rn. 30a.5). In beiden Fällen ist er im nächsten Rechtsgang nicht durch § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO vor der Verböserung des Strafausspruchs geschützt, obwohl die Feststellungen zum Schuldspruch im Falle ihrer Aufrechterhaltung auf seinem verständigungsbasiert abgegebenen Geständnis beruhten.

34(2) Dass die Nebenklage an der Verständigung nicht beteiligt ist, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Ihre Nichtbeteiligung fußt in erster Linie darauf, dass sie nicht befugt ist, das Urteil wegen der Rechtsfolgen anzugreifen (§ 400 Abs. 1 StPO), diese aber nach § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO wesentlicher Bestandteil der Verständigung sind (vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 14; MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 78). Würde man aus den fehlenden Beteiligungsrechten der Nebenklage im Rahmen des § 257c StPO die Konsequenz ziehen, dass der Angeklagte sich bei einem zu seinen Gunsten unterlaufenen Rechtsfehler, der nicht sämtliche Feststellungen betrifft (§ 353 Abs. 2 StPO), im nächsten Rechtsgang ohne den Schutz des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO an seinem Geständnis festhalten lassen muss, käme der Nebenklage in dieser Konstellation ein größerer Einfluss auf das Verfahrensergebnis zu als der Staatsanwaltschaft.

35dd) Hieran gemessen unterfallen alle zu Fall II.2 der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen der Aufhebung.

363. Die zu Fall II.2 der Urteilsgründe dargestellten Überlegungen zum Wegfall der verständigungsbasierten Feststellungen (§ 353 Abs. 1 und 2 StPO) haben zugleich zur Folge, dass auch der von der Nebenklage nicht angegriffene Schuldspruch im Fall II.1 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen in Abweichung von § 353 Abs. 1 StPO und unter Durchbrechung der eingetretenen vertikalen Teilrechtskraft der Aufhebung unterliegt. Ist Grundlage einer Verständigung im Sinne des § 257c StPO eine Vereinbarung über den Gesamtstrafenausspruch, ist bei einem Erfolg der aufgrund von § 400 Abs. 1 StPO beschränkten Nebenklagerevision daher regelmäßig eine Aufhebung der gesamten Verurteilung geboten, sofern auch der nicht angefochtene Teil des Urteils – wie hier − auf dem verständigungsbasierten Geständnis des Angeklagten beruht.

37a) Die Aufrechterhaltung der Feststellungen und des Schuldspruchs im Fall II.1 der Urteilsgründe sowie der zugemessenen Einzelstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten hätten zur Folge, dass das Geständnis des Angeklagten aufgrund der eingetretenen Teilrechtskraft ohne weiteres zu dessen Nachteil Wirkung entfaltete. Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer könnte – was ihr erlaubt und bei der von der Nebenklage erstrebten Schuldspruchverschärfung im Fall II.2 der Urteilsgründe mit Blick auf das Gebot einer schuldangemessenen Strafe gegebenenfalls auch geboten wäre – auf eine höhere Gesamtfreiheitsstrafe als die dem Verständigungsstrafrahmen zugrundeliegende Höchststrafe erkennen.

38b) Das sich im Revisionsverfahren möglicherweise ergebende Erfordernis einer Durchbrechung der vertikalen Teilrechtskraft hat der Gesetzgeber ersichtlich nicht im Blick gehabt, als er davon ausging, dass das neue Tatgericht an eine im vorherigen Rechtsgang zustande gekommene Verständigung nicht gebunden ist (vgl. BT-Drucks. 16/12310, S. 15). Das Verwertungsverbot des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO ist hier weder direkt noch analog anwendbar (vgl. , BGHSt 67, 171, 173; Beschluss vom – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37, 44 mwN; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 42). Prozessuale Regelungen, die die Verwertung des einer Verständigung zugrundeliegenden Geständnisses in Fällen der Teilrechtskraft verhindern, sofern dem Angeklagten der Schutz des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht zu Teil wird, bestehen nicht.

39c) Dieses Regelungsdefizit führt bei einem verständigungsbereiten Angeklagten zu einem nicht auflösbaren prozessualen Dilemma. Er kann weder antizipieren, ob und inwieweit das auf einer Verständigung beruhende Urteil später von Nebenklage oder Staatsanwaltschaft angegriffen wird, noch hat er in diesem Fall eine effektive Schutzmöglichkeit hinsichtlich der drohenden vertikalen Teilrechtskraft.

40d) In dieser Situation gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, der dem Verwertungsverbot des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO zugrunde liegt, zum Schutz des Angeklagten und seines Vertrauens in den Bestand einer mit dem Gericht unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft getroffenen Verständigung den Wegfall aller die Verurteilung tragenden verständigungsbasierten Feststellungen (vgl. , BGHSt 67, 171).

41aa) Das Verbot der Verwertung eines Geständnisses für den Fall des Scheiterns einer Verständigung ist als Ausfluss des Grundsatzes des fairen Verfahrens ein Anliegen des Gesetzgebers. Dies erhellt die Entstehungsgeschichte des § 257c Abs. 4 StPO.

42Vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom (BGBl I S. 2353) – im Folgenden: Verständigungsgesetz – war die Frage nach der Verwertbarkeit eines Geständnisses im Falle des Scheiterns einer gesetzlich seinerzeit nicht geregelten Verfahrensabsprache Gegenstand intensiver Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur. Während die Rechtsprechung einem Verwertungsverbot grundsätzlich ablehnend gegenüberstand (vgl. , BGHSt 38, 102, 105, und vom – 5 StR 556/02, BGHR StPO vor § 1 faires Verhalten Vereinbarung 15; Beschluss vom – 1 StR 662/93, NStZ 1994, 196; offen gelassen in , BGHSt 42, 191, 193), waren die Stimmen in der Literatur uneinheitlich (vgl. Beulke/Satzger, JuS 1997, 1072, 1076; Herrmann, JuS 1999, 1162, 1166; Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung für Absprachen durch den Bundesgerichtshof?, 2004, S. 249 f., sowie die Nachweise in Heller, Die gescheiterte Urteilsabsprache, 2004, S. 105 f.).

43Die gegensätzlichen Ansichten traten auch im Gesetzgebungsverfahren zutage. Der Referentenentwurf vom gab keine klare Antwort auf die Frage der Verwertbarkeit eines Geständnisses im Falle der zulässigen Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Verfahrensergebnis; maßgeblich seien nach den Umständen des Einzelfalles „die von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Kriterien für Verwertungsverbote“ (RefE eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, S. 25). Der Regierungsentwurf sah demgegenüber ein Verwertungsverbot ausdrücklich vor und leitete dies aus dem Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens her (BR-Drucks. 65/09, S. 2, 18). Der Bundesrat lehnte ein Verwertungsverbot zwar ab und sprach sich zunächst für eine Verwertbarkeit aus (BR-Drucks. 65/1/09, S. 4; vgl. bereits BT-Drucks. 16/4197, S. 5, 11). Seine ablehnende Haltung konnte sich indes nicht durchsetzen (vgl. Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/12310, S. 21), so dass § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO mit dem Verständigungsgesetz in Kraft trat und seither die rechtliche Grundlage für das Verbot der Verwertung eines Geständnisses bei Entfall der Bindungswirkung an eine Verständigung bildet (vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte auch Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, Teil B., § 257c Rn. 143; MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 172).

44bb) Die Systematik der Verständigungsvorschriften und deren Sinn und Zweck gebieten ebenfalls, den Angeklagten vor der Fortwirkung seines verständigungsbasierten Geständnisses bei Wegfall der Bindungswirkung für die übrigen an der Absprache Beteiligten zu schützen.

45(1) Nach § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO entfällt die Bindung des Gerichts an eine Verständigung, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen ist. Gemäß § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO gilt Gleiches, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden (§ 257c Abs. 4 Satz 3 StPO). Nach der Konzeption des § 257c Abs. 4 StPO bedingen diese „Leistungspflichten“ sich demnach gegenseitig. Entfällt nach § 257c Abs. 4 Satz 1 oder 2 StPO die Bindung des Gerichts an eine Verständigung, hat dies daher regelmäßig eine umfassende Auflösung der Verfahrensabsprache zur Folge (vgl. KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 33). Mit der Auflösung entfallen alle im Synallagma stehenden Leistungen und Gegenleistungen (vgl. BeckOK StPO/Eschelbach, 52. Ed., § 257c Rn. 40). Eine differenzierende Betrachtung dergestalt, dass Teile der Verständigung bestehen bleiben, ist allenfalls in speziellen Einzelfällen (vgl. KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 33) möglich. Dies folgt bereits daraus, dass die Motive für die Zustimmung zu einem Verständigungsvorschlag nicht vollständig ermittelbar sind (vgl. KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, aaO).

46(2) Dieses Regelungskonzept gewährleistet, dass der Angeklagte von seiner Entscheidung, dem Verständigungsvorschlag des Gerichts zuzustimmen, nicht durch drohende Nachteile bei Entfall der Bindungswirkung abgehalten wird. Er stimmt der Verständigung grundsätzlich mit Blick auf das seitens des Gerichts mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft in Aussicht gestellte Gesamtergebnis zu. Im Gegenzug erklärt er sich bereit, die ihn betreffenden Verständigungsinhalte zu erfüllen. Dabei darf er darauf vertrauen, dass die vom Gericht zugesagten Rechtsfolgen nicht überschritten werden. Eine differenzierende Betrachtung ist hier regelmäßig nicht möglich, da nach § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO eine Vereinbarung hinsichtlich „der Strafe“ getroffen wird (vgl. MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 180). Dies gilt nicht nur, soweit der Verständigung eine Absprache über den Rahmen für eine Einzelstrafe zugrunde liegt. Vielmehr fehlt es, auch soweit der zugesagte Strafrahmen sich – wie in der Praxis häufig – ausschließlich auf eine Gesamtstrafe bezieht und zu den in diese einzubeziehenden Einzelstrafen keine gesonderten Absprachen getroffen werden, an einer Trennbarkeit des zugesagten Rechtsfolgenausspruchs. Denn bei der verständigungsbasierten Zusage eines Rahmens für die Gesamtstrafe besteht zwischen den Einzelstrafen und dem Gesamtstrafenausspruch eine Wechselwirkung, da sich die Bemessung der Einzelstrafen notwendig am zugesagten Gesamtstrafrahmen orientieren muss (vgl. auch , Rn. 7; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg, 27. Aufl., § 257c Rn. 71). Die Einhaltung des allein zugesagten Gesamtstrafrahmens ist damit die Bedingung für das mit Blick auf sämtliche Taten abgelegte Geständnis des Angeklagten.

474. Der Wegfall der Schuldsprüche zieht die Aufhebung des Maßregelausspruchs nach sich. Die Sache bedarf somit insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

48Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird im nächsten Rechtsgang die zum in Kraft getretene Neufassung des § 64 StGB mit ihren verschärften Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anzuwenden haben. Zwar belegen die Urteilsgründe eine Substanzkonsumstörung des Angeklagten. Es fehlt indes an Feststellungen zu der weiteren Voraussetzung der dauernden und schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung. Auch ist den Urteilsgründen bisher nicht zu entnehmen, dass die Taten überwiegend auf einen Hang des Angeklagten zurückgehen (vgl. hierzu , Rn. 11 mwN).

Menges                           Grube                           Schmidt

              Zimmermann                    Herold

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:110924U2STR521.23.0

Fundstelle(n):
JAAAJ-80547