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BGH Beschluss v. - XII ZB 253/24

Freiheitsentziehende Unterbringung eines Kindes: Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens vor Anhörung; Begründungserfordernis bei Unterbringung von mehr als sechs Monaten

Leitsatz

1. In Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Kindes betreffen, welches das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist das nach § 321 Abs. 1 FamFG eingeholte Sachverständigengutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 167 Abs. 3 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern.

2. Von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens kann in diesen Verfahren unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG abgesehen werden. Dem Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen (Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 661/11, FamRZ 2012, 1556).

3. Zu den Begründungsanforderungen, wenn die Unterbringung eines Minderjährigen für länger als sechs Monate genehmigt werden soll.

Gesetze: § 1631b BGB, § 164 S 2 FamFG, § 167 Abs 1 S 1 FamFG, § 167 Abs 3 FamFG, § 167 Abs 7 FamFG, § 312 Nr 1 FamFG, § 312 Nr 2 FamFG, § 319 Abs 2 S 1 FamFG, § 321 Abs 1 FamFG, § 325 Abs 1 FamFG, § 329 Abs 1 S 1 FamFG

Instanzenzug: Az: 9 UF 343/24vorgehend AG Amberg Az: 1 F 908/23

Gründe

I.

1Die im Januar 2009 geborene Betroffene wendet sich gegen die familiengerichtliche Genehmigung ihrer Unterbringung bis längstens .

2Mit einem an das Amtsgericht als Betreuungsgericht gerichteten Schreiben vom hat die Mutter der Betroffenen die Genehmigung einer Unterbringung ihrer Tochter in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses beantragt. Mit Beschluss vom hat das Familiengericht gemäß § 1631 b Abs. 1 BGB die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Abteilung einer intensivpädagogischen und therapeutischen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe bis längstens genehmigt.

3Nach Anhörung der Betroffenen hat das Oberlandesgericht deren Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG statthaft, da es sich bei der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB um ein Verfahren nach § 151 Nr. 6 FamFG handelt. Das auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel ist begründet. Es führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.

51. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:

6Eine Unterbringung der Betroffenen liege in deren wohlverstandenem Interesse, weil der für sie bestehenden Gefahr nicht auf andere, weniger schwerwiegende Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden könne.

7Der Sachverständige, das zuständige Jugendamt, die Mutter der Betroffenen und auch ihre Verfahrensbeiständin befürworteten die geschlossene Unterbringung. Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten ergäben sich bei der Betroffenen Anhaltspunkte für eine gemischte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen. Gleichzeitig zeige sie eine forcierte Autonomieentwicklung bei kaum bestehender bzw. fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht. Daher sei es zwingend erforderlich, die Betroffene zeitnah in einer geeigneten, geschlossen geführten, intensivpädagogischen und therapeutischen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe unterzubringen. Es bedürfe dieser begrenzenden baulichen und intensivpädagogischen Strukturen, die der Betroffenen in ihrer gegenwärtig ausgeprägten adoleszenten Entwicklungskrise ausreichend Halt und Schutz geben könnten. Eine ambulante oder weniger eingreifende teilstationäre Unterbringung scheide als Alternative aus. Die Betroffene sei sich der Problematik ihrer Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen nur äußerst eingeschränkt bewusst. Darüber hinaus zeige sie keinerlei Krankheitseinsicht. Insbesondere sei sie sich der negativen Auswirkungen ihrer Beziehung zu ihrem 21-jährigen Freund auf ihre psychosoziale Gesundheit nicht bewusst.

8Eine erzieherische Einwirkung auf die Betroffene in einer offenen Einrichtung sei derzeit nicht angebracht, da vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen nicht mit einem länger dauernden freiwilligen Aufenthalt der Betroffenen in der Einrichtung gerechnet werden könne. Mit dem eingeholten Sachverständigengutachten werde eine geschlossene Unterbringung von wenigstens einem Jahr in einer intensiv-therapeutischen Einrichtung für notwendig erachtet. Da die Betroffene die Notwendigkeit einer Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nicht einsehe und sich bislang allen Bemühungen des Jugendamtes für eine Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung widersetzt habe, sei auf Antrag des Kreisjugendamtes gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 FamFG iVm § 326 Abs. 2 Satz 1 FamFG anzuordnen, dass zur Durchsetzung der Unterbringung Gewalt angewendet werden dürfe.

92. Dies hält bereits den Verfahrensrügen der Rechtsbeschwerde nicht stand.

10a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihr das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor der Anhörung überlassen worden ist.

11aa) Bei Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen (§ 151 Nr. 6 FamFG), sind gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 FamFG die für Unterbringungssachen Erwachsener nach § 312 Nr. 1 und 2 FamFG geltenden Vorschriften anwendbar. Nach § 319 Abs. 2 Satz 1 FamFG in der seit dem geltenden Fassung erörtert das Gericht in der Anhörung mit dem Betroffenen unter anderem das Ergebnis des übermittelten Gutachtens. Daraus folgt, das dem Betroffenen bereits rechtzeitig vor der Anhörung die Möglichkeit gewährt werden muss, persönlich Kenntnis vom Inhalt des nach § 321 FamFG eingeholten Sachverständigengutachtens zu nehmen (Sternal/Giers FamFG 21. Aufl. § 319 Rn. 6). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats für das bis zum geltende Recht,die Verwertung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraussetzt, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 498/22 - FamRZ 2023, 1234 Rn. 4 mwN). Im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr vollendet haben (§ 167 Abs. 3 FamFG), gilt dies auch in Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen entsprechenden Alters nach § 1631 b BGB betreffen.

12Nach der Rechtsprechung des Senats kann von der vorherigen Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (Senatsbeschluss vom - XII ZB 498/22 - FamRZ 2023, 1234 Rn. 4). Macht das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 130/22 - FamRZ 2023, 638 Rn. 6 mwN). Letzteres setzt in der Regel einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis an den Verfahrenspfleger voraus (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 558/21 - FamRZ 2022, 891 Rn. 11 mwN).

13Nichts Anderes gilt in Verfahren, die die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen. Zwar kann in diesen Verfahren unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG ebenfalls von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens abgesehen werden (Senatsbeschluss vom - XII ZB 661/11 - FamRZ 2012, 1556 Rn. 16 mwN). Dem Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand (vgl. Sternal/Schäder FamFG 21. Aufl. § 167 Rn. 21) durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen, damit dieses sich auf den Anhörungstermin vorbereiten kann.

14bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

15Zwar begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das Amtsgericht von einer Übersendung des Gutachtens an die Betroffene abgesehen hat. Denn der Sachverständige hatte empfohlen, das Gutachten der Betroffenen nicht vorzulegen, da ansonsten eine weitere krisenhafte Zuspitzung zu erwarten sei. Es bestand aber keine begründete Erwartung, dass die Verfahrensbeiständin, an die das Gutachten übermittelt worden ist, dieses vor dem Anhörungstermin mit der Betroffenen in geeigneter Form bespricht. Die Übersendungsverfügung enthält keine entsprechende Maßgabe für die Verfahrensbeiständin. Es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die Betroffene vor ihrer Anhörung von dem Inhalt des Gutachtens unterrichtet worden ist.

16Dieser Verfahrensfehler ist auch nicht durch die erneute Anhörung der Betroffenen in der Beschwerdeinstanz geheilt worden. Denn aus der Verfahrensakte ist nicht ersichtlich, dass der Betroffenen bis zu diesem Zeitpunkt das Sachverständigengutachten übermittelt worden ist oder die Verfahrensbeiständin tatsächlich mit der Betroffenen über das Gutachten gesprochen hat.

17b) Wie die Rechtsbeschwerde ebenfalls zutreffend rügt, fehlt es zudem an einer tragfähigen Begründung für die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen, soweit diese die Dauer von sechs Monaten übersteigt.

18aa) Abweichend von § 329 Abs. 1 FamFG enden die freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen nach § 167 Abs. 7 FamFG spätestens mit Ablauf von sechs Monaten, bei offensichtlich langer Sicherungsbedürftigkeit spätestens mit Ablauf von einem Jahr, wenn sie nicht vorher verlängert werden. Die Höchstdauer der freiheitsentziehenden Unterbringung und der freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Minderjährigen ist damit - vorbehaltlich der Möglichkeit einer Verlängerung - grundsätzlich auf sechs Monate bestimmt (vgl. Sternal/Schäder FamFG 21. Aufl. § 167 Rn. 27). Nur bei offensichtlich langer Sicherungsbedürftigkeit - wenn also ein offensichtliches Bedürfnis für eine Unterbringung bzw. freiheitsentziehende Maßnahme über sechs Monate hinaus besteht (BT-Drucks. 18/11278 S. 19; Sternal/Schäder FamFG 21. Aufl. § 167 Rn. 27) - kann im Ausnahmefall eine Höchstdauer von bis zu einem Jahr bestimmt werden.

19Zu der vergleichbaren Vorschrift des § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG über die Dauer und Verlängerung einer Unterbringungsmaßnahme bei Erwachsenen hat der Senat bereits mehrfach entschieden, dass im Hinblick auf den hohen Rang des Rechts auf Freiheit der Person eine Unterbringungsdauer, die die regelmäßige Höchstfrist von einem Jahr überschreitet, stets ausführlich zu begründen ist. Dabei erfordert das Merkmal der „Offensichtlichkeit“, dass die Gründe für eine über ein Jahr hinaus währende Unterbringungsbedürftigkeit für das sachverständig beratene Gericht deutlich und erkennbar hervortreten (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 458/23 - FamRZ 2024, 805 Rn. 9 mwN und vom  - XII ZB 219/23 - FamRZ 2024, 299 Rn. 13 mwN). Dieses Begründungserfordernis gilt auch, wenn die Unterbringung eines Minderjährigen für die Dauer von mehr als sechs Monaten genehmigt werden soll. Denn das in § 167 Abs. 7 FamFG enthaltene Erfordernis einer offensichtlich langen Sicherungsbedürftigkeit ist im Wesentlichen inhaltsgleich zu der in § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG geforderten offensichtlich langen Unterbringungsbedürftigkeit (vgl. Musielak/Borth/Frank/Frank FamFG 7. Aufl. § 167 Rn. 6).

20bb) Diesen Begründungserfordernissen genügt die angefochtene Entscheidung nicht.

21Zur Begründung der ausgesprochenen Dauer der Genehmigung bezieht sich das Beschwerdegericht allein auf das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten. Darin sind jedoch keine Ausführungen enthalten, die eine Unterbringungsdauer von mehr als sechs Monaten rechtfertigen können. Der Sachverständige führt in seinem Gutachten zu der von ihm vorgeschlagenen Unterbringungsdauer lediglich aus, dass die Maßnahme vorerst für mindestens ein Jahr eingerichtet werden sollte. Weshalb jedoch eine Unterbringung der Betroffenen über die regelmäßige Höchstfrist von sechs Monaten hinaus erforderlich ist, erschließt sich aus dem Inhalt des Gutachtens nicht. Damit ist die vom Gesetz geforderte offensichtlich lange Sicherungsbedürftigkeit nicht dargelegt.

223. Die angefochtene Entscheidung kann somit keinen Bestand haben. Der Senat kann nicht abschließend in der Sache entscheiden, da diese nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Die Sache ist daher gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG zur Nachholung der notwendigen Feststellungen an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

23Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:091024BXIIZB253.24.0

Fundstelle(n):
NJW-RR 2025 S. 1 Nr. 1
MAAAJ-80397