Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit – Familienleistungen – Rückwirkende Zahlung – Umzug der berechtigten Person in einen anderen Mitgliedstaat – Art. 81 – Begriff ‚Antrag‘ – Art. 76 Abs. 4 – Pflicht zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit – Nichterfüllung – Zwölfmonatige Verjährungsfrist – Effektivitätsgrundsatz
Leitsatz
1. Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist wie folgt auszulegen: Der Begriff „Antrag“ im Sinne dieses Artikels erfasst nur den Antrag einer Person, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat und den Antrag bei den Behörden eines Mitgliedstaats gestellt hat, der nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist. Daher umfasst dieser Begriff weder den ursprünglichen Antrag, den eine Person, die noch nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gestellt hat, noch die wiederkehrende Zahlung – durch die Behörden dieses Mitgliedstaats – einer Leistung, die zum Zeitpunkt dieser Zahlung normalerweise von einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.
2. Das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach für die Rückwirkung eines Antrags auf Kindergeld eine zwölfmonatige Verjährungsfrist gilt, da diese Verjährungsfrist es den betreffenden Wandererwerbstätigen nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, die ihnen durch die Verordnung Nr. 883/2004 verliehenen Rechte auszuüben.
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 76 Abs. 4 und Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens, FS, und dem Chief Appeals Officer (Leiter der Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit, Irland), dem Social Welfare Appeals Office (Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit, Irland), dem Minister for Employment Affairs (Minister für Beschäftigung) und dem Minister for Social Protection (Minister für Sozialschutz) wegen der Ablehnung eines von FS gestellten Antrags auf rückwirkende Zahlung von Kindergeld.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 76 („Zusammenarbeit“) Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„(4) Die Träger und Personen, die in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, sind zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet, um die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung zu gewährleisten.
Die Träger beantworten gemäß dem Grundsatz der guten Verwaltungspraxis alle Anfragen binnen einer angemessenen Frist und übermitteln den betroffenen Personen in diesem Zusammenhang alle erforderlichen Angaben, damit diese die ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können.
Die betroffenen Personen müssen die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser Verordnung auswirkt.
(5) Die Verletzung der Informationspflicht gemäß Absatz 4 Unterabsatz 3 kann angemessene Maßnahmen nach dem nationalen Recht nach sich ziehen. Diese Maßnahmen müssen jedoch denjenigen entsprechen, die für vergleichbare Tatbestände der nationalen Rechtsordnung gelten, und dürfen die Ausübung der den Antragstellern durch diese Verordnung eingeräumten Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.“
4 Art. 81 („Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe“) der Verordnung bestimmt:
„Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe, die gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht dieses Mitgliedstaats einzureichen sind, können innerhalb der gleichen Frist bei einer entsprechenden Behörde, einem entsprechenden Träger oder einem entsprechenden Gericht eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. In diesem Fall übermitteln die in Anspruch genommenen Behörden, Träger oder Gerichte diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe entweder unmittelbar oder durch Einschaltung der zuständigen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten unverzüglich der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht des ersten Mitgliedstaats. Der Tag, an dem diese Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht des zweiten Mitgliedstaats eingegangen sind, gilt als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde, dem zuständigen Träger oder dem zuständigen Gericht.“
Irisches Recht
5 Section 220 des Social Welfare Consolidation Act 2005 (Konsolidiertes Sozialschutzgesetz von 2005) vom in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz von 2005) sieht vor, dass eine Person, die gewöhnlich mit einem unterhaltsberechtigten Kind zusammen wohnt, Anspruch auf Kindergeld für dieses Kind hat und als „berechtigte Person“ bezeichnet wird.
6 Nach Section 241(1) dieses Gesetzes hat ein Leistungsanspruch einer Person zur Voraussetzung, dass sie in der vorgeschriebenen Art und Weise einen Antrag stellt.
7 Gemäß Art. 182(k) der Social Welfare (Consolidated Claims, Payments and Control) Regulations 2007 (S. I. No 142 of 2007) – Prescribed time for making claim (Sozialschutzverordnung von 2007 betreffend konsolidierte Bestimmungen über Anträge, Zahlungen und Aufsicht [Rechtsverordnung Nr. 142 von 2007] – Vorgeschriebene Frist für die Antragstellung) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung beträgt die vorgeschriebene Frist für Anträge auf Kindergeld zwölf Monate ab dem Zeitpunkt, zu dem der Antragsteller die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nach Section 220 erfüllt und zur „berechtigten Person“ wird.
8 Section 241 Abs. 4 des Gesetzes von 2005 stellt im Wesentlichen klar, dass eine Person, die innerhalb der vorgeschriebenen Frist keinen Antrag auf Kindergeld stellt, keinen Anspruch auf rückwirkende Leistungen für den Zeitraum vor dem Datum der Antragstellung hat, es sei denn, der über den Antrag entscheidende oder der im Rechtsbehelfsverfahren zuständige Bedienstete gelangt zu der Überzeugung, dass die verspätete Antragstellung gerechtfertigt war. Im letztgenannten Fall besteht der Anspruch auf Kindergeld ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Antragsteller eine berechtigte Person im Sinne von Section 220 des genannten Gesetzes geworden ist.
9 Section 301 desselben Gesetzes bestimmt u. a., dass ein Bediensteter, der über einen Antrag entscheidet, jederzeit eine Entscheidung eines anderen zuständigen Bediensteten überprüfen kann, wenn sich nach dieser Entscheidung maßgebliche Umstände ändern.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine rumänische Staatsangehörige, heiratete im Jahr 2012 in Rumänien, wo sie im Dezember 2015 ein Kind gebar.
11 Sie stellte dort einen Antrag auf Kindergeld, das ihr ab Dezember 2015 oder Januar 2016 gewährt wurde.
12 Im Oktober 2016 zog der Ehemann der Klägerin des Ausgangsverfahrens nach Irland, um dort als Bediensteter in einer Gesundheitseinrichtung zu arbeiten. Er stellte in Irland keinen Antrag auf Kindergeld. Als ihm die Klägerin des Ausgangsverfahrens und das gemeinsame Kind Ende 2016 nach Irland nachzogen, stellte auch sie keinen solchen Antrag in Irland, sondern bezog weiterhin rumänisches Kindergeld.
13 Am stellte die Klägerin des Ausgangsverfahrens bei den zuständigen irischen Behörden einen Antrag auf Gewährung irischen Kindergeldes.
14 Dieser Antrag wurde nach irischem Sozialrecht als verspätet eingestuft, da er mehr als zwölf Monate nach dem Zeitpunkt gestellt wurde, zu dem die Klägerin des Ausgangsverfahrens bzw. ihr Ehemann nach Irland gezogen war. Nach diesem Recht kann ein solcher Antrag nur dann zur rückwirkenden Zahlung von Kindergeld führen, wenn der Antragsteller Gründe darlegt, die die verspätete Antragstellung rechtfertigen. Nach ständiger Praxis stellt es jedoch keinen solchen Grund dar, wenn ein Antragsteller seinen Anspruch auf Kindergeld nicht kennt.
15 Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens vorliegend keinen Rechtfertigungsgrund angegeben hatte, waren die zuständigen irischen Behörden der Ansicht, dass sie nicht spezifisch eine rückwirkende Zahlung beantragt habe und dass ihr diese daher nicht zu gewähren sei.
16 Daraufhin gaben diese Behörden dem Antrag auf Kindergeld, den die Klägerin des Ausgangsverfahrens bei ihnen gestellt hatte, im Februar 2018 statt, und etwa zur selben Zeit endete die Zahlung des rumänischen Kindergeldes.
17 Am beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens auf der Grundlage von Section 301 des Gesetzes von 2005 die Überprüfung der Entscheidung dieser Behörden und machte geltend, dass in ihrem Fall eine rückwirkende Zahlung hätte in Betracht gezogen werden müssen. Dieser Antrag auf Überprüfung wurde am abgelehnt.
18 Der Widerspruch, den die Klägerin des Ausgangsverfahrens am bei der Widerspruchsbehörde in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit einlegte, wurde am zurückgewiesen. Daraufhin erhob die Klägerin des Ausgangsverfahrens am beim vorlegenden Gericht eine Klage gegen die zurückweisende Entscheidung.
19 Das vorlegende Gericht gibt zunächst das Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens wieder – dem es sich jedoch nicht anschließt –, wonach die Tatsache, dass sie rumänisches Kindergeld bezogen habe, einen Antrag im Sinne von Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 darstelle, da der „aktive“ Antrag in Rumänien ab dem Zeitpunkt, zu dem Irland der zuständige Mitgliedstaat geworden sei, als Antrag auf irisches Kindergeld gemäß diesem Art. 81 hätte angesehen werden müssen.
20 Sodann fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 76 der Verordnung Nr. 883/2004 auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbar ist, da die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend mache, dass ein Verstoß gegen die in Art. 76 vorgesehenen Verpflichtung nicht zur Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen von Art. 81 der Verordnung führe. Die Pflicht zur Bearbeitung eines Antrags sei von dieser Verpflichtung unabhängig, da der Gerichtshof entschieden habe, dass die Nichtbereitstellung von Informationen nicht notwendigerweise die Unterbrechung des Sozialversicherungsschutzes zur Folge haben müsse.
21 Schließlich ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass, da die Klägerin des Ausgangsverfahrens gegen ihre Verpflichtung verstoßen habe, maßgebliche Änderungen ihrer Situation mitzuteilen, angemessene Maßnahmen nach nationalem Recht zu ergreifen seien, die die Ausübung der den Antragstellern durch diese Verordnung eingeräumten Rechte nicht praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten.
22 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Umfasst der in Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Begriff „Antrag“ den Zustand des laufenden Bezugs einer wiederkehrenden Leistung von einem ersten Mitgliedstaat (wenn die Leistung richtigerweise von einem zweiten Mitgliedstaat zu zahlen ist), und zwar jedes Mal, wenn die betreffende Leistung gezahlt wird, und sogar nach dem ursprünglichen Antrag und der ursprünglichen Entscheidung des ersten Mitgliedstaats über die Leistungsbewilligung?
Wenn die erste Frage zu bejahen ist, ist dann in einem Fall, in dem ein Antrag auf eine Leistung der sozialen Sicherheit fälschlich in einem Herkunftsmitgliedstaat gestellt wurde, obwohl er in einem zweiten Mitgliedstaat hätte gestellt werden müssen, die Verpflichtung des zweiten Mitgliedstaats aus Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 (konkret die Verpflichtung, einen im Herkunftsmitgliedstaat gestellten Antrag als in dem zweiten Mitgliedstaat zulässig zu behandeln) dahin auszulegen, dass sie völlig unabhängig von der Verpflichtung der Antragstellerin aus Art. 76 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, zutreffende Angaben zu ihrem Wohnsitz zu machen, besteht, so dass ein fälschlich im Herkunftsmitgliedstaat gestellter Antrag von dem zweiten Mitgliedstaat als im Sinne des Art. 81 der Verordnung zulässig behandelt werden muss, obwohl die Antragstellerin es versäumt hat, innerhalb der nach dem Recht des zweiten Mitgliedstaats vorgeschriebenen Antragsfrist gemäß Art. 76 Abs. 4 der Verordnung zutreffende Angaben zu ihrem Wohnsitz zu machen?
Ist der allgemeine unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass die wirksame Geltendmachung von Unionsrechten unter Umständen wie denen des vorliegenden Verfahrens (insbesondere in einer Situation, in der eine ihre Freizügigkeitsrechte ausübende Bürgerin der Europäischen Union gegen ihre Verpflichtung aus Art. 76 Abs. 4 verstößt, die Sozialleistungsträger des Herkunftsmitgliedstaats über ihren Wohnsitzlandwechsel zu informieren) durch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift des Mitgliedstaats, in dem das Recht auf Freizügigkeit ausgeübt wird, unmöglich gemacht wird, wenn danach ein Unionsbürger, um eine Rückwirkung von Anträgen auf Kindergeld zu erreichen, eine solche Leistung in dem zweiten Mitgliedstaat innerhalb einer nach dem innerstaatlichem Recht vorgeschriebenen Frist von zwölf Monaten beantragen muss?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
23 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass sich der Begriff „Antrag“ im Sinne dieses Artikels nur auf den ursprünglichen Antrag bezieht, der nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats von einer Person gestellt wurde, die in der Folgezeit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder ob er auch einen „fortgesetzten“ Antrag erfasst, der bei wiederkehrender Zahlung – durch die zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats – einer Leistung vorliegt, die zum Zeitpunkt dieser Zahlung normalerweise von einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.
24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen, wobei die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Inspecteur van de Belastingdienst, C‑631/17, EU:C:2019:381, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Was den vorliegenden Fall betrifft, hat der Gerichtshof zu Art. 83 der Verordnung Nr. 4 des Rates vom zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (ABl. 1958, 30, S. 597), dessen Inhalt im Wesentlichen dem von Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 entspricht, bereits entschieden, dass aus dem Wortlaut dieses Art. 83 hervorgeht, dass er die Stellung von Anträgen durch Wanderarbeitnehmer betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Camera, 92/81, EU:C:1982:219, Rn. 7).
26 Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 soll die Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern erleichtern, indem er ihr Vorgehen angesichts der Komplexität der Verwaltungsverfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten administrativ vereinfacht, und verhindern, dass die Betroffenen aus rein formalen Gründen ihre Ansprüche verlieren können. Daher hat nach diesem Artikel die Stellung eines Antrags bei einer Behörde, einem Träger oder einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats als des Mitgliedstaats, der die Leistung zu erbringen hat, die gleichen Wirkungen, wie wenn dieser Antrag unmittelbar bei der zuständigen Stelle des letztgenannten Mitgliedstaats eingereicht worden wäre (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Art. 83 der Verordnung Nr. 4 Urteil vom , Camera, 92/81, EU:C:1982:219, Rn. 7, und in Bezug auf Art. 86 der Verordnung [EWG] Nr. 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern [ABl. 1971, L 149, S. 2], Urteil vom , Aubin, 227/81, EU:C:1982:209, Rn. 23).
27 Daraus folgt, dass Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 Anwendung findet, wenn ein Wanderarbeitnehmer einen Antrag auf Kindergeld bei den Behörden eines Mitgliedstaats stellt, der hierfür nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist.
28 Wird dagegen ein Antrag auf Kindergeld bei den Behörden eines Mitgliedstaats allein nach dessen nationalem Recht gestellt und beschränkt sich die Situation der berechtigten Person auf diesen Mitgliedstaat, fällt dieser Antrag nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004, so dass er nicht als „Antrag“ im Sinne von Art. 81 dieser Verordnung angesehen werden kann.
29 Vorliegend ist festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Stellung des ursprünglichen Antrags auf Kindergeld in Rumänien die familiäre Situation der Klägerin des Ausgangsverfahrens keinen Auslandsbezug aufwies und allein die rumänischen Behörden für diesen Antrag zuständig waren.
30 Erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihren Wohnsitz nach Irland verlegte, fiel sie in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004, so dass deren Kollisionsnormen auf sie anwendbar wurden.
31 Wenn die betroffene Person nichts in administrativer Hinsicht unternimmt, ist jedoch ausgeschlossen, dass die Tatsache, dass sie weiterhin eine wiederkehrende Leistung von den Behörden eines Mitgliedstaats erhält, einem „Antrag“ im Sinne von Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 gleichgestellt werden kann.
32 Eine solche Auslegung stünde nämlich nicht mit dem Ziel von Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 im Einklang, das, wie aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils hervorgeht, gerade darin besteht, das administrative Vorgehen der Antragsteller angesichts der Komplexität der Verwaltungsverfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen.
33 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das mit Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 eingeführte System der Übermittlung von Anträgen, Erklärungen oder Rechtsbehelfen, nach dem die Behörden eines Mitgliedstaats, der nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist, die bei ihnen eingegangenen Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe unverzüglich an die Behörden des zuständigen Mitgliedstaats weiterleiten, voraussetzt, dass die Träger und die betroffenen Personen ihrer Pflicht zur gegenseitigen Unterrichtung und Zusammenarbeit nachkommen.
34 Insbesondere ergibt sich aus Art. 76 Abs. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, dass zwar die Behörden verpflichtet sind, alle Anfragen binnen einer angemessenen Frist zu beantworten und den betroffenen Personen alle erforderlichen Angaben zu übermitteln, damit diese die ihnen durch die Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können, dass aber diese Personen ihrerseits die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten müssen, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach der Verordnung auswirkt.
35 Im Übrigen würde eine Auslegung des Begriffs „Antrag“, die von jedem administrativen Vorgehen der betroffenen Person losgelöst ist, es den befassten Behörden unmöglich machen, den Verpflichtungen aus Art. 76 und Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 nachzukommen, da sie weder den Zeitpunkt, zu dem die betreffenden Informationen, Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe zu übermitteln sind, noch die Behörden, an die sie zu übermitteln sind, feststellen könnten.
36 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 81 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Antrag“ im Sinne dieses Artikels nur den Antrag einer Person erfasst, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat und den Antrag bei den Behörden eines Mitgliedstaats gestellt hat, der nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist. Daher umfasst dieser Begriff weder den ursprünglichen Antrag, den eine Person, die noch nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gestellt hat, noch die wiederkehrende Zahlung – durch die Behörden dieses Mitgliedstaats – einer Leistung, die zum Zeitpunkt dieser Zahlung normalerweise von einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.
Zur zweiten Frage
37 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.
Zur dritten Frage
38 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach für die Rückwirkung eines Antrags auf Kindergeld eine zwölfmonatige Verjährungsfrist gilt.
39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt und es Sache des Rechts des jeweiligen Mitgliedstaats ist, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit, ihre Höhe, die Dauer ihrer Gewährung sowie die Fristen zur Beantragung dieser Leistungen zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Xhymshiti, C‑247/09, EU:C:2010:698, Rn. 43). Diese Voraussetzungen müssen jedoch das Unionsrecht beachten und dürfen nicht bewirken, dass Personen, auf die nach der Verordnung Nr. 883/2004 eine nationale Regelung anwendbar ist, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Fischer-Lintjens, C‑543/13, EU:C:2015:359, Rn. 49).
40 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in den irischen Rechtsvorschriften bestimmte Verjährungsfrist keinen Ausschluss der Antragsteller von der Gewährung von Kindergeld bewirkt, sondern lediglich deren Anspruch auf rückwirkende Zahlung einschränkt, wenn sie diese nicht innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt beantragen, zu dem die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug des Kindergeldes erfüllt sind.
41 Daher ist nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens, wenn sie den rumänischen oder den irischen Behörden ihren Wohnsitzwechsel so bald wie möglich angezeigt hätte, eine rückwirkende Zahlung des irischen Kindergeldes hätte erhalten können.
42 Wie sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ergibt, müssen nämlich gemäß Art. 76 Abs. 4 Unterabs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 Personen, die eine Sozialleistung erhalten, die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen oder familiären Situation unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach der Verordnung auswirken können.
43 Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Verletzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Informationspflicht gemäß Art. 76 Abs. 5 dieser Verordnung nur angemessene Maßnahmen nach dem nationalen Recht nach sich ziehen kann, die zum einen denjenigen entsprechen müssen, die für vergleichbare Tatbestände der nationalen Rechtsordnung gelten (Äquivalenzgrundsatz), und zum anderen die Ausübung der den Antragstellern durch die Verordnung eingeräumten Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Fischer-Lintjens, C‑543/13, EU:C:2015:359, Rn. 57).
44 Wie das vorlegende Gericht ausführt, hat der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Rechtssache den Äquivalenzgrundsatz nicht zu prüfen, da die Klägerin des Ausgangsverfahrens keinen Verstoß gegen diesen Grundsatz geltend gemacht hat.
45 Was den Effektivitätsgrundsatz angeht, genügt nach ständiger Rechtsprechung die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen grundsätzlich dem Erfordernis der Effektivität, da sie einen Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit darstellt, das zugleich den Betroffenen und die betreffende Behörde schützt. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Barth, C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 28, und vom , Bulicke, C‑246/09, EU:C:2010:418, Rn. 36).
46 Des Weiteren hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Bestimmung, die die Rückwirkung von Anträgen auf Familienbeihilfen auf sechs Monate beschränkt, die Ausübung der den Wanderarbeitnehmern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht unmöglich macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Alonso-Pérez, C‑394/93, EU:C:1995:400, Rn. 30 und 32). Ebenso hat er anerkannt, dass die Festsetzung einer nationalen Ausschlussfrist von drei Jahren angemessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Barth, C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 28).
47 Infolgedessen ist nicht ersichtlich, dass eine zwölfmonatige Verjährungsfrist für sich genommen die Ausübung der durch die Verordnung Nr. 883/2004 verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert.
48 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach für die Rückwirkung eines Antrags auf Kindergeld eine zwölfmonatige Verjährungsfrist gilt, da diese Verjährungsfrist es den betreffenden Wandererwerbstätigen nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, die ihnen durch die Verordnung Nr. 883/2004 verliehenen Rechte auszuüben.
Kosten
49 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist wie folgt auszulegen:
Der Begriff „Antrag“ im Sinne dieses Artikels erfasst nur den Antrag einer Person, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat und den Antrag bei den Behörden eines Mitgliedstaats gestellt hat, der nach den Kollisionsnormen dieser Verordnung nicht zuständig ist. Daher umfasst dieser Begriff weder den ursprünglichen Antrag, den eine Person, die noch nicht von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gestellt hat, noch die wiederkehrende Zahlung – durch die Behörden dieses Mitgliedstaats – einer Leistung, die zum Zeitpunkt dieser Zahlung normalerweise von einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.Das Unionsrecht, insbesondere der Effektivitätsgrundsatz, steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach für die Rückwirkung eines Antrags auf Kindergeld eine zwölfmonatige Verjährungsfrist gilt, da diese Verjährungsfrist es den betreffenden Wandererwerbstätigen nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, die ihnen durch die Verordnung Nr. 883/2004 verliehenen Rechte auszuüben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2022:737
Fundstelle(n):
HAAAJ-79490