Erfordernis eines Änderungsantrags zur Vermeidung widerstreitender Steuerfestsetzung bei Organschaft auch bei Anfechtung des Steuerbescheids durch die Organgesellschaft
Leitsatz
Sind die Voraussetzungen einer Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes mit einer KG als Organgesellschaft aufgrund geänderter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfüllt, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens in Bezug auf § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Abgabenordnung einen Antrag auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung stellt (Bestätigung des , BFHE 280, 89). Dies gilt auch im Rechtsbehelfsverfahren der KG gegen eine ihr gegenüber ergangene Steuerfestsetzung.
Gesetze: UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2; AO § 33 Abs. 1; AO § 73 Satz 1; AO § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Unternehmensgegenstand der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), einer GmbH & Co. KG, ist der Handel sowie das Erwerben, Verwalten und Vermieten von Geräten aller Art. Gesellschafter der Klägerin waren im Jahr 2016 (Streitjahr) als Komplementärin die BVB-GmbH, die ab als TLVB-GmbH firmierte, und als einzige Kommanditistin die JB-GmbH & Co. KG. Alleingesellschafter der BVB-GmbH —der späteren TLVB-GmbH— war BS, der neben BJ und MB auch einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer dieser GmbH war.
2 Mit Vertrag vom veräußerten die Kommanditisten der JB-KG ihre Gesellschaftsanteile an die BS-GmbH. Zudem beschloss die Gesellschafterversammlung der JB-KG am , dass deren Komplementär-GmbH aus der JB-KG austrat, so dass das Vermögen der JB-KG im Wege der Anwachsung auf die BS-GmbH überging. Die Gesellschafterversammlung der BS-GmbH beschloss am die Umfirmierung in TL-GmbH. Gesellschafter der BS-GmbH —der späteren TL-GmbH— waren im Streitjahr BS mit einer Beteiligung am Stammkapital von 90 % sowie BJ und MB mit einer Beteiligung von jeweils 5 %. Einzelvertretungsberechtigte Geschäftsführer der TL-GmbH waren BJ und MB. Im Jahr 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der TL-GmbH eröffnet.
3 Aufgrund eines Vertrags vom erwarb die Klägerin von der BS-GmbH —der späteren TL-GmbH— Fahrzeuge zu einem Gesamtkaufpreis in Höhe von 4.061.720,31 €, zuzüglich Umsatzsteuer in Höhe von 771.726,86 €, zahlbar in 28 gleichen jährlichen Raten. Hierüber erteilte die BS-GmbH —die spätere TL-GmbH— der Klägerin eine Rechnung vom , die Umsatzsteuer in Höhe von 771.726,86 € auswies.
4 In ihrer Umsatzsteuer-Voranmeldung für das zweite Kalendervierteljahr 2016 erklärte die Klägerin Umsätze aus dem Verkauf von zwei Fahrzeugen und machte als Vorsteuer nur den in der Rechnung vom ausgewiesenen Vorsteuerbetrag geltend, was zu einem Überschuss zu ihren Gunsten führte. Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung erließ der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) einen Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid für das zweite Kalendervierteljahr 2016, in dem er die Umsatzsteuer auf 16.150 € festsetzte. Den geltend gemachten Vorsteuerabzug erkannte es nicht an, weil das zugrunde liegende Rechtsgeschäft rechtsmissbräuchlich zustande gekommen sei. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück.
5 Mit dem Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 vom schätzte das FA die Bemessungsgrundlage für regelbesteuerte Umsätze der Klägerin auf 450.000 € und setzte demgemäß Umsatzsteuer in Höhe von 85.500 € fest. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein und gab zugleich eine Jahressteuererklärung ab, in der sie Umsätze in Höhe von 636.450 € zum Regelsteuersatz erklärte und erneut einen Vorsteuerbetrag in Höhe von 771.726,86 € geltend machte. Der Einspruch gegen den Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 blieb erfolglos.
6 Während des gegen den Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 gerichteten Klageverfahrens lud das Finanzgericht (FG) den damaligen Insolvenzverwalter der TL-GmbH zu dem Verfahren bei. Nachdem dieser die Rechnung vom storniert hatte, machte die Klägerin unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Finanzamt für Körperschaften Berlin vom - C-868/19, EU:C:2021:285 geltend, der Umsatzsteuerjahresbescheid 2016 sei ersatzlos aufzuheben, da zwischen ihr als Organgesellschaft und der TL-GmbH als Organträgerin im Streitjahr eine Organschaft bestanden habe.
7 Mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 873 veröffentlichten Urteil gab das FG der Klage, die zunächst auf die Festsetzung eines zu vergütenden Steuerbetrags gerichtet war und sodann auf die Aufhebung des Umsatzsteuerjahresbescheids 2016 beschränkt wurde, statt, da die Klägerin Organgesellschaft der TL-GmbH als Organträgerin gewesen sei. Die Voraussetzungen einer Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) lägen vor. Auf der Grundlage des EuGH-Urteils Finanzamt für Körperschaften Berlin vom - C-868/19, EU:C:2021:285 sei die Klägerin trotz ihrer Rechtsform als KG finanziell in das Unternehmen der TL-GmbH eingegliedert. Ihre wirtschaftliche Eingliederung ergebe sich daraus, dass sie im Streitjahr „im Rahmen des Handels mit den Fahrzeugen/der Veräußerung der Fahrzeuge“ eingebunden gewesen und damit im Rahmen des „Gesamtunternehmens“ in einem engen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der TL-GmbH tätig geworden sei. Auch die Voraussetzungen der organisatorischen Eingliederung lägen vor.
8 Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Revision, die es auf die Verletzung materiellen Rechts stützt. Nach Maßgabe des (BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547) sei das Vorliegen einer Organschaft zu verneinen.
9 Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
10 Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
11 Sie verteidigt die Entscheidung der Vorinstanz. Der BFH habe mit Urteil vom - V R 14/21 (V R 45/19) (BFHE 280, 89) sein früheres Urteil vom - V R 25/13 (BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547) aufgegeben. Das sich aus dem (BFHE 280, 89) ergebende Erfordernis einer Antragstellung durch den Insolvenzverwalter sei unbeachtlich, da der angefochtene Steuerbescheid —anders als in der vom BFH entschiedenen Fallgestaltung— nie formell bestandskräftig geworden sei. Der Klägerin könne auch im Hinblick auf die seit langer Zeit bekannte Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Regelung zur Organschaft nicht entgegengehalten werden, sie hätte die TL-GmbH zur Stellung eines Änderungsantrags „motivieren“ müssen. Im Übrigen führe das Antragserfordernis zu einer Ungleichbehandlung von Personen- und Kapitalgesellschaften, die —genau wie die fehlende Erkennbarkeit des Antragserfordernisses— unionsrechtliche Fragen aufwerfe, die nur durch eine EuGH-Vorlage geklärt werden könnten.
12 Während des Revisionsverfahrens hat der Senat den Beschluss über die Beiladung des während des Revisionsverfahrens verstorbenen Insolvenzverwalters aufgehoben und die für das Insolvenzverfahren der TL-GmbH neu bestellte Insolvenzverwalterin zum Verfahren beigeladen. Diese hat —wie der zuvor beigeladene Insolvenzverwalter— keinen Antrag gestellt.
13 Am hat die Klägerin nach dem Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz vom —StaRUG— (BGBl I 2020, 3256) für die Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens das Restrukturierungsvorhaben beim Restrukturierungsgericht angezeigt und diesem am einen Restrukturierungsplan übermittelt.
Gründe
II.
14 Die Revision des FA ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG, das das bei seiner Entscheidung noch nicht veröffentlichte (BFHE 280, 89) nicht berücksichtigen konnte, hat entgegen dieser Entscheidung zu Unrecht einen Anspruch auf Aufhebung der gegenüber der Klägerin ergangenen Steuerfestsetzung im Hinblick auf deren Stellung als Organgesellschaft bejaht. Die Sache ist nicht spruchreif.
15 1. Der Rechtsstreit wurde nicht gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 38 Satz 1 StaRUG und § 240 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) durch die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens der Klägerin gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG, mit der die Restrukturierungssache beim Restrukturierungsgericht rechtshängig wurde (§ 31 Abs. 3 StaRUG), unterbrochen. § 240 Satz 2 ZPO ist nicht entsprechend auf Maßnahmen nach dem Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz anwendbar (Blankenburg in Morgen, StaRUG, 2. Aufl., § 38 Rz 47; Zöller/Greger, ZPO, 35. Aufl., § 240 Rz 5; BeckOK StaRUG/Kramer, 6. Ed. [], StaRUG § 38 Rz 36). Da die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache lediglich die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens ist (§ 31 Abs. 1 StaRUG) und im Übrigen Sorgfalts- (§ 32 Abs. 1 StaRUG), Unterlassungs- (§ 22 Abs. 1 StaRUG) und Anzeigepflichten (§ 32 Abs. 2 bis 4, § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) beim Schuldner auslöst, führt sie zu keiner mit § 240 Satz 2 ZPO vergleichbaren Lage, die durch den Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen (§ 21 Abs. 1 der Insolvenzordnung —InsO—) gekennzeichnet ist. Da im Streitfall keine Stabilisierungsmaßnahme (§ 29 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG) in Form der Vollstreckungssperre (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG) angeordnet wurde, kann offenbleiben, ob die Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 172 vom , S. 18) die Anwendung von § 240 Satz 2 ZPO auf Vollstreckungssperren verlangt (so Skauradszun, Zeitschrift für Restrukturierung und Insolvenz 2020, 404, 404 ff.; Schönfelder in Flöther, Sanierungsrecht, 2019, F. Rz 64; a.A. Boss/Luttmann in Morgen, StaRUG, 2. Aufl., § 49 Rz 38; Riggert in Braun, StaRUG, 2021, § 49 Rz 3; Schönen/Bender in Seibt/Westpfahl, StaRUG, 2022, § 49 Rz 4; Undritz/Knof in HambKomm/RestruktR, 3. Aufl., § 49 StaRUG Rz 44).
16 2. Ist eine KG entsprechend dem Urteil des FG aufgrund geänderter BFH-Rechtsprechung als Organgesellschaft anzusehen, setzt die Aufhebung einer gegenüber der KG ergangenen Steuerfestsetzung voraus, dass der Organträger zur Vermeidung eines widersprüchlichen Verhaltens in Bezug auf § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) einen Antrag auf Änderung der für ihn vorliegenden Steuerfestsetzung stellt (, BFHE 280, 89, Rz 20; zustimmend z.B. Jacobs, Umsatzsteuer-Rundschau 2023, 409).
17 a) Der Senat hat dies mit dem im jeweiligen „Steuerrechtsverhältnis“ zu beachtenden Grundsatz von Treu und Glauben begründet, wobei dieses bei Bejahung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zum Organträger als Steuerschuldner und Steuerpflichtigen besteht und sich auf die Organgesellschaft als Bestandteil dieses Steuerrechtsverhältnisses erstreckt (, BFHE 280, 89, Rz 20 ff.).
18 b) Der Senat hält hieran weiter fest. Zwar wird hierzu eingewendet, dass es für die Bestimmung des maßgeblichen Steuerrechtsverhältnisses auf ein Steuerschuldverhältnis im Sinne von § 33 Abs. 1 AO ankomme, wobei dieses nicht „mit einem materiell-rechtlichen Steuersubjekt [i.S. des] § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG gleichzusetzen“ sei (Luther/von Cölln, Zeitschrift für das gesamte Mehrwertsteuerrecht 2023, 674, 677). Allerdings ist gemäß § 33 Abs. 1 AO Steuerpflichtiger, wer eine Steuer schuldet, was sich nach den Einzelsteuergesetzen richtet (§ 43 Satz 1 AO; , BFHE 273, 364, Rz 16; vgl. auch Drüen in Tipke/Kruse, § 33 AO Rz 4 und Schindler in Gosch, AO § 33 Rz 9). Nach dem damit bei Bestehen einer umsatzsteuerlichen Organschaft maßgeblichen § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG kommt der Organgesellschaft —anders als im Körperschaftsteuerrecht— gerade keine Steuerrechtsfähigkeit zu (, BFHE 268, 240, Rz 47; , BFHE 270, 166, Rz 17; vgl. auch Schindler in Gosch, AO § 33 Rz 41).
19 Selbst wenn Steuerschuldner (auch) derjenige wäre, gegen den eine Steuer zu Unrecht festgesetzt worden ist (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 33 AO Rz 3b und Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 33 Rz 25, die hierfür auf das , BFHE 273, 364, Rz 17, zur allerdings anders gelagerten Problematik bei § 166 AO verweisen), ist —vorbehaltlich des im Streitfall nicht einschlägigen Falls der unanfechtbaren rechtswidrigen Festsetzung (vgl. hierzu BeckOK AO/Hennigfeld, 28. Ed. [], AO § 43 Rz 22)— zu beachten, dass sich die vorliegend geltend gemachte —und sich aus dem Fehlen eines eigenständigen Steuerrechtsverhältnisses ergebende— Rechtswidrigkeit der gegenüber der Organgesellschaft ergangenen Steuerfestsetzung ausschließlich aus dem mit dem Organträger bestehenden Steuerrechtsverhältnis ableitet, das sich seinerseits auf die Organgesellschaft —als dessen Bestandteil— erstreckt (, BFHE 280, 89, Rz 23). Diese auf dasselbe Steuerrechtsverhältnis bezogene Spiegelbildlichkeit erfordert eine sowohl auf Organträger als auch auf Organgesellschaft bezogene Betrachtung von Treu und Glauben.
20 Bestätigt wird das Antragserfordernis durch die in § 73 Satz 1 AO angeordnete Haftung, die entgegen der vorstehenden Kritik bei Verzicht auf ein Antragserfordernis leerliefe, da sie zwar —wie sich aus § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO ergibt— keine Steuerfestsetzung gegenüber dem Organträger, aber eine diesem gegenüber zumindest festsetzbare Steuerschuld voraussetzt, an der es grundsätzlich fehlen würde, wenn dieser sich auf Vertrauensschutz in Bezug auf eine aufgegebene höchstrichterliche Rechtsprechung berufen könnte. Da der Haftungsschuldner höchstens die Steuer schuldet, die gegen den Steuerschuldner festgesetzt worden ist oder werden kann (Klein/Rüsken, AO, 17. Aufl., § 191 Rz 170), sind dem in dieser Vorschrift ausdrücklich geregelten Fall, dass eine Steuer wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr festgesetzt werden kann, andersartige Hindernisse gleichzusetzen, die —wie vorliegend eine Berufung auf Vertrauensschutz— einer Festsetzung gegen den Organträger als Steuerschuldner dauerhaft entgegenstehen. Denn könnte der Organträger —ohne Antragserfordernis— bei seiner Besteuerung eine Beurteilung entsprechend der alten, aufgegebenen Rechtsprechung verlangen, würde die auf die Umsätze der Organgesellschaft geschuldete Steuer bei ihm nicht festgesetzt, so dass es bei einer —wie vorliegend dargelegt— zu bejahenden Anwendung von § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO nicht zum Erlass eines Haftungsbescheids gegen die Organgesellschaft —in Bezug auf deren Umsätze— kommen könnte.
21 c) Auch unter Berücksichtigung neuerer EuGH-Rechtsprechung steht das Antragserfordernis im Einklang mit dem Unionsrecht, selbst wenn man es nicht lediglich am Maßstab der Äquivalenz und Effektivität (hierzu , BFHE 280, 89, Rz 27) misst.
22 aa) Das Antragserfordernis dient der Umsetzung von Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL), der verlangt, dass die mitgliedstaatliche Umsetzungsregelung einen einzigen Steuerpflichtigen vorsieht (EuGH-Urteil Finanzamt T II vom - C-184/23, EU:C:2024:599, Rz 39). Durch das Antragserfordernis werden ferner Haftungslücken bei der Anwendung von § 73 AO geschlossen, so dass die im Widerspruch zu Art. 11 MwStSystRL stehende Gefahr von Steuerverlusten vermieden wird (, BFHE 279, 320, Rz 28; vom - V R 14/21 (V R 45/19), BFHE 280, 89, Rz 28).
23 bb) Das Antragserfordernis verstößt auch nicht in anderer Hinsicht gegen Unionsrecht. Denn das Verbot des Rechtsmissbrauchs, dessen Ausprägung das Verbot widersprüchlichen Verhaltens ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar (EuGH-Urteile Kofoed vom - C-321/05, EU:C:2007:408, Rz 38; N Luxembourg 1 u.a. vom - C-115/16, C-118/16, C-119/16, C-299/16, EU:C:2019:134, Rz 111) und ist im Mehrwertsteuerrecht als Auslegungsgrundsatz anerkannt (vgl. EuGH-Urteil Halifax u.a. vom - C-255/02, EU:C:2006:121, Rz 85; vgl. EuGH-Urteil N Luxembourg 1 u.a. vom - C-115/16, C-118/16, C-119/16, C-299/16, EU:C:2019:134, Rz 111).
24 d) Entgegen der Auffassung der Klägerin gilt dies nicht nur für den Fall, dass die KG —wie im (BFHE 280, 89)— einen Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 AO stellt, sondern auch für die —hier gegebene— Anfechtung einer Steuerfestsetzung. Dass Organträger und Organgesellschaft nicht beanspruchen können, im selben Besteuerungszeitraum für den einen Unternehmensteil (hier: Organträger) auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung und für den anderen Unternehmensteil (hier: Organgesellschaft) nach der geänderten Rechtsprechung besteuert zu werden, folgt aus der materiell-rechtlichen Auslegung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und der dabei erforderlichen Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben, so dass es auf die verfahrensrechtliche Unterscheidung, ob der Steuerbescheid aufgrund eines Einspruchs oder aufgrund eines Änderungsantrags zu überprüfen ist, unerheblich ist.
25 Soweit die Klägerin weiter darauf verweist, dass es nicht darauf ankommen könne, dass sie „andere zu irgendwelchen Anträgen motivieren“ müsse, lässt sie außer Betracht, dass bei der von ihr bejahten Anwendung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nur ein Steuerrechtsverhältnis zum Organträger als Steuerschuldner besteht und die Organgesellschaft Bestandteil dieses Steuerrechtsverhältnisses ist (, BFHE 280, 89, Rz 23).
26 3. Die weiteren Einwendungen der Klägerin greifen nicht durch.
27 a) Das (BFH/NV 1995, 580, unter 1.) zur Verpflichtung der Anpassung von Umsatzsteuerbescheiden an eine nachträglich erkannte Organschaft betrifft den Fall, dass die Organschaft aus tatsächlichen Gründen verkannt wurde, während das Antragserfordernis entsprechend dem (BFHE 280, 89) auf den Besonderheiten beruht, die sich aus der Anwendung von § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO auf Organschaften ergeben.
28 b) Aus dem Antragserfordernis entsprechend dem (BFHE 280, 89) folgt —entgegen der Auffassung der Klägerin— keine Ungleichbehandlung zwischen Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften, da das Antragserfordernis gleichermaßen für Rechtsprechungsänderungen gilt, die sich auf die Voraussetzungen der Organschaft zwischen Kapitalgesellschaften (vgl. , BFHE 232, 550, BStBl II 2011, 600 zur mittelbaren finanziellen Eingliederung einer GmbH) beziehen.
29 c) Zu keiner anderen Beurteilung führt schließlich der Einwand der Klägerin, dass das Antragserfordernis für sie nicht erkennbar gewesen sei. So ergibt sich das Antragserfordernis aus einer Berücksichtigung von Treu und Glauben im Anwendungsbereich des § 176 AO und geht damit auf das (BFHE 177, 332, BStBl II 1995, 764, unter II.C.4.) —einer vor dem Streitjahr ergangenen Rechtsprechung— zurück. Zudem hat sich die Rechtsposition der Klägerin im Vergleich zur früheren Auslegung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht zu ihren Ungunsten verändert. Nach der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung konnte die Klägerin mangels finanzieller Eingliederung in die TL-GmbH keine Organgesellschaft sein, so dass sie auf dieser Grundlage —bei Abgabe der Jahressteuererklärung für das Streitjahr— zutreffend davon ausging, ihre Umsätze selbst versteuern zu müssen. Erst die geänderte Rechtsprechung eröffnete der Klägerin die Möglichkeit, eine für sie günstigere Rechtsposition zu erlangen. Dass sich der (BFHE 280, 89) nicht nur dieser Rechtsprechung angeschlossen, sondern gleichzeitig die Änderung einer Steuerfestsetzung gegenüber einem (vermeintlichen) Steuerschuldner, der bis dahin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als Organgesellschaft nicht erfüllen konnte, davon abhängig gemacht hat, dass der Organträger einen zu seinen Lasten wirkenden Antrag auf Änderung der gegenüber ihm ergangenen Steuerfestsetzung stellt, ändert nichts daran, dass die Beurteilungsmöglichkeiten der Klägerin durch die Änderung der Rechtsprechung unter den mit der Neubeurteilung verbundenen Bedingungen im Ergebnis erweitert wurden.
30 4. Die Sache ist nicht spruchreif.
31 a) Für die Aufhebung der gegenüber der Klägerin ergangenen Steuerfestsetzung, die mit einer geänderten BFH-Rechtsprechung begründet wird, nach der ein Mehrheitsgesellschafter geltend machen kann, dass er Organträger auch in Bezug auf eine Tochter-KG als Organgesellschaft ist, ohne dass dabei die Verhältnisse in Bezug auf die Mitgesellschafter bei der KG zu betrachten sind (, BFHE 252, 516, BStBl II 2017, 567, Leitsatz 3 und vom - XI R 17/11, BFHE 254, 164, BStBl II 2017, 581, Leitsatz 2), kommt es auf einen Antrag der Beigeladenen auf Änderung der für die TL-GmbH vorliegenden Steuerfestsetzung an. Hierzu hat das FG keine Feststellungen getroffen, die in einem zweiten Rechtsgang nachzuholen sind.
32 b) Für das Verfahren im zweiten Rechtsgang weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:
33 aa) Das FG konnte zutreffend davon ausgehen, dass es für die Frage, ob eine KG als Organgesellschaft eines Organträgers anzusehen ist, nicht darauf ankommt, ob die Personen, die neben dem Organträger Gesellschafter der KG sind, finanziell in den Organträger eingliedert sind. Soweit der Senat dies für erforderlich gehalten hat (, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547, Leitsatz), hat er diese Rechtsprechung aufgegeben (, BFHE 280, 89, Leitsatz 1).
34 bb) Einer weitergehenden Prüfung im zweiten Rechtsgang bedarf hingegen das Vorhandensein einer wirtschaftlichen Eingliederung und hierbei insbesondere die Frage, ob mehr als nur unerhebliche Beziehungen zwischen den Unternehmensbereichen vorlagen (, BFHE 276, 362, BStBl II 2023, 148, Leitsatz 1). Hierzu fehlen bislang hinreichende Feststellungen.
35 5. Ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist nicht veranlasst (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile CILFIT u.a. vom - C-283/81, EU:C:1982:335, Rz 21 und Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi vom - C-561/19, EU:C:2021:799, Rz 66). Für den Senat steht —wie dargelegt— zweifelsfrei fest, dass das Erfordernis einer Antragstellung durch den Organträger im Einklang mit dem Unionsrecht steht.
36 6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:U.050924.VR5.23.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-79446