Instanzenzug: LG Aachen Az: 63 KLs 22/22
Gründe
1Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom unter Freispruch im Übrigen wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit „vorsätzlicher“ Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat dieses Urteil mit Beschluss vom (2 StR 354/20) mit den zugehörigen Feststellungen hinsichtlich der zwei in Tateinheit mit Körperverletzung stehenden Fälle der Vergewaltigung sowie im gesamten Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen des in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs der Vergewaltigung in zwei Fällen (Fälle 1 und 4 der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt, von der es einen Monat wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt erklärt hat. Hinsichtlich der Fälle 2 und 3 der Urteilsgründe hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen.
2Die mit sachlich-rechtlichen Beanstandungen geführte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, die die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beanstandet, hat Erfolg und führt zugleich – insoweit allein zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) – zur Aufhebung des Strafausspruchs.
I.
31. Nach den in Rechtskraft erwachsenen Feststellungen suchte der einschlägig vorbestrafte Angeklagte nach seiner Haftentlassung zwischen September 2017 bis Ende September 2018 gezielt u.a. im Bereich des Straßenstrichs nach jung aussehenden, suchtmittelabhängigen Frauen, um diese für die von ihm präferierten sadistisch akzentuierten Sexualpraktiken gegen ein möglichst geringes Entgelt zu gewinnen.
4a) Am frühen Morgen des vereinbarte er mit der heroinabhängigen Nebenklägerin, die auf dem Straßenstrich der Prostitution nachging, für 35 Euro die Durchführung von Oral- und Vaginalverkehr. Obwohl die Nebenklägerin geäußert hatte, sie mache Oralverkehr „nur normal französisch“, nicht aber „tief“ bzw. „deep throat“, drückte der Angeklagte ihren Kopf derart tief auf seinen Penis, dass sie keine Luft mehr bekam. Trotz Kundgabe ihres Widerwillens in verbaler und körperlicher Form drückte er ihren Kopf weiter herunter und äußerte, nachdem er spätestens jetzt ihren entgegenstehenden Willen wahrnahm, sie solle ruhig sein, „sonst knalle er ihr eine“, wobei er wenigstens einmal auch ihren Kopf schmerzhaft an den Haaren hochzog. Unter diesem Eindruck und wegen ihres Suchtdrucks kam die Nebenklägerin der anschließenden Aufforderung des Angeklagten zum Vaginalverkehr nach. Dabei stieß er derart heftig in ihre Vagina, dass sie einen Schmerzlaut von sich gab und ihm mitteilte, „dass ihr der Geschlechtsverkehr zu fest sei und […] wehtue“, wobei sie sich aus seinem Griff zu lösen versuchte. Hierbei drehte ihr der Angeklagte schmerzhaft beide Arme auf den Rücken und drohte erneut, ihr „eine zu knallen“. Schließlich setzte sich der Angeklagte auf den Brustkorb der schmächtigen und zur Tatzeit an einer Bronchitis leidenden Nebenklägerin zur erneuten Durchführung des Oralverkehrs, bei dem sie keine Luft mehr bekam (Fall 1 der Urteilsgründe).
5b) Am fuhren der Angeklagte und die Nebenklägerin zur Durchführung von Oral- und Vaginalverkehr für 35 Euro auf ein Feld. Während des Oralverkehrs auf der Rückbank des Pkw drückte er erneut ihren Kopf „absprachewidrig“ fest auf seinen Penis. Gegen den sich daran anschließenden heftigen Vaginalverkehr protestierte sie und weinte, woraufhin ihr der Angeklagte drohte, „sie trocken anal zu nehmen, wenn sie nicht aufhöre zu weinen“ (Fall 4 der Urteilsgründe).
62. Das Landgericht hat – wie im ersten Durchgang – gegen den Angeklagten Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren und zwei Monaten (Fall 1 der Urteilsgründe) und zwei Jahren und sieben Monaten (Fall 4 der Urteilsgründe) verhängt. Sachverständig beraten hat es von der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB abgesehen, weil sich diese als unverhältnismäßig darstelle. Zwar liege „bei dem Angeklagten aufgrund des festgestellten Hangs zur Begehung schwerer Straftaten und der klar erkennbar eingeschliffenen Verhaltensmuster eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit und entsprechend eine erhöhte von ihm ausgehende Gefährlichkeit“ vor. Nicht auszuschließen sei indes, „dass die nunmehr zu verbüßende bzw. teils bereits verbüßte Haftstrafe doch noch zu einer Verhaltensänderung führen könnte, auch wenn diese nur von einer extrinsischen Motivation – nicht erneut inhaftiert zu werden – angetrieben werden dürfte“. Bei der vorzunehmenden Ermessensentscheidung sei insoweit auch zu berücksichtigen, dass dem Angeklagten im Falle einer erneuten Verurteilung wegen gleichgelagerter Straftaten die obligatorische Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB drohe.
II.
71. Mit ihrer Revision rügt die Staatsanwaltschaft allein die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB. Von dem Revisionsangriff wirksam ausgenommen ist der Teilfreispruch hinsichtlich der Fälle 2 und 3 der Urteilsgründe. Die Revision ist im Übrigen als auf den Rechtsfolgenausspruch mit Ausnahme der Kompensationsentscheidung beschränktes Rechtsmittel zu behandeln; die weitergehende Beschränkung der Revision allein auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung ist hier unwirksam. Das Landgericht hat die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung auch darauf gestützt, dass – nicht ausschließbar – der langjährige Strafvollzug zu einer Verhaltensänderung des Angeklagten führen könnte, womit es Strafe und Maßregel in einen inneren, eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließenden Zusammenhang gesetzt hat (vgl. , Rn. 2, insofern nicht abgedruckt in NStZ-RR 2011, 172; vom – 3 StR 148/13, NStZ 2013, 707; vom – 1 StR 538/19, NStZ-RR 2020, 308, 309, und vom – 5 StR 632/23, Rn. 9 mwN).
82. In der Sache beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB.
9a) Zutreffend hat das Landgericht die formellen Voraussetzungen für die fakultative Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB bejaht. Der Angeklagte wurde wegen Taten der in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 41 Buchst. a) StGB bezeichneten Art in zwei Fällen zu Freiheitsstrafen von drei Jahren und zwei Monaten und von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Darüber hinaus ist der Angeklagte durch Urteil des Landgerichts Aachen vom wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen Vergewaltigung und wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.
10b) Rechtsfehlerfrei hat die sachverständig beratene Strafkammer auch die materiellen Voraussetzungen der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB angenommen.
11c) Die Verhältnismäßigkeits- und Ermessenserwägungen, mit denen die Strafkammer von der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgesehen hat, sind jedoch nicht tragfähig. Die Strafkammer hat nicht nur beide Aspekte – Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62 StGB einerseits, Ermessensausübung nach § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB andererseits – rechtsfehlerhaft miteinander vermengt; sie halten auch für sich genommen rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
12aa) Nach der Vorschrift des § 62 StGB darf die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Die Norm nennt damit drei voneinander zu unterscheidende Kriterien, die als Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde zu legen sind. Dabei darf die Zulässigkeit der Maßregel jedoch nicht nach ihrem Verhältnis zu jedem einzelnen der in § 62 StGB bezeichneten Elemente beurteilt werden. Vielmehr sind alle Merkmale insgesamt zu würdigen und zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. , NJW 2001, 3560, 3562 mwN [insoweit in BGHSt 47, 52 nicht abgedruckt]).
13Diesen Grundsätzen trägt das angefochtene Urteil nicht Rechnung. Die Strafkammer leitet ihre sich mit der Frage der Verhältnismäßigkeit befassenden Urteilsausführungen zwar mit der wörtlichen Wiedergabe des § 62 StGB ein. Die nachfolgenden Erörterungen befassen sich aber mit Kriterien „der vorzunehmenden Ermessensentscheidung“, die nicht eröffnet wäre, wenn sich die Anordnung der Maßregel bereits als unverhältnismäßig darstellte (vgl. auch MüKo-StGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 62 Rn. 11). Eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der nach den Feststellungen vom Angeklagten zu erwartenden erheblichen Straftaten, die mit einer erheblichen Schädigung der Opfer einhergehen können, sowie mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit solcher Taten im Rahmen einer alle Kriterien des § 62 StGB umfassenden Gesamtwürdigung lässt das Urteil demgegenüber vermissen.
14bb) Bei der Ausübung des Ermessens ist das Tatgericht strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes gebunden (vgl. nur , NStZ-RR 2023, 42, 45). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll der Tatrichter die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit kann der Tatrichter dem Ausnahmecharakter der Vorschriften des § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB Rechnung tragen (vgl. , NStZ 2011, 692, 693, und vom – 4 StR 75/22, NStZ-RR 2023, 42, 45). Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (, NStZ-RR 2023, 42, 45).
15Ein Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung des tatrichterlichen Ermessens nach § 66 Abs. 2 und 3 StGB ist nur dann gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender sowie therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Zum Zeitpunkt des Urteilserlasses noch ungewisse positive Veränderungen und lediglich mögliche Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug genügen nicht (, Rn. 12; vom – 3 StR 148/13, NStZ 2013, 707, und vom – 2 StR 132/19, Rn. 23 mwN).
16An einer an diesen Kriterien ausgerichteten Ermessensentscheidung fehlt es ebenfalls. Die Strafkammer hat im Rahmen einer Zukunftsprognose lediglich für „nicht ausgeschlossen“ gehalten, dass die nunmehr zu verbüßende bzw. teils bereits verbüßte Haftstrafe „doch noch“ zu einer Verhaltensänderung des Angeklagten führen könnte, auch wenn diese nur von einer extrinsischen Motivation – nicht erneut inhaftiert zu werden – angetrieben werden dürfte. Konkrete Anhaltspunkte für diese lediglich nicht auszuschließende Verhaltensänderung des nicht therapiebereiten Angeklagten, wie etwa einen erwartbaren Erfolg resozia-lisierender und therapeutischer Maßnahmen im Strafvollzug, sind nicht festgestellt und liegen insbesondere vor dem Hintergrund der von ihr getroffenen Feststellung, wonach trotz der langjährigen Haftzeit und der annähernd zweijährigen Teilnahme an Gruppenmaßnahmen während der Haftzeit gerade keine günstige postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung zu verzeichnen sei und deswegen ein hohes Rückfallrisiko bestehe, nicht nahe.
17Im Übrigen hat die Strafkammer hinsichtlich der von ihr nicht ausgeschlossenen Wirkungen des Strafvollzugs ersichtlich nicht in den Blick genommen, dass die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren, von der ein Monat wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt erklärt wurde, zum Urteilszeitpunkt bereits nahezu vollständig durch die Anrechnung der vollzogenen Untersuchungshaft verbüßt war.
18cc) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei einer sorgfältigen Gesamtwürdigung aller Umstände hinsichtlich der Anordnung der Maßregel zu einer anderen Bewertung gelangt wäre.
193. Die Frage der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die insoweit gebotene Aufhebung des Urteils führt wegen des dargestellten untrennbaren Zusammenhangs – allein zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) – zur Aufhebung der verhängten Einzelfreiheitsstrafen und der Gesamtfreiheitsstrafe, auch wenn die Strafzumessung des Landgerichts für sich genommen keinen Rechtsfehler erkennen lässt. Der Senat kann aber letztlich nicht ausschließen, dass die Strafen niedriger ausgefallen wären, wenn zugleich die Sicherungsverwahrung angeordnet worden wäre (vgl. , BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 2, und vom – 2 StR 2/24, Rn. 25). Die ohne Rechtsfehler ergangene Kompensationsentscheidung bleibt von der Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs unberührt (vgl. , Rn. 19 mwN).
20Um dem neuen Tatgericht eine umfassende und widerspruchsfreie Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen, hebt der Senat die zugehörigen Feststellungen insgesamt auf.
Menges Zeng Meyberg
Grube Schmidt
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:091024U2STR515.23.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-79278