Instanzenzug: LG Hof Az: 22 T 219/24vorgehend AG Hof Az: 4 XIV 951/24 B
Gründe
1I. Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, versuchte am ohne Aufenthaltstitel und Pass oder Passersatz von Tschechien nach Deutschland einzureisen. Die Bundespolizei verweigerte ihm an der wiedereingeführten Grenzkontrollstelle des Grenzübergangs W die Einreise und betreibt seine Zurückweisung nach Algerien. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das für den Haftort zuständige Amtsgericht die zuvor von dem für den Aufgriffsort zuständigen Amtsgericht angeordnete Zurückweisungshaft bis zum verlängert. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Der Betroffene hat dagegen Rechtsbeschwerde eingelegt und beantragt darüber hinaus, die Vollziehung des die Haft verlängernden Beschlusses auszusetzen.
2II. Der Aussetzungsantrag hat keinen Erfolg.
31. Das Beschwerdegericht hält die Verlängerung der Zurückweisungshaft für rechtmäßig. Die Anordnung der Zurückweisungshaft sei nicht deswegen rechtswidrig, weil die Anhörung des Betroffenen ohne anwaltlichen Beistand stattgefunden hat. § 62d AufenthG sei auf die Zurückweisungshaft nicht anwendbar.
42. Der beim Rechtsbeschwerdegericht gestellte Aussetzungsantrag ist zwar in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97 Rn. 3; vom - V ZB 249/17, InfAuslR 2018, 99 Rn. 7; vom - XIII ZB 136/19, NVwZ-RR 2020, 1092 Rn. 5). Der Antrag ist aber unbegründet.
5a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat über die beantragte einstweilige Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (BGH, FGPrax 2010, 97 Rn. 5; Beschluss vom - V ZB 16/11, juris Rn. 6, jeweils mwN).
6b) Daran fehlt es hier. Die Verlängerung der Zurückweisungshaft ist nicht mangels Beiordnung eines anwaltlichen Vertreters rechtswidrig. § 62d AufenthG findet auf die Zurückweisungshaft keine Anwendung.
7aa) Gemäß § 62d AufenthG bestellt das Gericht dem Betroffenen, der noch keinen anwaltlichen Vertreter hat, zur richterlichen Entscheidung über die Anordnung von Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG und Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens einen anwaltlichen Vertreter als Bevollmächtigten. Nach § 2 Abs. 14 Satz 5 AufenthG findet § 62d AufenthG auf das Verfahren zur Anordnung der Überstellungshaft nach der Dublin-III-VO entsprechend Anwendung.
8bb) Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 62d AufenthG und nach dessen systematischer Stellung in Kapitel 5 (Beendigung des Aufenthalts) Abschnitt 2 (Durchsetzung der Ausreisepflicht) des Aufenthaltsgesetzes findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung auf die gegenüber einem an der Grenze zurückgewiesenen Ausländer angeordnete Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 AufenthG (vgl. Franz, NVwZ 2024, 216, 219; Kluth in BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed., § 62d Rn. 6 f.; Kretschmer in BeckOK MigR, 19. Ed., § 62d AufenthG Rn. 5).
9cc) § 62d AufenthG ist auch nicht analog auf die Zurückweisungshaft anzuwenden. Für eine solche Analogie fehlt es an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke des Gesetzes.
10(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung für eine Analogie das Vorliegen einer Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes. Ob eine derartige Lücke vorliegt, ist vom Standpunkt des Gesetzes und der ihm zugrundeliegenden Regelungsabsicht zu beurteilen. Das Gesetz muss, gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht, unvollständig sein (, RdE 2023, 27 Rn. 37 mwN - Windpark Högel). Die Lücke muss auf einem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem Regelungsplan beruhen, wie er sich aus dem Gesetz selbst im Wege der historischen und teleologischen Auslegung ergibt. Dabei muss die Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können (st. Rspr., , BGHZ 229, 59 Rn. 40; vom - KZR 101/20, BGHZ 239, 116 Rn. 41 - Fernwärmenetz Stuttgart; vom - EnZR 57/23, juris Rn. 37 - Lieferantenausfall bei Mittelspannungskunden, jeweils mwN).
11(2) Die Gesetzesbegründung zu dem erst auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat in das Gesetzesvorhaben einbezogenen § 62d AufenthG (Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung [Rückführungsverbesserungsgesetz] vom , BT-Drucks. 20/10090) verhält sich nicht zu einer Begrenzung der Pflicht zur Bestellung eines anwaltlichen Beistandes auf die Verfahren zur Anordnung von Abschiebungshaft, Ausreisegewahrsam und Überstellungshaft. Die Frage wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht erörtert (BT-Drucks. 20/10090, S. 18; Bundestag, Plenarprotokoll 20/147 vom , S. 18725 bis 18737; Bundesrat, Plenarprotokoll 1041 vom , S. 9, 10 f., 39).
12Nach der Begründung der Beschlussempfehlung wurde die Regelung indes zur besseren Sichtbarkeit direkt in das Aufenthaltsgesetz bei den Vorschriften zur Abschiebungshaft und zum Ausreisegewahrsam aufgenommen (BT-Drucks. 20/10090, S. 18). Daraus lässt sich schließen, dass eine Anwendung des § 62d AufenthG auf die weiteren im Aufenthaltsgesetz geregelten Haftarten vom Gesetzgeber nicht bezweckt war. Denn anderenfalls wäre die Aufnahme der Regelung bei den Vorschriften zur Abschiebungshaft und zum Ausreisegewahrsam der Sichtbarkeit der Vorschrift abträglich. Eine allgemeine Verfahrensvorschrift für jede Haftanordnung hätte aus systematischen Gründen und Gründen der Sichtbarkeit in das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) oder in das Kapitel 1 (Allgemeine Bestimmungen) des Aufenthaltsgesetzes eingefügt werden müssen. Auch die ausdrückliche Bezugnahme auf die Abschiebungshaft und den Ausreisegewahrsam einschließlich der Benennung der jeweiligen Gesetzesvorschrift (§§ 62, 62b AufenthG) in § 62d AufenthG zeigt, dass der Gesetzgeber keine umfassende Regelung für sämtliche Arten der Freiheitsentziehung nach dem Aufenthaltsgesetz beabsichtigt hat. Dass es im Aufenthaltsgesetz weitere Haftarten gibt, ist offensichtlich. Ein Versehen des Gesetzgebers ist daher nicht anzunehmen. Vor und während des Gesetzgebungsverfahrens wurden zudem in der Fachöffentlichkeit Gesetzesregelungen zur verpflichtenden Bestellung eines anwaltlichen Beistands erörtert, die - teilweise ausdrücklich - die Anordnung von Zurückweisungshaft umfasst hätten (vgl. Franz, JuWissBlog Nr. 4/2024 vom , https://www.juwiss.de/4-2024/; "Positionspapier Pflichtbeiordnung von Anwält:innen in der Abschiebungshaft" vom , S. 3). Danach erscheint es ausgeschlossen, dass dem Gesetzgeber der eingeschränkte Anwendungsbereich des § 62d AufenthG nicht bewusst war.
13dd) Entgegen dem Vortrag des Betroffenen gebietet auch Art. 3 Abs. 1 GG keine Gleichbehandlung von Abschiebungshaft und Zurückweisungshaft bei der Anwendung des § 62d AufenthG. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung ist nach den dafür geltenden Maßgaben zulässig. Die Zurückweisung dient nicht der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Ausländers, sondern dazu, schon dessen (unerlaubte) Einreise in das Bundesgebiet zu unterbinden und so zu verhindern, dass die Ausreisepflicht erst entsteht und dann gegen ihn durchgesetzt werden muss. Damit dient die Haft zur Sicherung einer Zurückweisung oder Einreiseverweigerung nicht der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Ausländers, sondern der Sicherung des Vollzugs der Einreiseverweigerung oder der Zurückweisung an der Grenze. Der Gesetzgeber hat mit § 15 AufenthG für die Zurückweisung und die Anordnung von Zurückweisungshaft ein abschließendes Sonderregime geschaffen (, NVwZ 2018, 1581 Rn. 13). Die Haftgerichte haben bei der Anordnung von Zurückweisungshaft nur den Erlass und den Fortbestand einer Zurückweisungsentscheidung, nicht dagegen zu prüfen, ob dem Ausländer der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet ist (, NVwZ 2018, 1583 Rn. 10). Dass der Gesetzgeber bei einer generalisierenden Betrachtung für diese Verfahren von einer geringeren Komplexität ausgegangen ist und von einer § 62d AufenthG entsprechenden Regelung abgesehen hat, ist daher nicht zu beanstanden.
14ee) Schließlich sieht auch das Unionsrecht keine verpflichtende Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes vor (vgl. Kluth in Kluth/Breidenbach/Junghans/Kolb, Das neue Migrationsrecht, 2024, Teil 2 Rn. 328). § 62d AufenthG stellt damit eine (zulässig) überschießende Umsetzung des Unionsrechts dar. Es lässt sich weder der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EU L 348 vom , S. 98) noch dem Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Europäischen Union (effet utile) eine Pflicht zur Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes in Verfahren zur Anordnung von Zurückweisungshaft entnehmen.
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ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:291024BXIIIZB76.24.0
Fundstelle(n):
XAAAJ-78520