Inzidentkontrolle eines Überlassungsverbots für Silvester-Feuerwerke im Rahmen des Infektionsschutzes
Leitsatz
Ein qualifizierter Grundrechtseingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG, der die Erhebung einer Feststellungsklage gegen bundesverordnungsrechtliche Überlassungsverbote von Pyrotechnik zum Jahreswechsel als sich typischerweise kurzfristig erledigende Maßnahmen rechtfertigt, verliert seinen Charakter nicht dadurch, dass der betroffene Unternehmer staatliche Sekundärleistungen (Ausgleichszahlungen oder Überbrückungshilfen) erhält.
Gesetze: Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 12 Abs 1 GG, Art 19 Abs 3 GG, § 43 Abs 1 VwGO, § 130a VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, Art 1 SprengV1ÄndV 3, Art 1 SprengV1ÄndV 4
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 6 B 1/23 Beschlussvorgehend Az: 1 K 452/20 Urteil
Gründe
I
1Die Klägerin ist eine auf dem Gebiet der Pyrotechnik tätige GmbH, die auch sog. "Silvester-Feuerwerke" der Kategorie F2 des § 3a des Gesetzes über explosionsgefährliche Stoffe herstellt und vertreibt. Sie wendet sich gegen die jeweils in Artikel 1 der Dritten und Vierten Verordnung zur Änderung der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz vom und vom (3. und 4. ÄndV1.SprengV) geregelten Verbote einer Überlassung solcher Feuerwerke an Verbraucher zu den Jahreswechseln 2020 und 2021.
2Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Sachurteil vom abgewiesen. Die angegriffenen Überlassungsverbote seien formell und materiell rechtmäßig.
3Im dagegen angestrengten Berufungsverfahren teilte das Gericht mit Schreiben vom , ergänzt mit Schreiben vom , mit, dass es beabsichtige über die Berufung gemäß § 130a VwGO im Beschlusswege zu entscheiden. Die Klägerin habe nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass sie nach Ablauf der Gültigkeit der Überlassungsverbote ein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Klärung des Rechtsstreits habe.
4Dagegen wandte die Klägerin mit Schriftsatz vom ein, eine mündliche Verhandlung sei zur Erörterung der vom erstinstanzlichen Gericht noch nicht thematisierten Zulässigkeitsfragen und zur Durchführung einer Beweiserhebung erforderlich. Es bestehe Wiederholungsgefahr, weil auch die Beklagte den erneuten Erlass eines vergleichbaren Verbots für die Zukunft nicht ausschließe. Zudem bestehe ein Präjudizinteresse für den vor dem Landgericht Verden unter dem Az. 2 O 277/23 anhängigen Haftungsprozess. Ein gerichtlicher Erfolg der Klägerin sei nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs überwiegend wahrscheinlich. Zur Frage der Schadenshöhe verwies sie auf ihren Vortrag in dem bereits abgeschlossenen verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren. Dort hatte die Klägerin im Schriftsatz vom im Verfahren 1 L 451/20 ausgeführt, sie erwirtschafte den ganz überwiegenden Teil ihres Jahresumsatzes zu den Silvesterfeierlichkeiten. Das Verbot gefährde ihre sowie die wirtschaftliche Existenz ihrer insgesamt 25 Beschäftigten und rund 70 Saisonarbeitskräfte. Sie habe im Vertrauen auf eine Verkaufsmöglichkeit ihre Produktionskapazitäten ausgeschöpft, pyrotechnische Gegenstände gekauft sowie Lager- und Verkaufsräume gemietet. Aus ihren Vorjahresumsätzen habe sie errechnet, dass sie im Geschäftsjahr 2020 einen Gesamtumsatz von 4 359 964 € erwirtschaftet hätte. Davon entfielen auf das Silvestergeschäft 3 695 622 €, das entspreche rund 85 % des Jahresumsatzes. Die Anmietung geeigneter Lagerkapazitäten für einen Verkauf im Folgejahr sei wirtschaftlich nicht sinnvoll. Im Eilverfahren 1 L 554/21 hatte sie mit Schriftsatz vom vorgetragen, der Umsatz im Dezember 2020 sei auf 305 769,13 € gegenüber 1 499 084,64 € im Dezember 2019 und damit um rund 80 % gefallen. Infolge des 2020 geltenden Überlassungsverbots habe sie ca. 500 Tonnen Warenlieferungen eingelagert. Weitere ca. 500 Tonnen kämen für das Geschäftsjahr 2021 dazu. Sie beziehe ihre Ware aus China und müsse ca. 1,5 Jahre im Voraus bestellen. Es werde Kapital in großer Menge gebunden. Der erhöhte logistische Aufwand habe sich damals bereits in ca. 700 Überstunden der Mitarbeiter niedergeschlagen. Im hier streitgegenständlichen Verfahren erläuterte sie ergänzend, die erlittenen Schäden durch Umsatz- und Gewinneinbußen gingen in Millionenhöhe. Dazu kämen erhebliche Aufwendungen für Lagerung, erhöhte Aufwendungen bei der Kundenbetreuung, den Rücktransport von Ware, Schäden durch zusätzliche Transporte oder Lagerung, Vorfinanzierungen und aufgelaufene Zinsen und Vorbestellungen zur Vermeidung einer Auslistung bei den Lieferanten, die sie derzeit noch nicht konkret beziffern könne. Sie hätte mit dem Silvestergeschäft der Jahre 2020 und 2021 jeweils bis zu 80 % ihres Jahresumsatzes erwirtschaftet. Sie habe für den Zeitraum März 2020 bis Juni 2020 vorläufige Corona-Überbrückungshilfen in Höhe von 6,5 Millionen € erhalten. Zum Beweis der eingetretenen Schäden und Verluste bot die Klägerin die Vernehmung des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters H. an und regte die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Schließlich bestehe auch ein berechtigtes Feststellungsinteresse, weil die Überlassungsverbote nur eine kurze Geltungsdauer aufgewiesen und die faktische Untersagung der gewerblichen Tätigkeit einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff bewirkt hätten. Die Intensität des Grundrechtseingriffs sei durch die im Billigkeitswege gewährten Überbrückungshilfen nicht abgemildert. Im Übrigen sei die Gewährung nur vorläufig und es sei mit einer Rückforderung ggf. überschüssig gewährter Beträge zu rechnen.
5Das Berufungsgericht teilte mit Schreiben vom mit, dass es auch unter Berücksichtigung des ergänzten Vortrages nicht erkennen könne, dass die Klage zulässig sei. Eine Wiederholungsgefahr sei nicht ersichtlich. Hinsichtlich des Präjudizinteresses fehle es an der hinreichend substantiierten Darlegung der hierfür in der Rechtsprechung anerkannten Voraussetzungen. Das gelte auch im Hinblick auf ein berechtigtes Feststellungsinteresse bei gewichtigen Grundrechtsbeeinträchtigungen. Die Klägerin teilte mit Schreiben vom mit, das Anhörungsschreiben des Gerichts lasse keine Auseinandersetzung mit ihrem Vorbringen erkennen. Dies verletze ihr Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO.
6Mit Beschluss vom wies das Oberverwaltungsgericht die Berufung zurück. Der Senat entscheide nach § 130a VwGO, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachte. Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei unzulässig, ein berechtigtes Interesse der Klägerin an einer gerichtlichen Sachentscheidung sei weder dargetan noch sonst ersichtlich. Wegen der grundlegend veränderten epidemischen Lage fehle es an einer konkreten Wiederholungsgefahr. Auch ein Präjudizinteresse sei zu verneinen, weil der behauptete Schadens- bzw. Entschädigungsanspruch offensichtlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt bestehen könne. Schließlich begründeten die streitgegenständlichen Überlassungsverbote auch keinen gewichtigen Grundrechtseingriff in Art. 12 Abs. 1 GG, der angesichts der kurzfristigen Erledigung die Gewährung nachträglichen Rechtsschutzes gebieten könnte. Die Klägerin könne sich zwar über Art. 19 Abs. 3 GG auf ihre Berufsfreiheit berufen und sei aufgrund der angegriffenen Vorschriften auch gezwungen worden, einen Teil ihrer beruflichen Tätigkeit im gesamten Bundesgebiet vollständig einzustellen. Sie habe Feuerwerk der Kategorie F2 aber weiterhin produzieren und außerhalb des Bundesgebiets vertreiben können. Zudem seien pyrotechnische Gegenstände anderer Kategorien nicht erfasst gewesen. Auch habe die Klägerin weitere Geschäftszweige wie die Veranstaltung von Groß- und Musikfeuerwerken auf privaten und öffentlichen Veranstaltungen, Indoorfeuerwerke für Produktpräsentationen, Bühnenpyrotechnik und pyrotechnische Inszenierungen u. a. für Film- und Fernsehaufnahmen, Musikproduktionen, Ausführungen von Waterfalls auf Messen und in Verkaufsräumen weiterhin ausüben können. Sie sei daher - anders als von Schließungen betroffene Freizeiteinrichtungen - nicht zu einer gänzlichen Aufgabe ihrer Berufsausübung gezwungen gewesen. Zudem sei das Eingriffsgewicht durch staatliche Hilfsprogramme gemindert. Die Klägerin habe Corona-Überbrückungshilfen erhalten, die ungefähr das Doppelte des von ihr prognostizierten Silvesterumsatzes 2020 betragen hätten. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin mit einer Rückforderung der Hilfsgelder oder weiteren, davon nicht gedeckten Schäden rechnen müsse. Die schriftsätzlich angeregte Beweiserhebung stelle einen unzulässigen Ausforschungsbeweis dar, dem der Senat nicht nachzugehen brauche. Die Klägerin trage zu weiteren wirtschaftlichen Verlusten nicht substantiiert vor und lasse unerwähnt, dass sich ihr Geschäftsbetrieb nicht in den untersagten Überlassungen erschöpfe. Es könne nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass das Eingriffsgewicht trotz der Corona-Überbrückungshilfen als schwerwiegend zu beurteilen oder die Klägerin in eine existenzbedrohende Lage geraten sei. Bloße Beeinträchtigungen der Gewinnchancen seien mit Blick auf den unsubstantiierten Vortrag der Klägerin als innerhalb ihres Berufsrisikos liegend zu betrachten. Die Klägerin müsse sich vorhalten lassen, dass das Berufungsgericht bereits im Rahmen des Eilverfahrens angenommen habe, die Angaben zu erheblichen Umsatzeinbußen seien nicht ansatzweise glaubhaft gemacht. Darauf habe auch das erstinstanzliche Urteil verwiesen. Es hätte daher vor dem Hintergrund der Hinweise des Senats vom 22. Januar und für die Klägerin Anlass bestanden, hierzu entsprechend vorzutragen. Das habe sie versäumt.
7Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im angegriffenen Beschluss. Sie beruft sich auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO und macht unter anderem geltend, die Abweisung der Klage als unzulässig durch das Berufungsgericht sei verfahrensfehlerhaft. Die Überlassungsverbote hätten faktisch zu einer vollständigen Untersagung der gewerblichen Tätigkeit und damit zu einem schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG geführt. Andere Geschäftszweige hätten nur einen geringen Anteil am Umsatz. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das Berufungsurteil eine weitere Substantiierung einfordere. Die Ablehnung des Beweisantrags der Klägerin verstoße gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und stelle einen Verfahrensfehler dar. Die Intensität des Eingriffs werde durch die - nur vorläufig - gewährten Überbrückungshilfen allenfalls abgemildert.
8Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Beschluss.
II
9Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 133 Abs. 6 VwGO).
10Der im Berufungsverfahren ergangene Beschluss beruht, wie die Klägerin zurecht geltend macht, auf einer Verletzung des Verfahrensrechts (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Denn das Berufungsgericht hätte bei zutreffender Rechtsanwendung ein berechtigtes Interesse der Klägerin im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO an der begehrten Feststellung bejahen und über die Klage in der Sache entscheiden müssen. Bei Zweifeln an der Richtigkeit der von der Klägerin geschilderten Auswirkungen der zweimaligen Überlassungsverbote auf deren Berufsausübung hätte es den Sachverhalt von Amts wegen näher aufklären müssen, § 86 Abs. 1 VwGO.
111. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass ein Verfahrensmangel i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vorliegt, wenn die Vorinstanz die Sachentscheidungsvoraussetzungen einer Klage unzutreffend handhabt und deshalb nicht zur Sache entscheidet (vgl. zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO: 6 B 22.22 - NVwZ-RR 2023, 342 Rn. 12 m. w. N.). Die Entscheidung muss auf einer fehlerhaften Anwendung der prozessualen Vorschriften beruhen, z. B. einer Verkennung ihrer Begriffsinhalte und der zugrunde zu legenden Maßstäbe (vgl. zu § 42 Abs. 2 VwGO: 11 B 150.95 - Buchholz 424.5 GrdstVG Nr. 1 S. 1 f.). Diese Grundsätze gelten auch bei einer fehlerhaften Abweisung der Klage als unzulässig wegen eines fehlenden berechtigten Interesses im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO. Ein Verfahrensfehler liegt vor, wenn in einer Entscheidung die an das berechtigte Interesse zu stellenden Anforderungen verkannt werden, das Gericht mithin der prozessrechtlichen Vorschrift des § 43 Abs. 1 VwGO ein unzutreffendes Verständnis des berechtigten Interesses zugrunde gelegt hat ( 6 B 14.17 - NVwZ 2018, 739 Rn. 12).
122. Die Klägerin begehrt im vorliegenden Verfahren die Feststellung, dass die streitgegenständlichen Überlassungsverbote für die Jahre 2020 und 2021 rechtswidrig waren, hilfsweise auf von der Klägerin gehandelte pyrotechnische Gegenstände keine Anwendung fanden. Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anwendung untergesetzlicher Rechtssätze einer Bundesverordnung auf konkrete Rechtsverhältnisse mit Hilfe der Feststellungsklage grundsätzlich möglich (vgl. 11 C 13.99 - BVerwGE 111, 276 <278>; - BVerfGE 115, 81 <95 f.>). Für die Zulässigkeit einer auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses gerichteten Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO ist jedes als schutzwürdig anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art ausreichend. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Feststellung geeignet erscheint, die Rechtsposition des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern (stRspr, vgl. 6 C 66.14 - Buchholz 422.1 Presserecht Nr. 15 Rn. 16 und vom - 6 C 46.16 - BVerwGE 160, 169 Rn. 20). Dies gilt auch für Rechtsverhältnisse, die einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt betreffen, mithin auch für solche Klagen, die auf die inzidente Überprüfung einer außer Kraft getretenen Rechtsnorm zielen. Die Klärung von in der Vergangenheit bestehenden Rechtsverhältnissen kann nach der Rechtsprechung in den zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie bei der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses erreicht werden. Ein Feststellungsinteresse kann sich aber auch bei Vorliegen eines sich typischerweise kurzfristig erledigenden, qualifizierten Eingriffs ergeben. Denn der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kann die Anerkennung eines Feststellungsinteresses erfordern, wenn sich die unmittelbare Belastung durch den schwerwiegenden Hoheitsakt auf eine Zeitspanne beschränkt, in der die Entscheidung des Gerichts kaum zu erlangen ist (vgl. zu dieser Fallgruppe näher 6 C 2.22 - NVwZ 2024,1027 Rn. 21 ff.).
133. Vorliegend kann die Klägerin ein fortbestehendes Feststellungsinteresse infolge eines solchen qualifizierten Grundrechtseingriffs geltend machen.
14a. Nach den zutreffenden Erwägungen des Berufungsgerichts (BA S. 10) liegt mit den hier streitigen Überlassungsverboten jeweils für den Jahreswechsel 2020 und 2021 eine Fallgestaltung vor, in der nach der Eigenart des geregelten Sachverhalts typischerweise eine Hauptsacheentscheidung durch die Gerichte vor deren Außerkrafttreten kaum zu erlangen ist. Denn die vom Überlassungsverbot betroffenen "Silvester-Feuerwerke" der Kategorie F2 unterliegen gemäß § 22 Abs. 1 der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz einem ganzjährigen Überlassungsverbot an Verbraucher, das jeweils nur für den Jahreswechsel aufgehoben ist. Damit beschränkte sich der Anwendungszeitraum des zusätzlich durch die streitigen Normen jeweils im Dezember eingefügten Überlassungsverbots lediglich auf die letzten Tage des Jahres 2020 und 2021. Eine Überprüfung dieses - ergänzenden - Verbots war während ihres jeweiligen Gültigkeitszeitraumes in einem Hauptsacheverfahren nicht zu erlangen.
15b. Entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts führte diese Rechtslage bei der Klägerin auf der Grundlage ihres Vortrages auch zu einem qualifizierten Eingriff in ihre Berufsausübungsfreiheit (Art. 19 Abs. 3 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG). Für die vom Berufungsgericht eingeforderte vertiefte Darlegungslast zu den durch die Ausgleichszahlungen nicht kompensierten Vermögensschäden ist kein Raum.
16aa. Der Senat hat zuletzt in seinem Urteil vom Kriterien herausgearbeitet, die zur Prüfung des Vorliegens eines qualifizierten Grundrechtseingriffs herangezogen werden können. In der vorliegenden Konstellation eines Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ist dabei eine Einzelfallwürdigung - der Ermittlung des durch Art. 19 Abs. 2 GG garantierten Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts vergleichbar - geboten, die zum einen die besondere Bedeutung des betroffenen Grundrechts im Gesamtsystem der Grundrechte berücksichtigt und zum anderen ist zu bewerten, inwieweit die fragliche Maßnahme die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung in dem durch das Grundrecht erfassten Lebensbereich beschränkt. Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sind zur sachgemäßen Eingrenzung nur ausnahmsweise als so gewichtig anzusehen, dass sie in dem Fall ihrer Erledigung die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses rechtfertigen ( 6 C 2.22 - NVwZ 2024, 1027 Rn. 34 f.).
17bb. Vorliegend waren die Überlassungsverbote entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auf der Grundlage des Vortrages der Klägerin im Eil- und Hauptsacheverfahren von gravierender Auswirkung auf deren Berufsausübung. Denn ausweislich ihrer Darlegungen war der Klägerin die Durchführung ihres Kerngeschäfts in Form des Vertriebes von Silvesterfeuerwerk in den Jahren 2020 und 2021 nicht möglich. Dem Berufungsgericht ist zwar zuzugeben, dass die Überlassungsverbote kein Eingriffsgewicht erreichten, das einem temporären Berufsverbot gleichkäme, weil es nicht mit einer völligen Betriebsschließung einherging, wie dies etwa für bestimmte Geschäfte oder Freizeiteinrichtungen der Fall war. Die Überlassungsverbote betrafen aber nach den Schilderungen der Klägerin nicht lediglich ein untergeordnetes Teilsortiment, sondern das für ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zentrale Produkt. Die Klägerin hatte im Eilverfahren erläutert, dass sie 85 % ihres Umsatzes mit Silvesterfeuerwerken der betroffenen Kategorie F2 erziele und diesen Umsatz im Jahr 2020 auch tatsächlich eingebüßt habe. Sie hat auch geschildert, dass Lagerhaltung und Transport sowie die erforderliche Vorfinanzierung erhebliche Zusatzkosten auslösten, die grundsätzlich existenzgefährdend hätten sein können. Sie sei aufgrund der streitgegenständlichen Vorschrift gezwungen gewesen, die Abgabe von bereits beschafften Feuerwerkskörpern der Kategorie F2 für den gewinnträchtigsten Zeitraum der beiden Jahre einzustellen, ohne dass sich der versäumte Umsatz zu einem späteren Zeitraum hätte nachholen lassen. Dies lässt eine nicht nur geringfügige oder für die gewählte Form der Berufsausübung irrelevante Beeinträchtigung ihres Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 3 GG möglich erscheinen (vgl. in einer ähnlichen Konstellation hinsichtlich eines Verkaufs- und Verwendungsverbots für Feuerwerk: OVG Lüneburg, Urteil vom - 14 KN 30.22 - juris Rn. 45). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass sich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse auch aus einer "bloßen" Beschränkung des Geschäftsbetriebs durch coronabedingte Rechtsakte ergeben kann, ohne dass eine völlige Schließung vorliegen müsste (vgl. zu "2G"-Zugangsbeschränkungen 3 CN 8.22 - juris Rn. 14). Nicht unberücksichtigt darf zudem bleiben, dass die weiteren im Berufungsbeschluss angeführten Geschäftszweige der Klägerin wie Groß- oder Musikfeuerwerke, Firmenevents oder pyrotechnische Inszenierungen durch anderweitige coronabedingte Einschränkungen wie Kontaktbeschränkungen in den Jahren 2020 und 2021 gleichfalls erheblich eingeschränkt waren. Die von der Klägerin geschilderten Auswirkungen des Überlassungsverbots auf ihren Geschäftsbetrieb sind in ihrer grundrechtlichen Bedeutung von erheblichem Gewicht, weil sie nicht lediglich Gewinnchancen beeinträchtigen, sondern die generelle wirtschaftliche Tragfähigkeit des von der Klägerin unter erheblichem Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen ausgeübten Geschäftsmodells "Vertrieb von Pyrotechnik" berühren. Hinzu kommt, dass ihr die Abgabe der pyrotechnischen Gegenstände in zwei aufeinanderfolgenden Jahren untersagt worden ist.
18cc. Das Feststellungsinteresse wird entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht durch staatliche Hilfsprogramme beseitigt oder gemindert, mit der Folge, dass der schwerwiegende Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Klägerin keiner rechtlichen Überprüfung mehr bedürfte. Auch wenn staatliche Ausgleichszahlungen oder Überbrückungshilfen das Gewicht eines Eingriffs in die Berufsfreiheit bei der Prüfung von dessen Verhältnismäßigkeit mindern und in milderem Licht erscheinen lassen können (vgl. - NJW 2022, 1672 Rn. 28), sind sie als sekundäre Kompensationsleistungen nicht geeignet, einem Kläger die prozessrechtlich grundsätzlich gebotene gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit der Gültigkeit von nicht weiter vollzugsbedürftigen untergesetzlichen Normen zu nehmen (vgl. 3 CN 6.22 - BVerwGE 178, 322 Rn. 16). Denn eine finanzielle Kompensation kann für sich genommen dem Bedeutungsgehalt der Berufsfreiheit nicht gerecht werden, die in erster Linie persönlichkeitsbezogen ist, also im Bereich der individuellen beruflichen Leistung und Existenzerhaltung das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit konkretisiert ( - a. a. O.).
19dd. Soweit das Berufungsgericht Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Darstellung der wirtschaftlichen Auswirkungen durch die Klägerin anklingen lässt, hätte es den erheblichen Sachverhalt nach § 86 Abs. 1 VwGO von Amts wegen näher aufklären müssen und etwa dem von der Klägerin unterbreiteten Beweisangebot, zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Überlassungsverbote ihren Steuerberater zu vernehmen, nachkommen können. Für die Sachurteilsvoraussetzungen und damit auch die Frage, ob der als schwerwiegend geschilderte Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit tatsächlich vorlag, trifft die Klägerin im Klageverfahren - anders als im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes - keine gesteigerte Darlegungslast, deren Nichterfüllung das Gericht von der eigenständigen Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts entbinden könnte. Ob die Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, ist vom Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. m. w. N. 4 B 110.93 - NVwZ 1994, 482 <483>).
20ee. Ob die Antragstellerin ihr besonderes Interesse an der nachträglichen Feststellung der Unwirksamkeit der Norm darüber hinaus auch mit Erfolg auf die präjudizielle Wirkung für die beabsichtigte Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs oder eine zu erwartende Wiederholungsgefahr stützen kann, kann offenbleiben.
214. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Befugnis Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben, und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Mangels einer Aufbereitung des von der Klägerin vorgetragenen und teils auch mit Beweisangeboten unterstützten Sachverhalts durch das Berufungsgericht erweist sich die Durchführung eines Revisionsverfahrens als nicht prozessökonomisch.
22Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO), weil die weiteren Zulassungsrügen eine inhaltliche Teilidentität mit dem erfolgreich geltend gemachten Verfahrensmangel aufweisen und die Voraussetzungen einer Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt sind (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 8 B 47.14 - NVwZ 2015, 600, Rn. 5 f. m. w. N. und vom - 2 B 14.23 - NVwZ 2024, 256). Demzufolge hat das Berufungsgericht, auch wenn § 130a VwGO keine ausdrücklichen Einschränkungen enthält, bei der Ausübung des ihm dort eingeräumten Ermessens zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück auch des Berufungsverfahrens erweist (§ 125 Abs. 1 i. V. m. § 101 Abs. 1 VwGO). Einzubeziehen ist ferner, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus der Verfahrensgarantie Art. 6 Abs. 1 EMRK im Einzelfall die Notwendigkeit herleitet, auch in der zweiten Instanz mündlich zu verhandeln, wenn im konkreten Fall zentrale strittige Tatfragen zur Entscheidung anstehen und für die tatsächliche Feststellung die Entscheidungsfindung allein aufgrund der Aktenlage nicht sachgerecht möglich ist (vgl. dazu näher 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 23). Für die vorliegend nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zentrale Frage der Relevanz der Überlassungsverbote für den klägerischen Betrieb betrachtete das Berufungsgericht die Aktenlage und das Vorbringen der Klägerin als unzureichend und recherchierte daher im Internet über den klägerischen Geschäftsbetrieb. Dies hätte ihm Anlass geben müssen, diese Fragen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit der Klägerin zu erörtern.
235. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG; sie entspricht der Wertfestsetzung des Oberverwaltungsgerichts.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:240924B6B10.24.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-78033