Anhörungsrüge im Fall eines selbständigen Zwischenverfahrens
Leitsatz
NV: Die Beschränkung des § 133a Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), demzufolge eine Anhörungsrüge gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung nicht statthaft ist, gilt nicht für Beschwerdeentscheidungen des Bundesfinanzhofs in Bezug auf Beschlüsse eines Finanzgerichts, gegen die die Beschwerde gemäß § 128 Abs. 1 FGO statthaft ist.
Gesetze: FGO § 128 Abs. 1; FGO § 133a Abs. 1 Satz 2
Instanzenzug: (BFH/NV 2024, 38)
Tatbestand
I.
1 Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) hatte nach einer Außenprüfung Änderungsbescheide erlassen, gegen die der Antragsteller, Beschwerdeführer und Rügeführer (Rügeführer) Einspruch einlegte und schließlich Klage erhob, die beim Finanzgericht (FG) Münster unter 7 K 2924/22 E,G,U (ANH) geführt wird. Ferner beantragte er bei dem FA und anschließend bei dem FG die Aussetzung der Vollziehung (AdV), die beim FG unter 7 V 2927/22 E,G,U eingetragen ist.
2 Innerhalb des AdV-Verfahrens beantragte der Rügeführer Einsichtnahme in die Steuerakten sowie eine Reihe von Unterlagen, die er selbst im Rahmen der Außenprüfung dem FA zur Verfügung gestellt hatte. Dies ergänzte er kurz darauf um den Antrag, aus der Betriebsprüfungsakte sowie den von ihm selbst eingereichten Unterlagen eine CD (Daten-CD) zu fertigen und ihm davon eine Kopie zu überlassen. Durch Beschluss vom - 7 V 2927/22 E,G,U lehnte das FG diesen Antrag ab. Der Rügeführer legte Beschwerde ein. Der Senat hat die Beschwerde durch Beschluss vom - X B 35/23 (AdV) (BFH/NV 2024, 38) als unbegründet zurückgewiesen.
3 Gegen diesen Beschluss hat der Rügeführer am Anhörungsrüge erhoben. Dabei handelt es sich um das vorliegende Verfahren X S 43/23. Der Rügeführer trägt vor, der Bundesfinanzhof (BFH) habe in diesem Beschluss seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, und zwar in Bezug auf die Feststellung, der Rügeführer habe das rechtliche Interesse an der Überlassung einer Daten-CD nicht dargelegt, da er keine Ausnahmesituation aufgezeigt habe.
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Zur Begründung trägt er sinngemäß Folgendes vor: | |
- | Der BFH gehe in seinem Beschluss nicht darauf ein, dass er dem Prüfer seine Buchführung habe übergeben müssen und deshalb keine Unterlagen mehr besessen habe, um die Darlegungen des FA zu widerlegen. Von einer Waffengleichheit könne im Verfahren vor dem FG nicht mehr gesprochen werden. Es trete hinzu, dass bei der Außenprüfung in einem größeren Unternehmen von den Buchungsbelegen Kopien gefertigt würden, während der Kleinunternehmer die Unterlagen hergeben müsse und bis in das Gerichtsverfahren keinen Zugriff und keine Kopiermöglichkeit mehr habe. |
- | Der BFH gehe fälschlicherweise davon aus, dass es für die Gewährung rechtlichen Gehörs ausreiche, wenn der Bevollmächtigte sich bei der Akteneinsicht einen Überblick über den Steuerfall habe verschaffen können. Er hätte vorab zu der Ansicht des BFH gehört werden müssen, eine auf wenige Stunden begrenzte Akteneinsicht, die unter Aufsicht stattfinde und kein Mandantengespräch ermögliche, reiche aus. |
- | Der BFH hätte darauf hinweisen müssen, dass er weiteren Vortrag dazu erwarte, warum Kopien aus dem dünnen Ordner mit den aus Sicht des Prüfers auffälligen Belegen zur Rechtsverteidigung nicht ausreichten: Er suche nach entlastenden Beweisen und nicht nach belastenden Belegen. |
- | Es hänge von Zufälligkeiten (nämlich der Digitalisierung des Beweismittelordners durch die Außenprüfung) ab, ob er eine Datenkopie und damit effektiven Rechtsschutz erhalte oder nicht. |
5 Ferner weist der Rügeführer darauf hin, der Senat gehe selbst davon aus, dass die Außenprüfung keine Unterlagen einbehalten, sondern kopieren und wieder herausgeben müsse, allerdings die Herausgabe auf dem Umweg über das FA erfolgen müsse. Zur Abkürzung des weiteren Verfahrens beantragt der Rügeführer, dem FG aufzugeben, die beigezogenen drei Ordner mit den Buchführungsunterlagen des Rügeführers dem FA auszuhändigen, damit dieses in der Lage sei, ihm die rechtswidrig einbehaltenen Unterlagen herauszugeben.
Gründe
II.
6 Die Anhörungsrüge ist —ungeachtet der Frage, ob die gesetzlichen Darlegungsanforderungen des § 133a Abs. 2 Satz 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erfüllt sind— jedenfalls unbegründet.
7 1. Nach § 133a Abs. 1 Satz 1 FGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn unter anderem das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
8 a) Gemäß § 133a Abs. 1 Satz 2 FGO findet gegen eine der Endentscheidung vorausgehende Entscheidung die Rüge nicht statt. Die Einschränkung gilt nicht für selbständige Zwischenverfahren, in denen abschließend und mit Bindungswirkung für das weitere Verfahren eine Entscheidung getroffen wird, die später nicht mehr im Rahmen einer Inzidentprüfung korrigiert werden kann (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom - 1 BvR 782/07, BVerfGE 119, 292, Rz 22, zu der Parallelvorschrift in § 78a Abs. 1 Satz 2 des Arbeitsgerichtsgesetzes; vom - 1 BvR 3113/08, Neue Juristische Wochenschrift 2009, 833, Rz 10, zu der Parallelvorschrift in § 321a Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozessordnung; Bergkemper in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 133a FGO Rz 15). Abgesehen von den Verfahren betreffend die Prozesskostenhilfe (Senatsbeschluss vom - X B 82/13, BFH/NV 2013, 1598, Rz 10) sowie Kostenstreitigkeiten (Senatsbeschluss vom - X B 94/14, BFH/NV 2015, 218, Rz 7) gilt das jedenfalls für die Beschwerdeentscheidungen des BFH in Bezug auf solche FG-Beschlüsse, gegen die die Beschwerde statthafter Rechtsbehelf ist. Das FG wäre nicht befugt, innerhalb seiner Endentscheidung den im Zwischenverfahren ergangenen Beschluss des BFH auf seine Richtigkeit hin zu prüfen und gegebenenfalls unbeachtet zu lassen.
9 b) Im Verfahren nach § 133a FGO kann ausschließlich die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerügt werden. Einwendungen gegen die materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung können im Verfahren über die Anhörungsrüge nicht vorgebracht werden. Die Anhörungsrüge dient nicht dazu, die Richtigkeit der zugrunde liegenden Entscheidung zu überprüfen (vgl. Senatsbeschluss vom - X S 8/11, BFH/NV 2011, 1383, Rz 13; , BFH/NV 2020, 372, Rz 10).
10 aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 FGO verpflichtet das Gericht unter anderem, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der tatsächlichen Würdigung oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (ständige Rechtsprechung, vgl. , Deutsches Verwaltungsblatt 2008, 1056; z.B. , BFH/NV 2023, 1219, Rz 3). Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO sind erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. u.a. , BFH/NV 2022, 1061, Rz 13, m.w.N.).
11 bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst auch das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und —gegebenenfalls— Beweisergebnissen zu äußern sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten. Das Gericht ist aber nicht verpflichtet, die einzelnen für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten, einen Hinweis auf seine Rechtsauffassung zu geben oder das Ergebnis seiner Gesamtwürdigung offenzulegen (, BFHE 160, 256, BStBl II 1990, 539, unter 1.; BFH-Beschlüsse vom - V B 113/10, BFH/NV 2011, 1523, Rz 6, m.w.N. und vom - II B 105/10, BFH/NV 2012, 254, Rz 13).
12 Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss jedenfalls ein sachkundig vertretener Verfahrensbeteiligter alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. nur , BVerfGE 86, 133, unter C.III.1.a). Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt erst dann vor, wenn das Gericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn das Gericht einen entscheidungserheblichen Umstand erst mit dem Endurteil in das Verfahren einbringt (vgl. u.a. , BFH/NV 2022, 1061, Rz 14, m.w.N.).
13 2. Nach diesen Maßstäben ist die Rüge zulässig. Insbesondere greift die Beschränkung nach § 133a Abs. 1 Satz 2 FGO nicht ein, da die zugrunde liegende FG-Entscheidung in einem selbständigen Zwischenstreit innerhalb des beim FG anhängigen AdV-Verfahrens 7 V 2927/22 E,G,U ergangen ist und deshalb gesondert anfechtbar war. Die Rüge ist jedoch unbegründet, weil eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht vorliegt.
14 a) Nicht zutreffend ist die sinngemäße Rüge des Rügeführers, der Senat gehe in seinem Beschluss nicht darauf ein, dass er mangels Unterlagen nicht mehr zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung in der Lage gewesen sei.
15 Zum einen verkennt dies, dass bereits in der Darstellung des Beschwerdevortrags auf Seite 4 des Beschlusses das Vorbringen des Rügeführers, er könne sich „ohne die eingereichten Belege (.) nicht wirksam gegen den Tatvorwurf der Steuerhinterziehung wehren .“, erwähnt worden ist. Schon dies zeigt, dass der Senat diesen Vortrag zur Kenntnis genommen hat. Zum anderen hat sich der Senat ab Seite 11 im Zusammenhang mit der Frage, ob der Rügeführer ein berechtigtes Interesse zur Bereitstellung des Inhalts der Akte als Daten-CD hat, gerade mit diesem Vortrag und insbesondere mit dem Aspekt der Waffengleichheit befasst. Er hat den Sachverhalt lediglich im Ergebnis anders gewürdigt als der Rügeführer. In dem Beschluss heißt es, der Rügeführer habe aus Sicht des Senats nicht deutlich gemacht, warum er sich nur mittels einer Daten-CD gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung wehren könne und warum diese CD zur Erstellung der von ihm für notwendig erachteten Geldverkehrsrechnung benötigt werde. Auch dies zeigt, dass der Senat den Vortrag des Rügeführers, ihm hätten keine Unterlagen mehr zur Widerlegung der Darlegungen des FA zur Verfügung gestanden, sehr wohl zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Darüber hinaus geht der Senat ab Seite 13 erneut auf die vom Rügeführer angesprochene Ausnahmesituation ein und macht deutlich, dass sich selbst aus einem etwaigen Herausgaberecht gegenüber dem FA kein Anspruch auf Fertigung und Aushändigung einer Daten-CD ergebe. Ausdrücklich spricht der Senat auf Seite 14 seines Beschlusses dabei das Einbehalten der Unterlagen durch den Prüfer an.
16 Letztlich wendet sich der Rügeführer mit dieser Rüge allein gegen die rechtliche Beurteilung durch den Senat, womit er jedoch keine Verletzung rechtlichen Gehörs begründen kann.
17 b) Soweit der Rügeführer meint, dass der Senat fehlerhaft davon ausgegangen sei, für den Überblick in den Streitfall reiche eine Akteneinsicht aus, die gegebenenfalls nur wenige Stunden umfasse, wiederholt er nicht nur sein Vorbringen aus dem Beschwerdeverfahren. Er wendet sich auch mit diesem Vortrag gegen die Rechtsansicht des Senats im Beschluss, die im Übrigen nicht darin besteht, dass die Akteneinsichtsmöglichkeit generell ausreichend sei, sondern darin, dass der Rügeführer mehr dazu hätte vortragen müssen, warum die Akteneinsichtsmöglichkeit und die Möglichkeit, Kopien fertigen zu lassen, im konkreten Fall nicht ausreichend gewesen sein sollen. Besonderer Hinweise bedurfte es nicht, weil die Frage, ob der Rügeführer zur Sicherung seiner prozessualen Rechte einen Anspruch auf die Daten-CD hatte, wesentlicher Teil des vorliegenden Zwischenstreits ist und deshalb auch ohne zusätzliche Hinweise Anlass zu umfassendem Vortrag bestand.
18 c) Aus vergleichbaren Gründen musste der Senat den Rügeführer nicht darauf hinweisen, dass aus seiner Sicht zusätzlicher Vortrag dazu erforderlich gewesen wäre, warum welche Kopien zur Rechtsverteidigung nicht ausgereicht hätten, insbesondere diejenigen aus dem „dünnen Ordner“ mit den auffälligen Belegen. Es war für alle Beteiligten offenkundig, dass gerade im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung (S. 13 des Beschlusses) die Tragfähigkeit von Alternativen zur Aushändigung einer Daten-CD zu bedenken war.
19 d) Soweit der Rügeführer schließlich darauf hinweist, dass es —nach seiner Einschätzung— von Zufälligkeiten abhänge, ob eine Datenkopie erstellt und damit effektiver Rechtsschutz gewährt werde oder nicht, kann dieser Vortrag wiederum lediglich als Untermauerung seiner Rechtsansichten aus dem Beschwerdeverfahren verstanden werden.
III.
20 Den Antrag des Rügeführers, dem FG aufzugeben, ihm die beigezogenen Ordner mit den Buchführungsunterlagen auszuhändigen, kann der Senat im vorliegenden Streit nicht bescheiden. Es kann deshalb offenbleiben, ob eine entsprechende Entscheidung, soweit darauf materiell-rechtlich ein Anspruch bestehen sollte, überhaupt noch im Anhörungsrügeverfahren nachgeholt werden könnte.
21 Der Rügeführer hatte beim FG und folgerichtig auch im Rahmen des Beschwerdeverfahrens beantragt, eine Daten-CD von den Unterlagen und der Betriebsprüfungsakte zu fertigen und ihm zur Verfügung zu stellen. Er hatte nicht beantragt, ihm die betreffenden Unterlagen auszuhändigen. Der Senat hat in dem angegriffenen Beschluss die Auffassung vertreten, dass die Fertigung und Aushändigung einer Daten-CD nicht ein „Weniger“ gegenüber etwaigen, auf Herausgabe zielenden Ansprüchen darstellt, sondern etwas anderes ist. Er hält daran fest und ergänzt, dass umgekehrt auch etwaige, auf Herausgabe zielende Ansprüche nicht ein „Weniger“ gegenüber dem geltend gemachten Anspruch auf Fertigung und Aushändigung einer Daten-CD sind. Sie sind etwas anderes. Der Rügeführer muss diesen Antrag daher unmittelbar beim FG oder beim FA, was er in eigener Verantwortung zu entscheiden hat, stellen und dort gegebenenfalls um förmliche Bescheidung nachsuchen.
IV.
22 Die Gerichtskosten richten sich nach Nr. 6400 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz —GKG— (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG). Es fällt eine Festgebühr von 66 € an. Diese hat der Kläger zu tragen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:B.190924.XS43.23.0
Fundstelle(n):
XAAAJ-77694