Instanzenzug: ArbG Schwerin Az: 5 Ca 1026/19 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern Az: 5 Sa 6/20 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.
2Die Klägerin leistete im streitgegenständlichen Zeitraum Nachtarbeit im Rahmen von Wechselschichtarbeit in dem von der Beklagten betriebenen Werk in S, in welchem Kaffeekapseln hergestellt werden. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom (MTV).
3Die Klägerin verrichtete in den Monaten November 2018 bis Juni 2019 Nachtarbeit in Wechselschicht in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr, für die sie einen Zuschlag in Höhe von 25 % des Stundenentgelts erhielt.
4Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Schichtarbeit zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in Höhe von 50 %.
5Sie hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 5 Abs. 2 MTV iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge von nur 25 %, für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am sozialen Leben auch bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr als auch bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 25 % für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt, er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für Nachtarbeitszuschläge der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 GRC zu messen seien.
6Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - beantragt,
7Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit und Nachtschichtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten und den Umstand, dass der Zuschlag von 50 % für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit typischerweise Mehrarbeit betreffe und daher den Mehrarbeitszuschlag enthalte. Er solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am sozialen Leben, etwa die Organisation der Kinderbetreuung, bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.
8Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt die Klägerin ihre Zahlungsansprüche weiter.
9Der Senat hat das Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgesetzt. Der EuGH hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom geantwortet (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]). Vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg (- 4 Sa 53/22 -) ist derzeit im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Fragestellung ein Verfahren über eine sog. Verbandsklage iSv. § 9 TVG betreffend die Auslegung des MTV vom anhängig.
Gründe
10Die Revision der Klägerin ist hinsichtlich des zuletzt nur noch gestellten Zahlungsantrags weitgehend begründet. Die Klägerin hat für den streitgegenständlichen Zeitraum entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts für die während der Nachtschichten geleisteten Arbeitsstunden Anspruch auf einen höheren Nachtarbeitszuschlag. Dies führt zur teilweisen Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Klage ist überwiegend begründet, was der Senat selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).
11I. Der Rechtsstreit war nicht in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen der gegen das Urteil des Senats vom (- 10 AZR 499/20 -) eingelegten Verfassungsbeschwerde (- 1 BvR 1478/23 -) auszusetzen (vgl. zur entsprechenden Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde (A) - Rn. 42 ff., BAGE 172, 175).
121. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf (vgl. - Rn. 20 mwN; - 6 AZR 136/19 (A) - Rn. 45 mwN, BAGE 172, 175).
132. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.
14a) Streitgegenständlich sind vorliegend Ansprüche der Klägerin auf höhere Nachtarbeitszuschläge für die Monate November 2018 bis Juni 2019. Die der Beklagten im August 2019 zugestellte Klage ist seit über fünf Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]) entfallen.
15b) Eine weitere Aussetzung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, dessen Abschluss nicht valide abzuschätzen ist, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen. Mit Blick darauf war dem Interesse der Klägerin an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor einem Aussetzungsinteresse der Beklagten der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit zurück.
16II. Ebenso wenig war der Rechtsstreit im Hinblick auf das zwischen den Tarifvertragsparteien anhängige Verbandsklageverfahren über die Auslegung des MTV auszusetzen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom (- 10 AZR 499/20 - Rn. 12 ff.) verwiesen.
17III. Die zulässige Klage ist weitgehend begründet. Die Beklagte hat an die Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum für ihre Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit nach § 5 Abs. 2 Alt. 2 MTV in Höhe von 50 % des tariflichen Stundenentgelts abzüglich der geleisteten Zuschläge zu zahlen.
181. Der Klägerin stehen höhere Nachtarbeitszuschläge zu, weil die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2 Alt. 2 MTV) und Nachtschichtarbeit (§ 5 Abs. 2 Alt. 3 MTV) einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhält. Nachtschichtarbeitnehmer werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann nur dadurch genügt werden, dass die Klägerin für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Arbeitnehmer, der Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit iSv. § 5 Abs. 2 Alt. 2 MTV leistet, behandelt wird. Sie hat ergänzend zu dem gezahlten Nachtarbeitszuschlag nach § 5 Abs. 2 Alt. 3 MTV Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % des tariflichen Stundenentgelts für die von ihr geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit. Das hat der Senat zu den hier maßgeblichen Tarifnormen bereits entschieden ( - Rn. 46 ff.). Das Vorbringen im Streitfall entspricht dem Vorbringen in dem bereits entschiedenen Verfahren und führt zu keiner anderen Bewertung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird daher auf die Erwägungen im vorstehenden Urteil verwiesen.
19Diese Differenz von 25 Prozentpunkten ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht um den Anspruch auf Schichtfreizeiten nach § 4 Abs. 1 MTV zu reduzieren. Denn es handelt sich - was der Senat ebenfalls bereits entschieden hat - nicht um einen spezifischen Ausgleich für Nachtarbeit ( - Rn. 43).
202. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat zur Folge, dass die Klägerin Anspruch auf Zahlung des höheren Nachtarbeitszuschlags von 50 % des Stundenentgelts für die von ihr geleistete streitgegenständliche Nachtarbeit hat. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung kann für die im Streit stehende Vergangenheit nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom (- 10 AZR 499/20 - Rn. 74 ff.) verwiesen.
213. Die Klägerin hat die tarifliche Ausschlussfrist für die geforderten Nachtarbeitszuschläge für die Monate November 2018 bis Juni 2019 gewahrt. Der älteste Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge aus November 2018 war Ende Dezember 2018 fällig, die Ausschlussfrist begann am zu laufen. Dem Vortrag der Klägerin, sie habe ihre Ansprüche mit Schreiben vom innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht, ist die Beklagte nicht entgegengetreten. Diese Geltendmachung genügt nach § 12 MTV auch für später entstandene Ansprüche (näher zum Ganzen - Rn. 80 ff.).
224. Danach stehen der Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge für die Monate November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von insgesamt 910,16 Euro brutto zu. Maßgeblich waren für die Berechnung dabei die jeweiligen Stunden und Stundenlöhne entsprechend den von der Klägerin vorgelegten Abrechnungen. Soweit die Klägerin einen geringfügig höheren Betrag geltend macht, war die Revision teilweise zurückzuweisen.
235. Nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB schuldet die Beklagte Verzugszinsen, die der Klägerin gemäß § 187 Abs. 1 BGB ab dem Tag nach Eintritt der Fälligkeit zustehen (vgl. - Rn. 38 mwN). Fällig sind die Ansprüche auf Nachtarbeitszuschläge am letzten Werktag des Folgemonats. Die aus dem Monat Juni 2019 stammende Forderung in Höhe von 104,98 Euro brutto war daher erst am fällig, sodass die Klägerin für diesen Teil der Forderung Zinsen erst seit dem verlangen kann. Insoweit war ihre Revision ebenfalls teilweise zurückzuweisen.
24IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO. Soweit die Klägerin die Klage hinsichtlich des Feststellungsantrags zurückgenommen hat und soweit sie unterlegen ist, hat sie die Kosten zu tragen, im Übrigen die Beklagte.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:210824.U.10AZR501.20.0
Fundstelle(n):
DAAAJ-74766