Suchen Barrierefrei
BGH Urteil v. - VII ZR 425/21

Instanzenzug: Az: 21 U 55/20vorgehend LG Aachen Az: 1 O 206/19

Tatbestand

1Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in Anspruch.

2Sie erwarb im Mai 2018 bei der Beklagten ein von dieser hergestelltes Fahrzeug Mercedes-Benz CLS 350d 4MATIC als Gebrauchtwagen zu einem Kaufpreis von 53.990 €. Den Kaufpreis finanzierte sie über ein Darlehen, das noch nicht vollständig getilgt ist. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs OM 642 ausgestattet, der von der Beklagten entwickelt und hergestellt worden ist. Für das Fahrzeug wurde eine EG-Typgenehmigung der Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hat den das klägerische Fahrzeug betreffenden Rückrufbescheid vom mit Bescheid vom zurückgenommen.

3Die Klägerin hat in den Vorinstanzen zuletzt die Erstattung der von ihr bereits gezahlten Darlehensraten in Höhe von insgesamt 11.101,14 € nebst Zinsen, Freistellung von noch bestehenden Verbindlichkeiten aus dem Darlehensvertrag im Umfang von 38.214,07 € Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs und Übertragung ihres gegenüber der finanzierenden Bank bestehenden Anwartschaftsrechts auf Übereignung des Fahrzeugs sowie die Feststellung verlangt, dass sich die Beklagte in Annahmeverzug befindet und der Rechtsstreit im Übrigen erledigt ist.

4Die Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben.

5Mit ihrer auf deliktsrechtliche Ansprüche beschränkten und vom Senat im Umfang der Anfechtung zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Gründe

6Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

7Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit es für die Revision von Interesse ist, ausgeführt:

8Der Klägerin stehe kein Schadensersatzanspruch wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB zu. Werde - wie hier - im Fahrzeug ein sogenanntes Thermofenster eingesetzt, sei der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem - unterstellten - Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit setze jedenfalls voraus, dass die beklagtenseits handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nähmen. Die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin habe Anhaltspunkte für ein solches Bewusstsein nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Das gelte gleichermaßen hinsichtlich der von der Klägerin erstmals in der Berufungsinstanz unter Bezugnahme auf ein vom Landgericht Stuttgart in einem anderen Verfahren eingeholtes Sachverständigengutachten behaupteten weiteren unzulässigen Abschalteinrichtungen in Form einer "Kühlmittel-Sollwert-Temperaturregelung" und "Kühlerjalousie". Ob der diesbezügliche Vortrag als neues Angriffsmittel unbeachtlich sei, könne offenbleiben. Die Behauptung möglicher unzulässiger Abschalteinrichtungen in Form von "Kühlmittel-Sollwert-Temperaturregelung" und "Kühlerjalousie" stelle sich nämlich gerade vor dem Hintergrund des betreffenden Gutachtens als unsubstantiiert dar, weil nicht ersichtlich sei, dass sich die dortigen Feststellungen auch auf das Fahrzeug der Klägerin beziehungsweise den Typ des darin vorhandenen Motors bezögen.

9Ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte ergebe sich ferner nicht aus den § 823 Abs. 2, § 31 BGB i.V.m. § 263 StGB. Ungeachtet der übrigen Voraussetzungen fehle es jedenfalls an der Bereicherungsabsicht und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden.

10Die Klägerin könne einen Schadensersatzanspruch schließlich auch nicht auf § 823 Abs. 2, § 31 BGB i.V.m. Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Verordnung Nr. 715/2007/EG oder i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV stützen. Das Interesse der Klägerin, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, falle nicht in den Anwendungsbereich der europarechtlichen Normen.

II.

11Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.

121. Allerdings begegnet es auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen keinen revisionsrechtlichen Zweifeln, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 82631 BGB und gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 263 StGB mangels vorsätzlichen (und sittenwidrigen) Verhaltens verneint hat, weil es entsprechende Anhaltspunkte für das Vorstellungsbild der für die Beklagte handelnden Personen nicht feststellen konnte. Hieran ist der erkennende Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO in Ermangelung eines zulässigen und begründeten Revisionsangriffs gebunden.

132. Im Lichte der nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann allerdings eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens nicht ausgeschlossen werden (vgl. VIa ZR 335/21 Rn. 28 ff., BGHZ 237, 245).

14Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am entschieden, dass von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart das Interesse des Käufers geschützt ist, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe in seinem Urteil vom (Az. C-100/21) Art. 3 Nr. 36, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG im Sinne des Schutzes auch der individuellen Interessen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgerüsteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Fahrzeughersteller ausgelegt. Den Schutz der individuellen Interessen des Fahrzeugkäufers im Verhältnis zum Hersteller habe er dabei aus der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG vorgesehenen Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme des Fahrzeugs abgeleitet. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe das auf der Übereinstimmungsbescheinigung beruhende und unionsrechtlich geschützte Vertrauen des Käufers mit dessen Kaufentscheidung verknüpft und dem Unionsrecht auf diesem Weg einen von einer vertraglichen Sonderverbindung unabhängigen Anspruch des Fahrzeugkäufers gegen den Fahrzeughersteller auf Schadensersatz "wegen des Erwerbs" eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs entnommen. Das trage dem engen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen des Käufers auf die Ordnungsmäßigkeit des erworbenen Kraftfahrzeugs einerseits und der Kaufentscheidung andererseits Rechnung. Dieser Zusammenhang wiederum liege der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Erfahrungssatz zugrunde, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwerbe, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte. Dementsprechend könne der vom Gerichtshof geforderte Schutz des Käufervertrauens im Verhältnis zum Fahrzeughersteller, sollten Wertungswidersprüche vermieden werden, nur unter einer Einbeziehung auch der Kaufentscheidung gewährleistet werden (vgl.  VIa ZR 335/21 Rn. 28 ff., BGHZ 237, 245; Urteil vom - III ZR 267/20 Rn. 22, ZIP 2023, 1903). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (Urteile vom - VII ZR 306/21 und VII ZR 619/21, juris).

15Das Berufungsgericht hätte die Berufung der Klägerin bei richtiger rechtlicher Bewertung mithin nicht zurückweisen dürfen, ohne ihr Gelegenheit zu geben, den von ihr geltend gemachten Schaden im Sinne des Differenzschadens zu berechnen. Die Stellung eines an die Geltendmachung des Differenzschadens angepassten, unbeschränkten Zahlungsantrags ohne Zug-um-Zug-Vorbehalt ist der Klägerin möglich. Denn dem von ihr in erster Linie auf §§ 82631 BGB gestützten großen Schadensersatz einerseits und einem Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV andererseits liegen lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde, die im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen ( VIa ZR 335/21 Rn. 45, BGHZ 237, 245).

III.

16Danach hat das angefochtene Urteil keinen Bestand. Es ist aufzuheben und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Entscheidung in der Sache durch den Senat kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).

Pamp                  Halfmeier                Graßnack

        Brenneisen               Hannamann

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:110724UVIIZR425.21.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-74729