BGH Urteil v. - X ZR 72/22

Patentnichtigkeitsverfahren: Auslegung der Merkmale eines Patentanspruchs - Waage

Leitsatz

Waage

Merkmale eines Patentanspruchs sind in Einklang mit der Funktion auszulegen, die ihnen nach der Erfindung zukommt.

Gesetze: Art 69 Abs 1 EuPatÜbk, § 14 PatG

Instanzenzug: Az: 6 Ni 27/20 (EP) Urteil

Tatbestand

1Die Beklagte ist Inhaberin des mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 371 954 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme der Priorität von zwei deutschen Anmeldungen vom und angemeldet wurde und eine Waage betrifft. Patentanspruch 1, auf den sich acht weitere Ansprüche zurückbeziehen, hat im Einspruchsverfahren folgende Fassung erhalten:

Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.

2Eine frühere Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben ().

3Die Klägerin, die von der Beklagten wegen Verletzung des Streitpatents in Anspruch genommen wird, hat geltend gemacht, der Gegenstand des Schutzrechts sei nicht patentfähig. Die Beklagte hat das Streitpatent in der geltenden Fassung verteidigt.

4Das Patentgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die weiterhin die Nichtigerklärung des Streitpatents anstrebt. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

5Die zulässige Berufung ist unbegründet.

6I. Das Streitpatent betrifft eine elektrische Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse.

71. Nach den Ausführungen in der Streitpatentschrift waren solche Waagen im Stand der Technik beispielsweise als elektrische Personenwaagen bekannt. Zur Aktivierung gebe es unterschiedliche Konstruktionen.

8Messsysteme, die ständig betriebsbereit seien und die Waage über Gewichtsveränderungen auf der Tragplatte aktivierten, hätten den Nachteil, dass sie ständig Strom aufnähmen und daher einen hohen Energiebedarf aufwiesen.

9Bekannt seien auch Waagen, bei denen der Bedarf an elektrischer Energie mittels einer Schaltvorrichtung auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden könne. Die Schaltvorrichtung könne in einem mit dem Fuß zu betätigenden Kontaktschalter bestehen. Nachteilig hieran sei, dass ein solcher Kontaktschalter aufwändig zu verkabeln sei und der Benutzer den Schalter genau treffen müsse, um die Waage einzuschalten.

10Bekannt sei auch ein Akustikschalter, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiere. Allerdings reagierten Schalter dieses Typs nicht nur auf beabsichtigte Aktionen des Benutzers, sondern unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche.

11Schließlich seien auch Systeme bekannt, die über mechanische Schalter, Näherungssensoren sowie sprachgesteuerte Sensoren aktiviert werden könnten.

122. Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsurteil (Rn. 7) ausgeführt hat, kann das dem Streitpatent zugrunde liegende Problem vor diesem Hintergrund dahin formuliert werden, eine Waage zur Verfügung zu stellen, die in ihrer Bedienung einfach und funktionssicher ist und deren Herstellungs- und Betriebskosten niedrig sind.

133. Zur Lösung dieses Problems schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 eine Waage vor, deren Merkmale sich wie folgt gliedern lassen:

1. Die Waage (1) weist auf

1.1 eine Tragplatte (4) und

1.2 eine elektrische Schaltvorrichtung (16, 24).

2. Die Tragplatte (4)

2.1 dient der Aufnahme einer zu wiegenden Masse und

2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.

3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)

3.1 dient der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht, und

3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.

4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf, die

4.1 der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) dient und

4.2 unter der Tragplatte (4) angeordnet ist.

144. Einige Merkmale bedürfen näherer Erörterung.

15a) Zu Recht ist das Patentgericht davon ausgegangen, dass als Einschalten der Waage im Sinne von Merkmal 3.1 ein Vorgang zu verstehen ist, bei dem die Waage in einen Zustand versetzt wird, in dem ein Wiegevorgang durchgeführt, also die Masse des Wiegeguts ermittelt und angezeigt werden kann.

16aa) Dieses Verständnis steht in Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und mit den Erläuterungen zu den in der Streitpatentschrift geschilderten Ausführungsbeispielen.

17Das erste Ausführungsbeispiel weist eine erste Schaltvorrichtung zum Ein- und Ausschalten und eine weitere Schaltvorrichtung zum Auslesen von Daten aus einer Speicher- und Auswerteeinheit auf (Abs. 17). Bei einem weiteren Ausführungsbeispiel dient eine Schaltvorrichtung zum Einschalten der Waage, während das Ausschalten automatisch nach einer gewissen Zeitspanne erfolgt (Abs. 20).

18Auch in diesem Zusammenhang wird zwar nicht näher erläutert, was unter "Einschalten" zu verstehen ist. Aus der Gegenüberstellung zwischen Ein- und Ausschalten ergibt sich jedoch, dass es beim Einschalten darum geht, die Waage in einen Zustand zu versetzen, in dem ein Wiegevorgang durchgeführt werden kann. Ausgeschlossen sind damit Schalter, mit denen lediglich Betriebsparameter eingestellt werden können.

19bb) Weitere Anforderungen lassen sich weder dem Patentanspruch noch der Beschreibung entnehmen.

20In der Beschreibung wird als einer der Vorteile der Schaltvorrichtung mit kapazitivem Näherungsschalter ein niedriger Energiebedarf angeführt (Abs. 9 Z. 26).

21Diese Vorgabe hat in Patentanspruch 1 nur insoweit Niederschlag gefunden, als die Schaltvorrichtung gemäß Merkmal 3.2 einen kapazitiven Näherungsschalter aufweist. Damit ist zwar die Möglichkeit eröffnet, den Energiebedarf niedrig zu halten. Ob und in welcher Weise dies zu geschehen hat, gibt Patentanspruch 1 aber nicht vor.

22Ob es vor diesem Hintergrund zur Verwirklichung von Merkmal 3.1 ausreicht, wenn eine Schaltvorrichtung lediglich die Funktion hat, eine an sich bereits funktionsfähige, aber gesperrte Waage zu entsperren oder andere Funktionen wie zum Beispiel das Ablesen früherer Messwerte zugänglich zu machen, ist für die Entscheidung über den Rechtsbestand nicht erheblich.

23b) Ebenfalls zu Recht ist das Patentgericht davon ausgegangen, dass der gemäß Merkmal 3.2 zur Schaltvorrichtung gehörende kapazitive Näherungsschalter dasjenige Bauteil ist, das den in Merkmal 3.1 vorgesehenen Einschaltvorgang auslöst.

24aa) Bei grammatikalischer Auslegung könnte Patentanspruch 1 allerdings dahin verstanden werden, dass die Merkmale 3.1 und 3.2 nicht zwingend in funktionellem Zusammenhang stehen. Dies steht aber in Widerspruch zur Funktion, die dem Näherungsschalter als Bestandteil der Schaltvorrichtung nach der Beschreibung zukommt.

25Nach der Beschreibung sind Schaltvorrichtungen mit einem kapazitiven Näherungsschalter vorgesehen, um die geschilderten Funktionen auszuwählen, also zum Beispiel das Ein- und Ausschalten der Waage oder das Auslesen von Daten (Abs. 17, Abs. 20). Dem ist zu entnehmen, dass der kapazitive Näherungsschalter dasjenige Bauteil ist, das den Schaltvorgang auslöst. Diese Funktion ist für die Auslegung von Merkmal 3.2 maßgeblich.

26bb) Aus den ebenfalls in der Beschreibung enthaltenen Ausführungen, wonach die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage im Einschalten der Waage besteht (Abs. 9 Z. 14-16), ergibt sich keine abweichende Beurteilung.

27Diese Ausführungen sind Teil einer Textpassage, in der die Funktionen eines kapazitiven Näherungsschalters beschrieben werden (Abs. 9). Eine Schaltvorrichtung im Sinne dieser Darlegungen ist deshalb eine Vorrichtung, bei der der Schaltvorgang durch einen kapazitiven Näherungsschalter ausgelöst wird.

28c) Ein kapazitiver Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 ist, wie das Patentgericht unter Bezugnahme auf die entsprechenden Ausführungen in der Beschreibung (Abs. 9 Z. 56 ff.) zutreffend ausgeführt hat, eine Vorrichtung, die auf die Annäherung von Gegenständen reagiert, die andere dielektrische Eigenschaften aufweisen als die stationäre Umgebung des Näherungsschalters.

29Patentanspruch 1 schreibt nicht vor, bei welchem Abstand von der Elektrode der Schalter reagieren muss. Deshalb ist nicht ausgeschlossen, den Näherungsschalter so auszulegen und anzuordnen, dass er erst beim Berühren der Tragplatte reagiert. Auch bei einer solchen Ausgestaltung muss der Schaltvorgang aber durch das Annähern eines Gegenstands oder eines Körperteils ausgelöst werden. Ein Auslösen auf andere Weise, etwa durch Einwirken mechanischer Kräfte, reicht nicht aus.

30d) Die Überwachung der Umgebungskapazität ist in Merkmal 4.1 als Funktion der Elektrode vorgesehen.

31Ob die vom Patentgericht in dem gemäß § 83 Abs. 1 PatG erteilten Hinweis geäußerte und durch eine von der oben wiedergegebenen Gliederung abweichende Formulierung von Merkmal 4 auch im angefochtenen Urteil zum Ausdruck gebrachte Auffassung, diese Funktion werde durch den kapazitiven Näherungsschalter in seiner Gesamtheit verwirklicht, zutrifft, ist für die Entscheidung des Streitfalls nicht erheblich.

32Auch das Patentgericht zieht nicht in Zweifel, dass die Elektrode jedenfalls eines der Bauteile ist, die der Überwachung der Umgebungskapazität dienen. Diese Funktion sieht Patentanspruch 1 in Merkmal 4.1 zwingend vor. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass es weiterer Bauteile bedarf, damit der Schalter die Umgebungskapazität in der erforderlichen Weise überwachen kann.

33e) Nach Merkmal 4.2 muss die Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters nicht nur auf einem Höhenniveau angeordnet sein, das unterhalb des Höhenniveaus der Tragplatte liegt, sondern auch unterhalb der Fläche, über die sich die Tragplatte erstreckt.

34Der Umstand, dass Patentanspruch 1 an einer Stelle vorsieht, dass die Elektrode an der Tragplatte angeordnet ist, und an einer anderen Stelle, dass sie unterhalb der Tragplatte angeordnet ist, führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung.

35Entgegen der Auffassung der Berufung sind damit nicht zwei Merkmale definiert, die unabhängig voneinander zu verwirklichen sind. Die zweite Anforderung ("unter") ist vielmehr eine Konkretisierung der ersten ("an").

36Dies deckt sich mit den Ausführungen in der Beschreibung, wonach es vorteilhaft ist, wenn die Elektrode ein elektrisch leitendes, an der Tragpatte angebrachtes Metallelement aufweist (Abs. 13), und besonders vorteilhaft, wenn die Elektrode eine elektrisch leitende Druckschicht unter der Tragplatte aufweist (Abs. 10). In Einklang damit wird zum ersten Ausführungsbeispiel ausgeführt, die Schaltvorrichtung besitze eine Elektrode an der Tragplatte (Abs. 17), während die Elektrode beim zweiten Ausführungsbeispiel unter der Tragplatte angeordnet ist (Abs. 18). Nach Aufnahme des Merkmals 4.2 in den Patentanspruch gehört nur noch diese Ausgestaltung zum Gegenstand des Streitpatents.

37II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

38Der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei neu und dem Fachmann auch nicht durch den Stand der Technik nahegelegt.

39Die europäische Patentschrift 612 986 (NK4) offenbare die Merkmalsgruppe 1 sowie die Merkmale 2.1 und 3.1. Nicht offenbart seien die Merkmale 2.2 und 3.2 sowie die Merkmalsgruppe 4. Die Ergänzung um einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne dieser Merkmale habe ausgehend von NK4 nicht nahegelegen. Zwar sei davon auszugehen, dass dem Fachmann, einem Ingenieur (FH) oder Bachelor der Fachrichtung Elektrotechnik mit mehrjähriger Erfahrung auf dem Gebiet der Entwicklung von Waagen, im Prioritätszeitpunkt kapazitive Näherungsschalter grundsätzlich bekannt gewesen seien und er gewusst habe, dass Touchpads, die auch auf Annäherung reagieren könnten, nicht nur als Eingabegerät für Computer eingesetzt würden, sondern auch in Küchen und in Umgebungen, wo sie dem Einfluss von Flüssigkeiten ausgesetzt seien. Dieses Wissen reiche jedoch nicht als Anregung dafür aus, die Tasten der in NK4 offenbarten Waage durch einen kapazitiven Näherungsschalter zu ersetzen und dessen Elektrode an oder unter der Tragplatte anzuordnen. Die beiden dem Fachmann für die Realisierung dieser Maßnahmen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hätten das Gesamtkonzept der auf einfache Bedienung ausgelegten Waage der NK4 grundlegend verändert und damit die Benutzerfreundlichkeit erheblich verringert. Auch bei Hinzuziehung der weiteren im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen gelange der Fachmann nicht zum Gegenstand von Patentanspruch 1.

40Die deutsche Offenlegungsschrift 196 39 095 (NK1) offenbare ebenfalls nur die Merkmalsgruppe 1 sowie die Merkmale 2.1 und 3.1. Der Fachmann möge ausgehend von NK1 zwar noch veranlasst sein, die zur Messung biophysikalischer Werte dienenden Elektroden auf der Tragplatte nichtleitend auszubilden, um einen elektrischen Kurzschluss auch ohne zusätzliche Isolierung zu vermeiden. Es habe aber keine Veranlassung bestanden, die den kapazitiven Näherungsschalter betreffenden Merkmale zu realisieren. NK1 offenbare keine einfache Personenwaage, bei der eine einfache Schaltmöglichkeit mit hoher Funktionssicherheit und gleichzeitig niedrigen Herstellungs- und Betriebskosten im Vordergrund stehe, sondern eine komplexe Analysewaage, bei der neben Tastschalterflächen am eigentlichen Waagenkörper eine Vielzahl von verkabelten Bauteilen vorhanden seien, die teilweise separat bedient und im Falle des Ohrkontaktclips sogar am Körper des Benutzers befestigt werden müssten. Vor diesem Hintergrund bestehe für den Fachmann keine Veranlassung, die schon automatisch mit Belastung oder über den mit dem Fuß betätigbaren Schalter auslösbare Ein- und Ausschaltung der Waage durch einen möglicherweise noch geringfügig leichter zu bedienenden Näherungsschalter wie denjenigen der NK4 zu ersetzen. Selbst wenn der Fachmann diese Maßnahme noch umgesetzt hätte, habe sich weder aus NK1 noch aus NK4 eine Anregung ergeben, die Elektrode eines kapazitiven Näherungsschalters an oder unter die Tragplatte zu versetzen.

41Die US-amerikanische Patentschrift 6 359 239 (NK7) offenbare die Merkmalsgruppen 1 und 2 sowie Merkmal 3.1, nicht hingegen das Merkmal 3.2 und die Merkmalsgruppe 4. Es sei bereits fraglich, ob der Fachmann NK7 in seine Überlegungen einbeziehen würde, da diese Entgegenhaltung in erster Linie ein Schneidbrett zum Gegenstand habe, bei dem die integrierte Waage nur einen Nebenaspekt betreffe. Jedenfalls habe keine Veranlassung bestanden, den Einschalter durch einen kapazitiven Näherungsschalter zu ersetzen. Eine solche Modifikation sei mit dem Risiko verbunden, dass die Waage nicht nur eingeschaltet würde, wenn sie als solche benutzt werden solle, sondern auch jedes Mal, wenn die Hände des Benutzers oder Schneidgut in die Nähe des Sensors gelangten. Eine Anregung, alle das Schneidbrett betreffenden Komponenten zu entfernen und dieses zu einer reinen Waage umzugestalten, bekomme der Fachmann weder durch NK7 noch durch die weiteren im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen.

42Die japanische Patentanmeldung Hei 5-118901 (NK11) offenbare lediglich die Merkmalsgruppe 1 und Merkmal 2.1. Eine Anregung, die in NK11 beschriebene Waage um die nicht offenbarten Merkmale zu ergänzen, ergebe sich entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht aus den internationalen Anmeldungen WO 96/13098 (NK3) und WO 01/27868 (NK6). Es sei schon nicht ersichtlich, wie die Waage der in NK11 offenbarten Vorrichtung in Betrieb genommen werde. Somit erschließe sich auch nicht, warum der Fachmann die Entgegenhaltungen NK3 oder NK6 mit NK11 kombinieren sollte.

43Die deutsche Gebrauchsmusterschrift 201 10 961 (NK2) offenbare jedenfalls nicht das Merkmal 3.2 und die Merkmalsgruppe 4. NK2 beschränke sich in Bezug auf den Leistungsschalter zum Ein- und Ausschalten der Vorrichtung auf Angaben zu dessen Funktion, enthalte aber keine Hinweise auf mit der Erfindung in Angriff genommene technische Probleme des Leistungsschalters, die beispielsweise aufgrund der in einem Badezimmer üblicherweise herrschenden Feuchtigkeit oder aufgrund von Spritzwasser auftreten können. Der Fachmann habe auch angesichts der in NK6 und NK10 beschriebenen Touchpads keine Veranlassung gehabt, den mechanischen Druckschalter der NK2 durch einen kapazitiven Näherungsschalter zu ersetzen, da ihm zur Erhöhung der Funktionssicherheit des Schalters einfachere Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten.

44Die europäische Patentanmeldung 1 125 550 (NK8) liege noch weiter ab. Es sei nicht ersichtlich, warum der Fachmann Anlass haben sollte, den in NK8 nicht offenbarten, aber offensichtlich zufriedenstellenden Einschaltmechanismus der Waage zu ändern und NK8 mit anderen im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen wie NK3, NK4, NK6 oder NK10 zu kombinieren.

45III. Diese Beurteilung hält der Überprüfung im Berufungsverfahren stand.

461. Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 ausgehend von NK4 nicht nahelag.

47a) NK4 befasst sich mit der möglichst einfachen Bedienung von Waagen mit einer Tastatur und einem Anzeigefeld (Sp. 1 Z. 54-57).

48Zur Lösung schlägt NK4 vor, eine Taste zum Nullstellen vorzusehen und eine zweite Taste als balkenförmiges Sensortastenfeld auszubilden, das in Richtung der X-Koordinate über die gesamte Länge beliebig in individuelle Schaltbereiche unterteilbar ist. Diese Gestaltung und ein unmittelbar über der balkenförmigen Taste angeordnetes Anzeigefeld sollen es ermöglichen, im Anzeigefeld die aufrufbaren Programme und Konfigurationsmöglichkeiten aufzuzeigen und sie durch Berühren der unter der Anzeige liegenden Taste im gesamten unmittelbar zur Anzeige benachbart liegenden Bereich direkt aufzurufen (Sp. 2 Z. 7-20). Die freie Unterteilbarkeit der balkenförmigen Taste in einzelne Schaltbereiche soll die Bedienung der Waage erleichtern, indem jeweils nur eine dem angezeigten Programm entsprechende Anzahl an Schaltbereichen zur Verfügung gestellt wird und auch das Anzeigefeld nicht durch andere, im Moment nicht benötigte Anzeigen unübersichtlich wird (Sp. 2 Z. 21-28).

49Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 schematisch dargestellt.

50Die Waage (9) weist ein Gehäuse und eine Waagschale (17) auf. Das Gehäuse umfasst ein Tastaturfeld (5) mit zwei balkenförmigen Tasten (7, 11) und ein Anzeigefeld (3), das in zwei Zeilen (13, 15) aufgeteilt ist.

51Die Tasten können durch Drücken und Überwinden eines mechanischen Widerstands oder durch Berühren einer als Softkey, Touchpad oder Touchpanel ausgebildeten Taste betätigt werden (Sp. 3 Z. 29-32).

52b) Damit sind die Merkmalsgruppe 1 und die Merkmale 2.1 und 3.1 offenbart.

53c) Ob der in NK4 verwendete Begriff "Touchpad" einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 bezeichnet, obwohl in den Erläuterungen zu Figur 1 der Ort der Berührung als Bereich mit der größten Flächenpressung definiert wird (Sp. 3 Z. 35-46), bedarf keiner abschließenden Entscheidung.

54d) Jedenfalls nicht offenbart ist die Anordnung einer Elektrode unter der Tragplatte, wie dies Merkmal 4.2 vorsieht.

55Entgegen der Auffassung der Berufung genügt es zur Offenbarung dieses Merkmals nicht, dass die in NK4 offenbarten Tasten auf einem Höhenniveau angeordnet sind, das unterhalb des Höhenniveaus der Tragplatte liegt.

56Wie bereits oben dargelegt wurde, ist zur Verwirklichung von Merkmal 4.2 erforderlich, dass die Elektrode unterhalb der Fläche angeordnet ist, die die Tragplatte einnimmt. Dass diese Voraussetzung bei der in NK4 offenbarten Waage nicht erfüllt ist, zieht auch die Berufung nicht in Zweifel.

57e) Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass keine Veranlassung bestand, die in NK4 offenbarte Waage um einen kapazitiven Näherungsschalter zum Einschalten der Waage zu ergänzen, bei dem die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist.

58Eine solche Anordnung hätte einer grundlegenden Abkehr von der in NK4 offenbarten Anordnung der Tasten bedurft.

59Wie das Patentgericht zutreffend dargelegt hat, hätte sowohl das Auslagern einer Taste aus der in NK4 vorgeschlagenen, neben der Tragplatte angeordneten Tastatur als auch die Anordnung der gesamten Tastatur unter der Tragplatte zu einer Verringerung der Benutzerfreundlichkeit geführt. Solche Maßnahmen lagen ausgehend von NK4 nicht nahe, weil diese Entgegenhaltung eine möglichst einfache Benutzerführung anstrebt.

60f) Vor diesem Hintergrund bestand auch kein Anlass, das in NK4 vorgeschlagene Bedienkonzept mit einzelnen Elementen aus NK11, NK8, NK1, NK2 oder NK7 zu kombinieren.

612. Ebenfalls zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 gegenüber NK1 auf erfinderischer Tätigkeit beruht.

62a) NK1 befasst sich mit dem Problem, Personenwaagen mit einer elektronischen Auswerteeinrichtung und einer Anzeigeeinheit so weiterzubilden, dass eine Vielzahl biophysikalisch signifikanter Werte der sich wiegenden Person zur Anzeige gebracht werden kann (Sp. 1 Z 5-9).

63Als Lösung schlägt NK1 vor, die Waage mit weiteren Messeinrichtungen auszustatten, aus denen die gewünschten Werte abgeleitet werden können (Sp. 1 Z. 10-22). Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 schematisch dargestellt.

64Für die Messung des Blutdrucks werden zwei auf der Wiegeplatte (3) angebrachte flächige Elektroden (4, 5) eingesetzt (Sp. 1 Z. 65 ff.). Über mehrere Tastschaltflächen (19) kann die Betriebsart gewählt werden (Sp. 1 Z. 37 f.).

65Das Ein- und Ausschalten der Waage erfolgt über einen mit dem Fuß betätigbaren Schalter (12) oder automatisch bei Belastung (Sp. 1 Z. 43-45).

66b) Damit sind die Merkmalsgruppe 1 und die Merkmale 2.1 und 3.1 offenbart.

67c) Nicht offenbart ist Merkmal 3.2.

68NK1 enthält keine Hinweise darauf, dass der optional zum Ein- und Ausschalten vorgesehene Schalter als kapazitiver Näherungsschalter ausgeführt ist. Auch bezüglich der Elektroden (4, 5) und der Tastschaltflächen (19) lässt sich NK1 diesbezüglich nichts entnehmen.

69d) Ebenfalls nicht offenbart ist Merkmal 4.2.

70Die in NK1 offenbarten Elektroden (4, 5) - die ohnehin nicht zum Einschalten der Waage eingesetzt werden - sind nicht unter der Wiegeplatte (3) angeordnet, sondern an deren Oberseite.

71e) Ausgehend von NK1 war die Ergänzung der Waage um diese beiden Merkmale nicht nahegelegt.

72In NK1 steht die Ermittlung zusätzlicher biophysikalischer Werte im Vordergrund. Der Ein- und Ausschaltmechanismus der Waage wird mehr beiläufig erwähnt. Ein Ansatzpunkt, um sich ergänzend mit der Ausgestaltung oder Weiterentwicklung dieses Mechanismus zu befassen, war vor diesem Hintergrund nicht gegeben.

73Ob ausgehend von NK1 Anlass bestand, die Tastschaltflächen (19) als kapazitative Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 auszugestalten und diese unter der Tragplatte anzuordnen, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Selbst wenn dies zu bejahen wäre, hätte sich auch daraus kein Anlass ergeben, den Ein-/Ausschalter (12) ebenso auszugestalten. NK1 stellt keinen funktionellen Zusammenhang zwischen diesem Schalter und den Tastschaltflächen (19) her. Demgemäß sieht die Entgegenhaltung für die beiden Bedienelemente unterschiedliche Ausführungsformen und unterschiedliche Anbringungsorte vor.

74Um zu Merkmal 3.2 zu gelangen, hätte es der Überlegung bedurft, dass das Ein- und Ausschalten eine Bedienfunktion darstellt, die in gleicher Weise wie die Auswahl von Betriebsarten ausgestaltet werden kann. Diese Überlegung mag keine vertieften Fachkenntnisse voraussetzen. Eine Anregung dazu ergab sich aus NK1 indes nicht.

753. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist auch durch NK8 nicht nahegelegt.

76a) NK8 betrifft ein Gerät zur Messung von Körperimpedanz und Gewicht.

77NK8 führt aus, bei bekannten Geräten dieser Art seien wichtige Informationen zum Betrieb häufig an der Unterseite angebracht und deshalb bei der Benutzung nur schwer zugänglich. Bei Anbringung an der Oberseite könnten sie sich leicht ablösen, wenn das Gerät mit feuchten Füßen betreten wird (Abs. 6). Außerdem sei es für die sich wiegende Person häufig schwierig, die Indexmarkierungen zu erkennen, auf die sie sich zur Ermittlung genauer Werte stellen müsse (Abs. 7).

78Zur Lösung schlägt NK8 eine Messplattform vor, die eine innere und eine äußere oder lediglich eine äußere Platte umfasst. Die äußere Platte ist in beiden Fällen transparent ausgebildet. Dadurch wird ermöglicht, dass wichtige Informationen zur Bedienung des Geräts oder Warnhinweise auf der Unterseite der äußeren Platte angebracht werden können, so jederzeit lesbar sind und zugleich vor einem Ablösen durch Feuchtigkeit geschützt werden. Die Elektroden zur Messung der Körperimpedanz sind auf der äußeren Platte angeordnet und bestehen aus einer elektrisch leitenden Beschichtung. Dadurch wird es der sich wiegenden Person erleichtert, ihre Füße korrekt auf den Elektroden zu platzieren (Abs. 12-14).

79b) Damit sind die Merkmalsgruppe 1 und das Merkmal 2.1 offenbart.

80c) Nicht offenbart ist ein kapazitiver Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2.

81NK8 enthält keine Ausführungen zum Einschalten des offenbarten Messgeräts.

82d) Eine Anregung, den Mechanismus zum Einschalten der Waage als kapazitiven Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 auszugestalten, ist aus NK8 nicht ersichtlich.

834. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist auch durch NK7 nicht nahegelegt.

84a) NK7 offenbart ein Schneidbrett, auf dem Lebensmittel geschnitten und zum Wiegen auf eine separat ausgebildete Wiegefläche geschoben werden können.

85Ein Ausführungsbeispiel ist in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 1 dargestellt.

86Rechts neben der Schneidefläche (12) sind ein Wiegebereich (16) und eine visuelle Anzeige (32) angeordnet (Sp. 3 Z. 51-63). Mit einem Umschalter (40) kann die angezeigte Einheit (Unzen oder Gramm) eingestellt werden (Sp. 4 Z. 50-52).

87b) Wie das Patentgericht zu Recht ausgeführt hat, ergibt sich daraus keine Anregung, die Wiegefläche des Schneidbretts entsprechend den Merkmalen des Streitpatents auszugestalten.

88Wie das Patentgericht zutreffend ausgeführt hat, würde eine solche Ausgestaltung voraussetzen, dass die Waage vom Schneidbrett getrennt wird. Damit wäre eine grundlegende Abkehr von dem in NK7 offenbarten Konstruktionsprinzip verbunden.

89Unabhängig davon ergibt sich aus NK7 keine Anregung, zum Einschalten der Waage einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 vorzusehen.

905. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 wird auch durch NK11 nicht nahegelegt.

91a) NK11 offenbart eine Vorrichtung für die Überprüfung der Restmenge an Kleber in einem Tank, wie er beispielsweise in Vorrichtungen zum Falten von Schachteln zum Einsatz kommt (Abs. 1).

92NK11 beschreibt den im Stand der Technik üblichen Einsatz eines Durchflussmessers als nachteilig, da der viskose Kleber oftmals die Mechanik zur Betätigung des Durchflussmessers verstopfe und dies zu ungenauen Messungen führe und außerdem ein Durchflussmesser nicht mit einem System verbunden werden könne, das signalisiere, dass die Mindestmenge an Kleber unterschritten sei und Nachfüllbedarf bestehe (Abs. 2).

93Um diese Nachteile zu vermeiden, schlägt NK11 vor, die Restmenge an Kleber durch Wiegen zu ermitteln. Die hierzu eingesetzte Waage weist eine Drehscheibe auf, deren Position vom ermittelten Gewicht abhängt. An einer bestimmten Stelle der Drehscheibe ist ein Metallstück angebracht. Am Gehäuse der Waage ist ein Näherungsschalter befestigt, der aktiviert wird, wenn er dem Metallstück nahe kommt. Diese beiden Elemente sind so angeordnet, dass die Aktivierung erfolgt, wenn die Restmenge an Kleber ein bestimmtes Niveau unterschreitet. Dann wird ein Summer oder eine Leuchte aktiviert, um zu signalisieren, dass nachgefüllt werden muss (Abs. 9-13).

94b) Damit sind die Merkmalsgruppe 1 und das Merkmal 2.1 offenbart.

95c) Nicht offenbart ist die Kombination der Merkmale 3.1 und 3.2.

96NK11 offenbart zwar einen Näherungsschalter. Dieser dient jedoch nicht zum Einschalten der Waage. Wie die Waage eingeschaltet werden kann, wird in NK11 nicht ausgeführt.

97d) Ausgehend von NK11 ergab sich keine Anregung, den Mechanismus zum Einschalten der Waage als kapazitiven Näherungsschalter auszugestalten.

98Der in NK11 offenbarte Näherungsschalter dient nicht der Bedienung der Waage, sondern der Überwachung des Betriebs einer Anlage. Von diesem Ausgangspunkt aus ergab sich keine Veranlassung, Schalter, die für andere Funktionen vorgesehen sind, in gleicher Weise auszugestalten.

996. Aus einer Zusammenschau aller Entgegenhaltungen ergaben sich keine weitergehenden Anregungen. Keine Entgegenhaltung gab Anlass, einen Schalter zum Einschalten der Waage nach Maßgabe der Merkmale 3.2 und 4.2 auszugestalten.

1007. Entgegen der Auffassung der Berufung ergeben sich aus der erstmals in der Berufungsinstanz vorgelegten Veröffentlichung der EDISEN electronic GmbH (Digitale kapazitiven Sensoren - EDISEN-Sensor IC "Ee 301", NK12) ebenfalls keine weiteren Anregungen.

101a) NK12 offenbart einen Miniatursensor, der auf der Innenseite von Gerätegehäusen angebracht werden und deshalb ohne Gehäuseöffnung bedient werden kann. Die Sensorströme werden durch einen Fingertipp auf die Außenseite der Gehäusewandung erzeugt.

102b) Damit mag ein kapazitiver Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 offenbart sein.

103Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren (Rn. 34 f.) ausgeführt, hat, ergab sich aus der Verfügbarkeit solcher Schalter indes nicht die Anregung, solche Vorrichtungen gemäß den Merkmalen 3.1 und 4.2 einzusetzen.

104NK12 führt insoweit nicht zu einer abweichenden Beurteilung.

105Der in NK12 offenbarte Sensor mag aufgrund seiner geringen Abmessungen in besonderer Weise geeignet gewesen sein, als Einschalter in einer Personenwaage eingesetzt zu werden. Dieser Umstand reichte aber nicht aus, um trotz der im ersten Nichtigkeitsverfahren dargelegten Gründe zur fehlenden Anregung, für die Einschaltfunktion überhaupt einen kapazitiven Näherungsschalter vorzusehen (Rn. 34), einen solchen Einsatz in Erwägung zu ziehen.

106Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG und § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:090724UXZR72.22.0

Fundstelle(n):
VAAAJ-74063