Aberkennung des Ruhegehalts wegen wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit, Ungehorsam und einer unwahren dienstlichen Meldung
Gesetze: § 7 SG, § 11 Abs 1 SG, § 13 Abs 1 SG, § 17 Abs 2 S 1 Alt 2 SG, § 15 Abs 1 WStrG
Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 3 VL 58/20 Urteil
Tatbestand
1Das Verfahren betrifft eigenmächtige Abwesenheiten unter Missachtung von Befehlen und eine unwahre dienstliche Meldung.
21. Der ... geborene frühere Soldat leistete nach Abschluss der Hauptschule mit Werkrealschule und unvollendeten Berufsausbildungen zum Bäcker, Baugeräteführer und Maurer 2008 Grundwehrdienst. Nach Tätigkeiten als Pflasterer, Maler und Landschaftsgärtner wurde er 2014 Zeitsoldat. Er wurde zum Jäger der Infanterie ausgebildet und zunächst in der ...bataillon ... eingesetzt. Zum September 2017 wurde er zur ...bataillon ... versetzt und in der Verpflegungsgruppe eingesetzt. Zuletzt wurde er 2018 zum Oberstabsgefreiten befördert. Vom bis zum Ablauf seiner Dienstzeit Ende 2021 war er vorläufig des Dienstes enthoben.
32. Ein teilweise sachgleiches Strafverfahren wegen eigenmächtiger Abwesenheiten wurde gemäß § 153a Abs. 2 StPO gegen eine Geldauflage vorläufig eingestellt. Nachdem der frühere Soldat mit der Ratenzahlung in Verzug geraten und das Verfahren wiederaufgenommen worden war, wurde es vom Amtsgericht am gemäß § 153 Abs. 2 StPO endgültig eingestellt. Nach dem verfahrensgegenständlichen Dienstvergehen wurde dem früheren Soldaten eine vom datierende Disziplinarbuße von 1 500 € ausgehändigt, weil er vor dem verfahrensgegenständlichen Dienstvergehen nach nächtlichem Alkoholkonsum am Morgen des bei einem Patenschaftsbiwak seinen Dienst nicht wie befohlen angetreten und einen daraufhin befohlenen Termin im Sanitätsversorgungszentrum nicht wahrgenommen hatte.
43. Das Truppendienstgericht hat dem früheren Soldaten mit Urteil vom das Ruhegehalt aberkannt. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass er
- am entgegen dem von seiner Kompaniechefin befohlenen Tagesdienstplan nicht um 6:45 Uhr zum Dienst erschienen und seiner Einheit bis zu seiner Zuführung durch eine Feldjägerstreife am zwischen 17:30 Uhr und 18:45 Uhr unerlaubt ferngeblieben sei,
- am gegenüber seiner Kompaniechefin in einer dienstlichen Erklärung angegeben habe, er sei vom zuständigen Psychologen des Bundeswehrkrankenhauses ... vom bis einschließlich krankgeschrieben worden und habe dort am einen weiteren Arzttermin, obwohl er gewusst habe, dass dies nicht der Wahrheit entsprochen habe,
- am entgegen dem von seiner Kompaniechefin befohlenen Tagesdienstplan nicht um 6:45 Uhr zum Dienst erschienen sei und seiner Einheit bis zu seiner telefonischen Meldung beim Kompanieeinsatzoffizier am um 15:26 Uhr unerlaubt ferngeblieben sei sowie
- am nicht um 6:45 Uhr zum Dienst in seiner Einheit erschienen sei, obwohl ihm am gegen 15:26 Uhr vom Kompanieeinsatzoffizier fernmündlich der Befehl erteilt worden sei, sich dort am zu Dienstbeginn in dessen Dienstzimmer zu melden und alle Nachweise seiner Arzttermine und Krankmeldungen zu seinen Fehlzeiten im Dezember 2019 vorzulegen, und er in der Folge seiner Einheit unerlaubt ferngeblieben sei, bis er am Morgen des von einem von seiner Kompaniechefin beauftragten Abholkommando von seiner Wohnung ins Bundeswehrkrankenhaus ... verbracht worden sei.
5Der frühere Soldat habe durch das unerlaubte Fernbleiben vom Dienst vom 2. bis zum 11. und vom 13. bis zum sowie vom bis zum vorsätzlich gegen die Pflichten zum treuen Dienen, zum Gehorsam und zum innerdienstlichen Wohlverhalten verstoßen. Mit der unwahren dienstlichen Meldung habe er vorsätzlich seine Pflichten zur Wahrheit und zum innerdienstlichen Wohlverhalten verletzt.
6Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei die Höchstmaßnahme, weil er wiederholt dem Dienst an insgesamt 36 Tagen unerlaubt ferngeblieben sei und in dem Zusammenhang eine unwahre dienstliche Meldung abgegeben habe.
7Davon sei nicht abzuweichen. Das Dienstvergehen wiege außerordentlich schwer, da sich der frühere Soldat mehrfach nach § 15 Abs. 1 WStG strafbar gemacht habe und zudem seiner Gehorsamspflicht nicht nachgekommen sei und eine unwahre dienstliche Meldung abgegeben habe. Es habe für den Dienstherrn nachteilige Auswirkungen gehabt. Denn der frühere Soldat sei während der unerlaubten Abwesenheiten alimentiert worden. Zudem hätten die Feldjäger und ein Abholkommando der Einheit bemüht werden müssen, um ihn wieder der Truppe zuzuführen. Ferner habe er während der vorläufigen Dienstenthebung gekürzte Dienstbezüge erhalten, ohne Dienst zu leisten. Auch habe er bereits zuvor für einen verspäteten Dienstantritt eine Disziplinarbuße erhalten. Zu seinen Gunsten sprächen lediglich sein Geständnis, seine reuige Einlassung und die im Ansatz leicht positive Stellungnahme der Leumundszeugin. Seine Erläuterung, Auslöser für das Dienstvergehen sei ein Einbruch eines Kameraden in seine Ehe gewesen, lasse die Taten nicht milder erscheinen, zumal er sich im Trennungsjahr befunden habe. Er hätte sich etwa über die Vorgesetzten oder den Sozialdienst Hilfe holen müssen. Dass er psychiatrisch behandelt worden sei und Schwierigkeiten im Umgang mit Alkohol gehabt habe, rechtfertige ebenfalls keine Milderung. Es habe nicht festgestellt werden können, dass sich die Vorgesetzten falsch verhalten hätten.
84. Mit seiner auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung macht der frühere Soldat im Wesentlichen geltend, er sei vermindert schuldfähig gewesen. Er habe erhebliche psychische Probleme gehabt und sei, nachdem ein Kamerad aus der Versorgungsgruppe in seine Ehe eingebrochen sei, hinsichtlich einer schon 2016 diagnostizierten Alkoholerkrankung rückfällig geworden. Da seinem Versetzungsantrag nicht stattgegeben worden sei, habe er mit dem betreffenden dienstgradhöheren Kameraden zusammenarbeiten müssen, was ihn belastet habe.
95. Die Bundeswehrdisziplinaranwaltschaft hält die Höchstmaßnahme für angemessen.
106. Der Senat hat am beschlossen, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis zu der Frage zu erheben, ob die Fähigkeit des früheren Soldaten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei dem unerlaubten Fernbleiben vom Dienst im Dezember 2019 und Januar 2020 wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung vermindert war und ggf. in welchem Umfang. Die beauftragte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. ... hat das Gutachten, da der frühere Soldat einen Explorationstermin bei ihr nicht wahrnahm, anhand der Aktenlage erstellt und in der Berufungshauptverhandlung, zu der der frühere Soldat nicht erschienen ist, erstattet.
117. Hinsichtlich der Einzelheiten zur Person des früheren Soldaten und zur Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf dieses und für das Ergebnis der Beweisaufnahme und die im Berufungsverfahren eingeführten Unterlagen auf das Protokoll der Berufungshauptverhandlung Bezug genommen.
Gründe
12Die Berufung, über die gemäß § 124 WDO in Abwesenheit des früheren Soldaten verhandelt werden konnte, ist zulässig, aber unbegründet.
131. Für den Senat steht bindend fest, dass der frühere Soldat durch sein vom Truppendienstgericht festgestelltes, oben im Einzelnen wiedergegebenes Verhalten dem Dienst wiederholt an insgesamt 36 Tagen unerlaubt fernblieb, dass er am eine unwahre dienstliche Meldung abgab und dadurch vorsätzlich die Pflichten zum treuen Dienen (§ 7 SG), zum Gehorsam (§ 11 Abs. 1 SG), zur Wahrheit (§ 13 Abs. 1 SG) und zum innerdienstlichen Wohlverhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SG) verletzte.
14Denn bei einer - wie hier - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Der Prozessstoff wird somit nicht mehr von der Anschuldigungsschrift, sondern nur von den Tat- und Schuldfeststellungen im angefochtenen Urteil bestimmt (vgl. 2 WD 3.22 - juris Rn. 18). Dabei erfasst die Bindungswirkung auch die konkreten Straftatbestände, hier § 15 Abs. 1 WStG, aus denen das Truppendienstgericht einen auch strafrechtlich begründeten Verstoß gegen die Pflicht zum treuen Dienen abgeleitet hat (vgl. 2 WD 11.21 - juris Rn. 30). Schwere Verfahrensmängel im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 WDO, bei denen die Bindungswirkung ausnahmsweise entfällt (vgl. 2 WD 22.19 - juris Rn. 10 m. w. N.), liegen nicht vor.
152. Bei Art und Maß der zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des früheren Soldaten zu berücksichtigen. Das dabei vom Senat zugrunde gelegte zweistufige Prüfungsschema führt dazu, dass dem früheren Soldaten das Ruhegehalt abzuerkennen ist.
16a) Auf der ersten Stufe bestimmt der Senat zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle und im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die betreffende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.
17Dies ist in Fällen des vorsätzlichen unerlaubten Fernbleibens eines Soldaten von der Truppe bei einer kürzeren unerlaubten Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht ist regelmäßig die Höchstmaßnahme angezeigt (vgl. 2 WD 3.21 - juris Rn. 17 m. w. N.).
18Denn ein Soldat, welcher der Truppe unerlaubt fernbleibt, versagt im Kernbereich seiner Dienstpflichten. Die Bundeswehr kann ihre Aufgaben nur dann hinreichend erfüllen, wenn nicht nur das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen im erforderlichen Maße jederzeit präsent und einsatzbereit sind. Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrags der Bundeswehr nachkommt und alles unterlässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehören insbesondere die Pflichten zur Anwesenheit und gewissenhaften Dienstleistung. Die Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung berührt nicht nur die Einsatzbereitschaft der Truppe, sie erschüttert auch die Grundlagen des Dienstverhältnisses selbst ( 2 WD 4.20 - juris Rn. 21 m. w. N.). Zur Abgrenzung einer kürzeren von einer längeren Abwesenheit hat der Senat den Zeitraum herangezogen, der durch den jährlich zustehenden Urlaubszeitraum von 30 Tagen nach § 1 Satz 1 SUV i. V. m. § 5 Abs. 1 EUrlV abgedeckt werden kann (vgl. 2 WD 3.21 - juris Rn. 17 m. w. N.).
19Da der frühere Soldat wiederholt eigenmächtig abwesend im Sinne § 15 Abs. 1 WStG und zudem mit insgesamt 36 unentschuldigten Fehltagen länger unerlaubt abwesend war, ist Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme. Diese besteht für ihn gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Satz 2 WDO in der Aberkennung des Ruhegehalts.
20b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die ein Abweichen von der Regelmaßnahme gebieten. Da Milderungsgründe umso gewichtiger sein müssen, je schwerer ein Dienstvergehen wiegt (vgl. 2 WD 23.20 - BVerwGE 173, 352 Rn. 29 m. w. N.), und sie deshalb vor allem bei einer grundsätzlich verwirkten Höchstmaßnahme von hohem Gewicht sein müssen ( 2 WD 15.11 - juris Rn. 43), ist vorliegend kein Abweichen von der Höchstmaßnahme geboten.
21aa) Das Dienstvergehen wiegt äußerst schwer.
22Schon eine zweifache eigenmächtige Abwesenheit an je drei vollen Kalendertagen im Sinne des § 15 Abs. 1 WStG oder eine einmalige längere Abwesenheit hätten jeweils im Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme gerechtfertigt. Hier liegen beide Voraussetzungen kumulativ vor. Zudem hat der frühere Soldat nicht nur zwei, sondern drei eigenmächtige Abwesenheiten im Sinne des § 15 Abs. 1 WStG begangen und ist nicht nur den regulären Urlaubszeitraum von 30 Tagen, sondern 36 Tage unerlaubt dem Dienst ferngeblieben.
23Das Gewicht des Dienstvergehens wird durch die hinzutretenden wiederholten Verletzungen der Gehorsamspflicht erhöht. Diese gehört ebenfalls zu den zentralen Dienstpflichten eines jeden Soldaten. Alle Streitkräfte beruhen auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Vorsätzlicher Ungehorsam stellt daher stets ein sehr ernstzunehmendes Dienstvergehen dar. Fehlt die Bereitschaft zum Gehorsam, kann die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr in Frage gestellt sein (vgl. 2 WD 2.14 - juris Rn. 31).
24Weiter erschwerend tritt die Verletzung der Wahrheitspflicht durch die unwahre dienstliche Meldung hinzu. Auch die Einhaltung der Wahrheitspflicht ist für die militärische Verwendungsfähigkeit eines Soldaten essenziell. Die Bedeutung der Wahrheitspflicht kommt schon darin zum Ausdruck, dass sie - anders als z. B. bei Beamten - für Soldaten gesetzlich ausdrücklich geregelt ist. Eine militärische Einheit kann nicht ordnungsgemäß geführt werden, wenn sich die Führung und die Vorgesetzten nicht auf die Richtigkeit abgegebener Meldungen, Erklärungen und Aussagen Untergebener verlassen können. Wer in dienstlichen Äußerungen und Erklärungen vorsätzlich unrichtige Angaben macht, beschädigt seine persönliche Integrität und militärische Verwendungsfähigkeit ( 2 WD 19.18 - juris Rn. 32).
25Darüber hinaus fällt zu Lasten des früheren Soldaten ins Gewicht, dass er mit entsprechendem Aufwand des Dienstherrn zur Beendigung der ersten eigenmächtigen Abwesenheit durch die Feldjäger zur Kompaniechefin und zur Beendigung der letzten eigenmächtigen Abwesenheit durch ein von der Kompaniechefin beauftragtes Abholkommando der Einheit in das Bundeswehrzentralkrankenhaus ... gebracht werden musste.
26Schließlich ist der frühere Soldat bereits ein knappes halbes Jahr vor dem Dienstvergehen einschlägig disziplinarisch in Erscheinung getreten. Zwar wurde ihm die dafür verhängte Disziplinarbuße erst nach dem verfahrensgegenständlichen Dienstvergehen ausgehändigt. Er war dazu aber bereits am , d. h. in dem Zeitraum, über den sich das verfahrensgegenständliche Dienstvergehen erstreckt, angehört worden. Dies hat ihn nicht von einer Fortsetzung des Dienstvergehens abgehalten.
27bb) Weitere erschwerende Umstände liegen allerdings nicht vor.
28Zu Unrecht hat das Truppendienstgericht zu Lasten des früheren Soldaten eingestellt, dass er während der unerlaubten Abwesenheiten alimentiert wurde. Dies ist bereits im Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen berücksichtigt.
29Auch die mit der vorläufigen Dienstenthebung des früheren Soldaten unter teilweiser Fortzahlung seiner Dienstbezüge verbundenen nachteiligen Auswirkungen für den Dienstherrn sind dem früheren Soldaten entgegen der Auffassung des Truppendienstgerichts nicht anzulasten. Denn es ist unbillig, dem früheren Soldaten einerseits vorzuwerfen, dass er dem Dienst unerlaubt fernblieb, und ihn andererseits aus genau diesem Grund seinen Dienst nicht weiter verrichten zu lassen und ihm die damit einhergehenden Folgen vorzuwerfen, obwohl er ihn an einer anderen Dienststelle hätte einsetzen können (s. u.).
30cc) Den erschwerenden Umständen steht gegenüber, dass sich der frühere Soldat im Tatzeitraum in einer belastenden Situation befand und seinen Dienstherrn ein Mitverschulden an dem Dienstvergehen trifft.
31Denn nachdem der frühere Soldat im Oktober 2018 aus dem gemeinsamen Haushalt mit seiner damaligen Ehefrau ausgezogen war und sich beide im Trennungsjahr vor der letztlich auch vollzogenen Scheidung befanden, erfuhr er im März 2019, dass diese und Stabsunteroffizier S., der mit ihm in der nur 15-köpfigen Verpflegungsgruppe eingesetzt war und ihm gegenüber aufgrund des höheren Dienstgrades eine Vorgesetztenstellung hatte, eine Beziehung führten.
32Die daraus folgende Spannungssituation zwischen dem früheren Soldaten und Stabsunteroffizier S. war der Disziplinarvorgesetzten Major H. spätestens seit dem darauf beruhenden, mit einer Disziplinarbuße belegten Dienstvergehen des früheren Soldaten beim Patenschaftsbiwak Anfang August 2019 und seinem anschließenden Versetzungsantrag vom bekannt. Denn sie hat in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt, der frühere Soldat habe mit ihr nach dem Patenschaftsbiwak über eine Versetzung wegen der Spannungen zwischen ihm und Stabsunteroffizier S. gesprochen, und Major H. und der nächsthöhere Vorgesetzte befürworteten das Versetzungsgesuch wegen dieses Spannungsverhältnisses am 9. September und schriftlich.
33Dennoch ergriff der Dienstherr keine ausreichenden Maßnahmen, um das offenkundig gewordene Spannungsverhältnis zwischen dem früheren Soldaten und Stabsunteroffizier S. schnellstmöglich aufzulösen. Zwar wurde das Verhalten von Stabsunteroffizier S. als disziplinarisch relevant eingestuft und ihm auf die Meldung des früheren Soldaten ein strenger Verweis erteilt. Eine Kommandierung oder Versetzung von Stabsunteroffizier S. wurde aber nach den Angaben von Major H. in der Berufungshauptverhandlung wegen der angespannten Personalsituation in dieser Dienstgradgruppe nicht in Betracht gezogen. Der zunächst unternommene Versuch, den früheren Soldaten vorübergehend in einem technischen Zug zu verwenden, war zum Scheitern verurteilt, weil er dort faktisch keine Tätigkeiten verrichten konnte. Er wurde deshalb alsbald wieder in der Verpflegungsgruppe eingesetzt, ohne dass eine umgehende Kommandierung des früheren Soldaten zu einer anderen Einheit oder Dienststelle ernsthaft erwogen wurde. Eine Versetzung wurde ihm erst am und erst zu April 2020 in Aussicht gestellt, obwohl für eine schnelle Versetzung ein dienstliches Erfordernis bestand. Ein solches liegt regelmäßig vor, wenn Störungen, Spannungen und/oder Vertrauensverluste, die den Dienstbetrieb unannehmbar belasten, nur durch Versetzung behoben werden können (vgl. Nr. 202 Buchst. h des seinerzeit maßgeblichen Zentralerlasses B-1300/46; nunmehr Nr. 205 Buchst. g der Zentralen Dienstvorschrift A-1420/37). Dass das private Zusammenleben des Stabsunteroffiziers S. mit der Ehefrau des früheren Soldaten ebenso wie die Geburt eines gemeinsamen Kindes der beiden zur massiven Belastung des dienstlichen Vertrauensverhältnisses führte und aus Sicht des früheren Soldaten eine reibungslose Zusammenarbeit in der Verpflegungsgruppe gravierend erschwerte, liegt auf der Hand. Damit war ein dringendes dienstliches Bedürfnis für eine Versetzung aufgrund der objektiven Beteiligung an dem Spannungsverhältnis, unabhängig von der Verschuldensfrage, zu bejahen (vgl. 1 WB 47.21 - juris Rn. 31). Nach den Angaben von Major H. in der Berufungshauptverhandlung hätte eine Versetzung auch kurzfristig erfolgen können, wurde aber nicht kurzfristig realisiert und ist schließlich wegen der disziplinarischen Ermittlungen gegen den früheren Soldaten nicht umgesetzt worden. Damit blieb er im Tatzeitraum der ihn belastenden Zusammenarbeit mit dem dienstgradhöheren Stabsunteroffizier S. weiter ausgesetzt. Die mangelnde Fürsorge des Dienstherrn hat einen gewichtigen Beitrag zur Demotivation des früheren Soldaten geleistet.
34dd) Weitere mildernde Umstände sind indes nicht ersichtlich. Insbesondere hat der frühere Soldat das Dienstvergehen nicht im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen.
35(1) Die richterliche Entscheidung, ob im Sinne des § 21 StGB die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe zum Zeitpunkt des Dienstvergehens erheblich vermindert war, erfolgt mehrstufig. Zunächst ist festzustellen, ob beim Täter zu den Tatzeitpunkten eine psychische Störung vorlag, die ein solches Ausmaß erreichte, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Begehung der Taten beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds ebenso wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit um vom Gericht zu beantwortende Rechtsfragen (vgl. 2 WD 2.22 - NVwZ-RR 2023, 288 Rn. 66).
36(2) Nach den Feststellungen der Sachverständigen bestand beim früheren Soldaten 2016 entgegen damaligen ärztlichen Diagnosen keine Alkoholabhängigkeit (ICD-10 F 10.2), sondern ein schädlicher Gebrauch (ICD-10 F 10.1), und im hier maßgeblichen Tatzeitraum im Dezember 2019/Januar 2020 sodann ein erstmals beginnendes Abhängigkeitssyndrom von Alkohol (ICD-10 F 10.2). Die Sachverständige hat dazu plausibel erläutert, dass gemäß ICD-10 für die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit innerhalb des letzten Jahres für die Dauer eines Monats mindestens drei von sechs spezifischen Kriterien gleichzeitig vorhanden sein müssen. Im Jahr 2016 wurden aber nach den von ihr ausgewerteten ärztlichen Unterlagen nur zwei Kriterien von den Diagnostikern gewertet. Zudem sei der frühere Soldat problemlos in der Lage gewesen, seinen Konsum ab Anfang Juli 2016 bis auf eine Ausnahme im August 2016 einzustellen, ohne Entzugssymptome zu haben. Demgegenüber hat die Sachverständige für den Tatzeitraum mit nachvollziehbaren Begründungen drei der spezifischen Kriterien (Toleranzentwicklung, Vernachlässigung anderer Vergnügungen und Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie anhaltender Substanzkonsum trotz Kenntnis eindeutiger schädlicher Folgen) mit nachvollziehbaren Erwägungen als erfüllt angesehen.
37Eine wegen einer depressiven Stimmung und Angst Ende September 2019 anderweitig diagnostizierte Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.2) hat die Sachverständige hingegen für den Tatzeitraum schlüssig verneint, weil die Ausprägung der Symptomatik nach dem abgenommen habe und der frühere Soldat bereits Anfang November 2019 von der Anbahnung einer neuen Beziehung berichtet habe, die sich auch kurzfristig realisiert habe.
38(3) Das für den Tatzeitraum diagnostizierte beginnende Abhängigkeitssyndrom von Alkohol (ICD-10 F 10.2) begründet für sich genommen noch keine erhebliche Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit. Derartige Folgen sind bei einer Abhängigkeit von Betäubungsmitteln nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuss zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Betäubungsmittel zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn das Delikt im Zustand eines akuten Rausches verübt wird (vgl. - NStZ-RR 2002, 263).
39Ein solcher Ausnahmefall lag beim früheren Soldaten im Tatzeitraum nicht vor. Hinweise auf eine schwerste Persönlichkeitsveränderung infolge langjährigen Alkoholkonsums bestehen nicht. Die Sachverständige hat anhand konkreter Beispiele schlüssig erläutert, dass der frühere Soldat seinerzeit zu einer ausreichenden voluntativen Gestaltung seines Lebensalltags in der Lage war. Bei dem Dienstvergehen handelt es sich auch nicht um Delikte der Beschaffungskriminalität wegen Entzugserscheinungen. Schließlich ist auszuschließen, dass der frühere Soldat sich über den gesamten Zeitraum der unerlaubten Abwesenheit im Zustand akuter Alkoholintoxikation befand. Zwar können - wie die Sachverständige zutreffend ausgeführt hat - einzelne Alkoholexzesse, die ggf. an definierten Tagen ein morgendliches Verschlafen des Dienstbeginns verursacht haben mögen, nicht ausgeschlossen werden. Für überdauernde Alkoholisierungen im Tatzeitraum ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte, insbesondere nicht an den Tagen mit persönlichem Kontakt. Die Sachverständige hat plausibel aufgezeigt, dass sich die Taten vielmehr durch die narzisstische Gekränktheit des früheren Soldaten erklären, weil Stabsunteroffizier S. in der Versorgungsgruppe verbleiben durfte und stattdessen dem früheren Soldaten die Beantragung einer Versetzung nahegelegt wurde, zu der es dann nicht kam.
40ee) Bei einer Gesamtwürdigung erreichen die für den früheren Soldaten sprechenden Umstände kein ausreichendes Gewicht, um die zusätzlich erschwerenden Umstände auszugleichen und einen Wechsel von der Höchstmaßnahme zu einer niedrigeren Maßnahmeart zu bewirken. Auch wenn die belastende Situation des früheren Soldaten an seinem Arbeitsplatz durch die mangelnde Fürsorge des Dienstherrn in die Länge gezogen worden ist, fällt entscheidend ins Gewicht, dass der frühere Soldat eine Beschleunigung nicht durch die ihm zu Gebote stehenden rechtlichen Beschwerdemöglichkeiten angestrebt, sondern den rechtswidrigen Weg der wiederholten und hartnäckigen Dienstleistungs- und Befehlsverweigerung eingeschlagen hat.
41ff) Ist damit das Vertrauen in den früheren Soldaten zerstört und deswegen die Höchstmaßnahme zu verhängen, können auch weder eine überlange Verfahrensdauer (vgl. 2 WD 6.21 - juris Rn. 56) noch - hier ohnehin nicht festzustellende - besondere dienstliche Leistungen oder eine etwaige Nachbewährung ( 2 WD 18.18 - juris Rn. 40) maßnahmemildernde Wirkungen entfalten.
424. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 2, § 140 Abs. 5 Satz 2 WDO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:130624U2WD8.23.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-74021