Online-Nachricht - Donnerstag, 15.08.2024

Verfahrensrecht | Anforderungen an die Ermessensausübung bei der Festsetzung eines Verspätungszuschlags nach § 152 Abs. 1 AO n.F. in Erstattungsfällen (FG)

Im Rahmen des Erschließungsermessens zur Festsetzung eines Verspätungszuschlags nach § 152 Abs. 1 AO n.F. kann u.a. von Bedeutung sein, ob sich aus der Veranlagung eine Nullfestsetzung, Nachzahlung oder Steuererstattung ergibt (; Revision zugelassen).

Sachverhalt: Die am durch die Steuerberaterin des Klägers eingereichte Einkommensteuererklärung 2020 führte aufgrund der Anrechnung der vom Arbeitgeber abgeführten Lohnsteuer zu einer Einkommensteuererstattung. Im Rahmen des Veranlagungsverfahrens setzte das Finanzamt einen Verspätungszuschlag in Höhe von 175 € fest, da die Steuererklärung erst nach Ablauf der Abgabefrist () abgegeben worden sei. Mit seinem hiergegen eingelegten Einspruch machte der Kläger u.a. geltend, dass er seine Steuererklärung erstmalig und letztmalig geringfügig verspätet abgegeben und die Veranlagung zu einer Erstattung geführt habe.

Das Finanzamt wies den Einspruch als unbegründet zurück. Nach § 152 Abs. 1 AO könne ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung sei abzusehen, wenn die Verspätung entschuldbar sei. Vorliegend sei die verspätete Abgabe – wie in einer früheren Einspruchsentscheidung zur Ablehnung eines vom Kläger ebenfalls gestellten Antrags auf rückwirkende Fristverlängerung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung 2020 dargestellt – nicht entschuldbar gewesen. Entsprechend den Vorgaben des § 152 Abs. 5 AO sei daher ein Mindestverspätungszuschlag von 25 € für sieben angefangene Monate der Verspätung (= 175 €) festgesetzt worden. Im Rahmen des Klageverfahrens führte das Finanzamt ergänzend aus, dass es nach § 152 Abs. 1 AO n.F. nur auf die verspätete Abgabe und das Verschulden für die Verspätung ankomme. Andere Ermessenskriterien seien in die Neufassung des Gesetzes nicht aufgenommen worden.

Die Richter des FG Münster gaben der Klage statt und hoben den Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags auf:

  • Vorliegend hat das FA sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.

  • Die Festsetzung eines Verspätungszuschlags hat sich nach der Ermessensvorschrift des § 152 Abs. 1 AO gerichtet. Es hat kein Fall einer gebundenen Entscheidung nach § 152 Abs. 2 AO vorgelegen, da die Einkommensteuerfestsetzung zu einer Erstattung geführt hat (§ 152 Abs. 3 Nr. 3 AO).

  • Auch sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 152 Abs. 1 Satz 1 AO aufgrund der nicht fristgemäßen Abgabe der Einkommensteuererklärung erfüllt, während die Festsetzung nicht nach § 152 Abs. 1 Satz 2 AO ausgeschlossen gewesen ist. Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Verspätung entschuldbar gewesen ist.

  • Auf Rechtsfolgenseite regelt § 152 Abs. 1 AO nicht, welche Kriterien bei der Ausübung des Entschließungsermessens zu berücksichtigen sind. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich lediglich, dass eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung nach § 5 AO zu treffen ist. Es ist daher umstritten, ob und ggf. welche weiteren Ermessenskriterien seitens der Finanzverwaltung zu berücksichtigen sind.

  • Nach Auffassung der Richter ergeben sich die maßgeblichen Ermessenskriterien aus dem allgemeinen Grundsatz, wonach das Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise auszuüben ist.

  • Der Verspätungszuschlag dient der Sicherstellung der rechtzeitigen Steuerfestsetzung und Steuerentrichtung durch rechtzeitigen Eingang der Steuererklärung als auch dem Ausgleich der aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile des Steuerpflichtigen. Folglich muss die Behörde im Rahmen der Festsetzung eines Verspätungszuschlags berücksichtigten, welche Folgen sich aus der verspäteten Abgabe für das Veranlagungsverfahren und den Steuerpflichtigen ergeben. Insbesondere kann von Bedeutung sein, ob die verspätete Abgabe zu einer Verzögerung des Veranlagungsverfahrens geführt und ob sich aus der Veranlagung eine Nullfestsetzung, Nachzahlung oder Erstattung ergeben hat.

  • Da der Gesetzgeber in § 152 Abs. 3 Nr. 2 und 3 AO für Nullfestsetzungen und Erstattungsfälle eine gebundene Festsetzung ausschließt, ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Vorliegen einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls um ermessensrelevante Kriterien handelt und dass in derartigen Fällen – wie nach altem Recht – ein Verspätungszuschlag grundsätzlich nur bei erheblicher Fristüberschreitung oder schwerwiegendem Verschulden gerechtfertigt ist.

  • Für die besondere Bedeutung einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls als Ermessenskriterium spricht zudem, dass § 152 Abs. 5 Satz 2 AO die Festsetzung eines Mindestverspätungszuschlags vorsieht, wodurch das Vorliegen eines Erstattungsfalls bei der Bemessung des Verspätungszuschlags unberücksichtigt bleibt. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sind jedoch die wirtschaftlichen Folgen im Rahmen des Erschließungsermessens zu berücksichtigen. Auch § 152 Abs. 8 Satz 2 AO ist zu entnehmen, dass der „Höhe der Steuer“ Bedeutung zukommt.

  • Andererseits ist die Schwere des Pflichtverstoßes des Steuerpflichtigen und dabei insbesondere die Dauer und Häufigkeit der Fristüberschreitung ebenfalls mit einzubeziehen. Eine ermessensfehlerfreie Festsetzung setzt daher grundsätzlich voraus, dass die Finanzbehörde alle maßgeblichen Kriterien beachtet und gegeneinander abwägt.

  • Demgegenüber kann der Auffassung des Finanzamtes, dass einzig auf das Verschulden des Steuerpflichtigen abzustellen ist, nicht gefolgt werden. Dieser Auslegung steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 152 AO das Festsetzungsverfahren habe vereinfachen wollen. Denn der Vereinfachungszweck wird durch die Regelungen zur gebundenen Festsetzung in § 152 Abs. 2 AO sowie zur ermessensunabhängigen Berechnung der Höhe des Verspätungszuschlags nach § 152 Abs. 5 AO weiterhin erreicht.

  • Den vorgenannten Grundsätzen hat die Ermessensentscheidung des Finanzamtes nicht entsprochen, da allein auf die verspätete Abgabe und das Verschulden des Klägers abgestellt worden ist. Eine Heilung ist nicht in Betracht gekommen, da das Finanzamt erstmals im Klageverfahren Ausführungen zu den anderen Ermessenserwägungen angestellt hat.

Hinweis:

Der 4. Senat hat die Revision zum BFH zugelassen. Der Volltext der Entscheidung ist in der Rechtsprechungsdatenbank des Landes NRW veröffentlicht.

Quelle: FG Münster, Newsletter August 2024 (il)

Fundstelle(n):
MAAAJ-73204