BVerwG Beschluss v. - 20 F 24/22

Ermessensentscheidung im Rahmen der Sperrerklärung; nachträgliche Ergänzung von Ermessenserwägungen

Gesetze: § 114 S 2 VwGO, § 99 Abs 1 S 2 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern Az: 13 P 836/19 OVG Beschluss

Gründe

I

1In dem diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht Schwerin begehrt der Kläger Auskunft über die bei der Verfassungsschutzbehörde des Landes Mecklenburg-Vorpommern zu seiner Person gespeicherten Daten.

2Im Hauptsacheverfahren forderte der Kammervorsitzende den Beklagten mit der Eingangsverfügung auf, sämtliche Verwaltungsvorgänge im Original vorzulegen. Daraufhin hat der Beklagte mit Schwärzungen versehene Ausdrucke der elektronisch geführten Verwaltungsvorgänge vorgelegt, die Vorlage der vollständigen, ungeschwärzten Akten hingegen unter Vorlage einer Sperrerklärung vom verweigert. Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Verfügung vom darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der angeforderten Akten nach Ansicht der Kammer keines Beweisbeschlusses bedürfe, weil sie zweifelsfrei rechtserheblich seien. Auf Antrag des Klägers hat das Verwaltungsgericht das Verfahren zur Durchführung eines "In-Camera"-Verfahrens an den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern abgegeben.

3Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom ergänzende Ausführungen zur Sperrerklärung gemacht.

4Der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts hat den Antrag des Klägers mit Beschluss vom abgelehnt. Hiergegen richtet sich dessen Beschwerde.

II

5Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom ist begründet, weil der Antrag des Klägers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung zulässig und begründet ist.

61. Die Zulässigkeit eines Antrags auf Entscheidung des Fachsenats im Zwischenverfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO setzt voraus, dass das Gericht der Hauptsache die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Unterlagen ordnungsgemäß bejaht hat (vgl. 20 F 13.20 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 98 Rn. 7 m. w. N.). Dafür ist grundsätzlich ein der Sperrerklärung vorausgehender förmlicher Beweisbeschluss und dieser - wie vorliegend verwaltungsprozessual geboten - durch den Spruchkörper zu fassen (vgl. 20 F 17.22 - juris Rn. 14). Der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts hat zu Recht angenommen, dass die Mitteilung des Berichterstatters vom auf einen vorangegangenen Beschluss des Spruchkörpers schließen lässt. In einem solchen Fall kann ein Vorlageschreiben für die Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit jedenfalls dann ausreichen, wenn die Beiziehung der Behördenakte für die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens - wie hier - unumgänglich ist (vgl. 20 F 17.22 - juris Rn. 14).

72. Der Antrag ist auch begründet. Die Sperrerklärung vom ist rechtswidrig.

8a) Sie bezieht sich auf die vorenthaltenen Akteninhalte in dem 142-seitigen Verwaltungsvorgang zu den gespeicherten Daten des Klägers.

9b) Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Vorlage der Urkunden oder Akten, die Übermittlung elektronischer Dokumente und die Erteilung der Auskünfte verweigern. Danach ist die Sperrerklärung rechtswidrig.

10aa) Es kann dahinstehen, ob die - in der Sperrerklärung nicht nach ihren drei Varianten differenziert ausgewiesenen - Weigerungsgründe nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorliegen.

11bb) Jedenfalls ist die Sperrerklärung ermessensfehlerhaft.

12(1) Durch die Ermessenseinräumung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO wird der obersten Aufsichtsbehörde die Möglichkeit eröffnet, dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfindung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt die Auskunftserteilung und Aktenvorlage im Verhältnis der mit geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen befassten Behörde zum Verwaltungsgericht, das in einem schwebenden Prozess für eine sachgerechte Entscheidung auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist. In diesem Verhältnis stellt das Gesetz die Auskunftserteilung und Aktenvorlage in das Ermessen der Behörde, lässt dieser also die Wahl, ob sie die Akten oder die Auskunft wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit zurückhält oder ob sie davon um des effektiven Rechtsschutzes willen absieht. Da die Sperrerklärung als Erklärung des Prozessrechts auf die Prozesslage abgestimmt sein muss, in der sie abgegeben wird, genügt es grundsätzlich nicht, in ihr lediglich auf die die Sachentscheidung tragenden Gründe des - je nach Fachgesetz im Einzelnen normierten - Geheimnisschutzes zu verweisen. Die oberste Aufsichtsbehörde ist vielmehr im Rahmen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gefordert, in besonderer Weise in den Blick zu nehmen, welche rechtsschutzverkürzende Wirkung die Verweigerung der Aktenvorlage im Prozess für den Betroffenen haben kann. Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Verfahrensbestimmung. Dementsprechend ist der obersten Aufsichtsbehörde auch in den Fällen Ermessen zugebilligt, in denen das Fachgesetz der zuständigen Fachbehörde kein Ermessen einräumt. Maßstab ist dabei neben dem privaten Interesse an effektivem Rechtsschutz und dem - je nach Fallkonstellation - öffentlichen oder privaten Interesse am Geheimnisschutz auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung. Die oberste Aufsichtsbehörde muss in ihrer Sperrerklärung in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass sie gemessen an diesem Maßstab die Folgen der Verweigerung mit Blick auf den Prozessausgang gewichtet hat (vgl. 20 F 11.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 56 Rn. 12 m. w. N.).

13Dabei ist eine nachträgliche Ergänzung von Ermessenserwägungen wie auch sonst nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht möglich, wenn die neuen Gründe schon bei Erlass des Verwaltungsaktes vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. 20 F 2.19 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 89 Rn. 27). Allerdings setzt eine Ergänzung von Ermessenserwägungen in einem gerichtlichen Verfahren gemäß § 99 Abs. 2 VwGO nach dem dort entsprechend anwendbaren § 114 Satz 2 VwGO (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 20 F 2.05 u. a. - juris Rn. 5 und vom - 20 F 43.07 - juris Rn. 12) voraus, dass bei der behördlichen Entscheidung, schon "Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes" angestellt worden sind, das Ermessen also in irgendeiner Weise betätigt worden ist. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt werden, nicht hingegen, dass das Ermessen erstmals ausgeübt oder die Gründe einer Ermessensausübung (komplett oder doch in ihrem Wesensgehalt) ausgewechselt werden (vgl. 6 B 133.98 - juris Rn. 10).

14(2) Ausgehend davon leidet die - insoweit allein maßgebliche - Sperrerklärung (Seite 1 bis 3 Mitte des Schriftsatzes vom ), selbst wenn der klageerwidernde Teil des Schriftsatzes (Seite 3 Mitte bis Seite 5) zu ihrer Auslegung mit herangezogen wird, an einem vollständigen Ermessensausfall, weshalb auch die im gerichtlichen Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO mit Schriftsatz vom erfolgten Ermessenserwägungen insoweit nicht berücksichtigt werden können.

15(a) Dies gilt zunächst für die Sperrungen auf Blatt 1 bis 113 der Akte (Dokumente aus Maßnahmen gemäß § 10 Abs. 1 LVerfSchG M-V). In der Sperrerklärung heißt es dazu unter Ziffer 1: "Über den gesetzlich definierten Auskunftsanspruch hinaus besteht kein Anspruch des Klägers über den Umweg der Einsicht in den Verwaltungsvorgang faktisch eine Übersicht darüber zu erhalten, von welchen nachrichtendienstlichen Einzelmaßnahmen er generell im streitgegenständlichen Zeitraum direkt oder indirekt betroffen war." Damit hat der Beklagte den Charakter des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO als im Verhältnis zu den fachgesetzlich geregelten Auskunftsansprüchen prozessrechtliche Spezialnorm verkannt, die eine Informationsfreigabe auch jenseits fachgesetzlicher Verweigerungsgründe eröffnet (vgl. 20 F 17.22 - juris Rn. 19 m. w. N.).

16(b) Entsprechendes gilt für die Sperrungen auf Blatt 114 bis 142 der Akte (polizeiliche Mitteilungen im Rahmen der VV-Informationsübermittlungen nach § 24 LVerfSchG M-V), zu denen unter Ziffer 2 der Sperrerklärung ausgeführt wurde: "Im Übrigen steht es dem Kläger offen, sich bezüglich zu ihm erfassten personenbezogenen Daten auch direkt an die Polizei zu wenden. Auch insoweit kommt hier wieder das Argument einer zu vermeidenden Umgehung durch die Vorlage der Verwaltungsvorgänge zum Tragen." Zum einen ist eine Verweisung des Betroffenen auf die für die Aktenführung federführende Polizeibehörde nicht möglich, weil Gegenstand des Zwischenverfahrens allein das auf § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO gestützte Begehren des Hauptsachegerichts ist, die den Kläger betreffenden Akten vorzulegen (vgl. 20 F 11.09 - juris Rn. 15). Zum anderen kann die behauptete Gefahr einer Störung der informellen Zusammenarbeit von Landespolizei und Landesverfassungsschutz nicht als Weigerungsgrund im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 VwGO anerkannt werden. Denn das beklagte Land hat es in der Hand, eine reibungslose Zusammenarbeit der eigenen Landesbehörden bei der wechselseitigen Information (hier: Auskunftserteilung nach § 24 LVerfSchG M-V) zu organisieren. Schließlich greift auch das "Umgehungsargument" nicht. Eine vom Gesetzgeber ungewollte Umgehung der fachgesetzlichen Weigerungsgründe läge in der nicht erwogenen Freigabe nicht. Zwar kann in Streitverfahren der vorliegenden Art die Entscheidung im Zwischenverfahren, sofern sie zugunsten der Aktenvorlage ausfällt, faktisch zur Erfüllung des im Hauptsacheverfahren in Streit stehenden Anspruchs führen, weil mit der Vorlage der Akten an das Gericht der Hauptsache stets das Recht der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht gemäß § 100 VwGO entsteht. Doch hat der Gesetzgeber diese Möglichkeit als unvermeidbare Folge des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO in Kauf genommen. Er hätte ihr nur dadurch entgegenwirken können, dass er die Entscheidung "in-camera" über das Zwischenverfahren hinaus auf den Rechtsstreit in der Hauptsache erstreckt hätte. Dieses Verfahrensmodell, bei dem das Gericht der Hauptsache die Akten ohne das Recht der Beteiligten zur Einsichtnahme für seine Entscheidung verwerten darf, ist jedoch in § 99 Abs. 2 VwGO nicht verwirklicht worden (vgl. 20 F 3.08 - juris Rn. 6 m. w. N.).

173. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2023:220823B20F24.22.0

Fundstelle(n):
GAAAJ-70238