BVerwG Beschluss v. - 2 B 37/23

Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils

Leitsatz

Das Berufungsgericht kann die Lösung von den bindenden tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils unter bestimmten Voraussetzungen auf ein Sachverständigengutachten stützen, das das Verwaltungsgericht prozessordnungswidrig eingeholt hat.

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 31 A 3005/19.O Urteilvorgehend Az: 31 K 7679/16.O

Gründe

1Die beklagte Beamtin wendet sich gegen die Aberkennung ihres Ruhegehalts.

21. Die 1956 geborene Beklagte stand als Steueramtsinspektorin (Besoldungsgruppe A 9 LBesO) bis zu ihrer Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit zum im Dienst des klagenden Landes. Dabei war die Beklagte bei Finanzämtern auch mit der Entgegennahme und Bearbeitung von Einkommensteuererklärungen befasst. Anfang November 2010 leitete der Kläger ein Disziplinarverfahren gegen die Beklagte wegen des Vorwurfs ein, sie habe in den Jahren 1993 bis 2010 für 54 Steuerpflichtige unbefugt Hilfe in Steuersachen geleistet und hierbei insgesamt 332 Steuererklärungen erstellt, ohne die erforderliche Nebentätigkeitsgenehmigung zu besitzen (Ziff. 1). Ferner wurde der Beklagten vorgeworfen, in den Jahren 2003 bis 2010 in 47 Steuerfällen unter Ausnutzung ihrer Anstellung insgesamt 200 selbst gefertigte Einkommensteuererklärungen abschließend bearbeitet sowie maschinell erfasst und hierdurch gegen das Mitwirkungsverbot nach § 82 Abs. 1 Nr. 6 AO verstoßen zu haben (Ziff. 2). Schließlich wurde der Beklagten vorgehalten, im Hinblick auf 25 Steuerpflichtige in den Jahren 2004 bis 2008 Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Höhe von insgesamt 61 661,20 € geleistet zu haben, indem sie in den von ihr erstellten Einkommensteuererklärungen unrichtige Angaben gemacht habe, die sich steuermindernd ausgewirkt hätten (Ziff. 3). Im sachgleichen Strafverfahren ließ die Staatsanwaltschaft die Beklagte fachpsychiatrisch begutachten. In seinem schriftlichen Gutachten vom stellte der Facharzt für Psychiatrie O. bei der Beklagten eine rezidivierende depressive Störung sowie abhängige und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsanteile fest und bejahte eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit der Beklagten i. S. d. § 21 StGB für den gesamten Tatzeitraum. Aufgrund einer Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO verurteilte das Landgericht die Beklagte wegen Steuerhinterziehung in 79 Fällen, davon in 45 Fällen tateinheitlich mit Untreue, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen O., dass bei der Beklagten eine rezidivierende depressive Störung (ICD 10 F 33) und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen ängstlich-vermeidenden und zwanghaften Anteilen (ICD 10 F 61.0) und damit eine krankhafte seelische Störung i. S. v. § 20 StGB vorliege, nahm das Landgericht für den gesamten Tatzeitraum eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit i. S. v. § 21 StGB an.

3Im sachgleichen Disziplinarverfahren hat das klagende Land im Juni 2016 Disziplinarklage mit dem Ziel erhoben, der Beklagten das Ruhegehalt abzuerkennen. Im Hinblick auf die Entscheidung des Strafgerichts zur erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nach § 21 StGB bei Tatbegehung wird in der Klageschrift ausgeführt, dass aus Sicht des Klägers für ein Handeln in einer psychischen, schockähnlichen Ausnahmesituation keine ausreichenden Anhaltspunkte bestünden. Das Verwaltungsgericht hat durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens Beweis erhoben zu der Frage, ob in den Jahren 1993 bis 2010 die Fähigkeit der Beklagten, das Unrecht des ihr disziplinarrechtlich zur Last gelegten Verhaltens einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe erheblich vermindert war oder zumindest hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, nach denen eine entsprechende Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden kann. Auch gestützt auf das Gutachten hat das Verwaltungsgericht der Beklagten das Ruhegehalt aberkannt: Der Milderungsgrund einer im Tatzeitraum erheblich verminderten Schuldfähigkeit stehe der Beklagten nicht zu. Aufgrund der Ausführungen des im gerichtlichen Disziplinarverfahren beauftragten Gutachters Dr. S. sei davon auszugehen, dass bei der Beklagten bei Tatbegehung keines der von § 20 StGB umfassten Eingangsmerkmale vorgelegen habe. Weder habe die Beklagte im Tatzeitraum an einer abhängigen Persönlichkeitsstörung oder an einer depressiven Störung gelitten (krankhafte seelische Störung) noch habe bei der Beklagten im Tatzeitraum eines der anderen Eingangsmerkmale des § 20 StGB vorgelegen.

4Im Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht am die Beteiligten auf seine Absicht hingewiesen, sich von der im Urteil des Landgerichts getroffenen Feststellung lösen zu wollen, dass bei der Beklagten zu den Zeitpunkten der ihr zur Last gelegten Handlungen ein Eingangsmerkmal i. S. v. § 20 StGB a. F. vorgelegen habe, und hat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Zur Begründung hat es darauf verwiesen, dass aufgrund des nach dem Strafurteil erstellten Gutachten des Dr. S. gegen die betreffende Feststellung des Landgerichts zumindest erhebliche Zweifel bestünden, weil nach diesem Gutachten die Beklagte zu den Tatzeitpunkten in ihrer Fähigkeit, das Unrecht des ihr disziplinarisch zur Last gelegten Verhaltens einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus keinem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe eingeschränkt gewesen sei. Am hat das Oberverwaltungsgericht die Lösung von der genannten Feststellung des Strafurteils beschlossen. In der Berufungsverhandlung vom hat das Oberverwaltungsgericht den Sachverständigen Dr. S. zur weiteren Erläuterung seines Gutachtens ergänzend angehört.

5Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe ein schwerwiegendes Dienstvergehen begangen. Die disziplinarrechtlichen Verstöße habe die Beklagte nicht im Zustand von Schuldunfähigkeit i. S. v. § 20 StGB begangen. Hinsichtlich der mit dem Strafurteil abgeurteilten Straftaten folge dies bereits aus der Tatsache, dass die Beklagte verurteilt worden sei. Aus der strafrechtlichen Verurteilung sei zwingend auf die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit eines Beamten zu schließen, weil andernfalls eine Verurteilung zu einer Strafe nicht zulässig gewesen wäre. Insofern bestehe kein Anlass, sich von den strafgerichtlichen Feststellungen zu lösen. Das von der Beklagten begangene Dienstvergehen führe bei der Gesamtwürdigung sämtlicher Gesichtspunkte zur Aberkennung des Ruhegehalts. Der Milderungsgrund der erheblich verminderten Schuldfähigkeit i. S. v. § 21 StGB im Tatzeitraum liege nicht vor. Zwar habe das Strafurteil das Vorliegen eines Eingangsmerkmals des § 20 StGB festgestellt. Von der hieraus folgenden Bindung habe sich das Berufungsgericht gelöst, weil gegen die Richtigkeit der auf dem im Strafverfahren eingeholten Gutachten des Herrn O. beruhenden Feststellung zum Vorliegen des Eingangsmerkmals der krankhaften seelischen Störung aufgrund des durch das Verwaltungsgericht eingeholten Gutachtens des Dr. S. erhebliche Zweifel bestünden. Dieses Gutachten könne bei der Entscheidung über die Lösung von den Feststellungen des Strafgerichts nicht ausgeblendet werden; insbesondere bestehe keine Grundlage für die Annahme eines Verwertungsverbots.

62. Die Beschwerde der Beklagten ist unbegründet. Weder leidet das Berufungsurteil an den geltend gemachten Verfahrensfehlern (a) noch hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (b).

7a) Die Verfahrensrügen der Beklagten sind unbegründet.

8aa) Das Oberverwaltungsgericht durfte sich zur Begründung der von ihm beschlossenen Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils des Landgerichts zum Vorliegen des Eingangsmerkmals der krankhaften seelischen Störung i. S. v. § 20 StGB im Tatzeitraum auf das vom Verwaltungsgericht eingeholte Gutachten des Dr. S. stützen. Zwar hat das Verwaltungsgericht bei der Einholung und Verwertung dieses Gutachtens mehrere Verfahrensverstöße begangen. Diese Fehler haben sich jedoch nicht im berufungsgerichtlichen Verfahren fortgesetzt und dort auch nicht fortgewirkt. Die Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts haben nicht dazu geführt, dass das dort eingeholte Gutachten des Dr. S. für das weitere gerichtliche Disziplinarverfahren unverwertbar wäre.

9Zugunsten der Beklagten ist das Landgericht in seinem Strafurteil vom Oktober 2013 von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit i. S. v. § 21 StGB ausgegangen. Entsprechend dem zweistufigen Aufbau des § 21 StGB hat das Landgericht damit zum einen das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung des § 20 StGB angenommen und ist zum anderen von einer erheblichen Verminderung der Fähigkeit der Beklagten ausgegangen, nach der Einsicht des Unrechts der Tat zu handeln. Für das gerichtliche Disziplinarverfahren entfaltet aber nur die Feststellung des Strafurteils Bindungswirkung, dass das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung des § 20 StGB gegeben ist, nicht aber die Annahme der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit ( 2 C 59.07 - juris Rn. 29 und Beschlüsse vom - 2 B 51.16 - Buchholz 235.1 § 64 BDG Nr. 3 Rn. 15 und vom - 2 B 79.18 - NVwZ-RR 2020, 749 Rn. 9).

10Will sich ein Disziplinargericht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW von den bindenden tatsächlichen Feststellungen eines Strafurteils lösen, weil es diese für offenkundig unrichtig hält, so hat es zunächst die Beteiligten unter Hinweis auf die beabsichtigte Lösung vorher anzuhören. Zum anderen hat es die förmliche Lösung von tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils, die genau zu bestimmen sind, im Vorfeld des Disziplinarurteils förmlich zu beschließen und zu begründen. Zwar weicht § 56 Abs. 1 LDG NRW insofern von § 57 Abs. 1 BDG ab, als er in Absatz 1 Satz 2 Halbsatz 2 vorgibt, dass die Lösung von tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils i. S. v. § 56 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW, die offenkundig unrichtig sind, in den Urteilsgründen zum Ausdruck zu bringen ist. Diese gesetzliche Vorgabe ändert aber nichts daran, dass das Disziplinargericht die Lösung von den von ihm als offenkundig unrichtig erkannten tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen (Straf-)Urteils vor seinem Urteil in einem gesonderten Beschluss zum Ausdruck zu bringen hat. Dies folgt unmittelbar aus dem Wortlaut des § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW ("beschließen") und aus dem des § 56 Abs. 1 Satz 3 LDG NRW ("Beschluss").

11Diesen Vorgaben ist das Verwaltungsgericht nicht gerecht geworden. Weder hat es die Beteiligten vorab auf die von ihm beabsichtigte Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils zum Vorliegen des Eingangsmerkmals der krankhaften seelischen Störung i. S. v. § 20 StGB hingewiesen noch hat es in einem gesonderten Beschluss die tatsächlichen Feststellungen genau bezeichnet, von denen es sich löst, noch hat es die Lösung näher begründet. Verfahrensfehlerhaft ist bereits der Beweisbeschluss vom . Das Verwaltungsgericht hat beschlossen, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage Beweis zu erheben, ob in den Jahren 1993 bis 2010 die Fähigkeit der Beklagten, das Unrecht des ihr disziplinarisch zur Last gelegten Verhaltens einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus "einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe" erheblich vermindert war oder zumindest hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, nach denen eine entsprechende Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden kann. Ausgehend von der Bindungswirkung hätte stattdessen auf das vom Landgericht im Strafurteil festgestellte Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung abgestellt werden müssen. Im Urteil selbst ist das Verwaltungsgericht unter Berufung auf das Gutachten des Dr. S. vom Fehlen sämtlicher Eingangsmerkmale des § 20 StGB ausgegangen.

12Da es nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auf Fehler des berufungsgerichtlichen Verfahrens ankommt, sind Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens für die Zulassung der Revision gegen ein Berufungsurteil grundsätzlich nicht von Bedeutung. Verfahrensmängel des Verwaltungsgerichts können lediglich dann eine Revisionszulassung rechtfertigen, wenn sie sich in der Berufungsinstanz fortgesetzt oder wenn sie dort fortgewirkt haben (BVerwG, Beschlüsse vom - 7 B 104.90 - NJW 1991, 190 und vom - 6 B 10.23 - juris Rn. 18). Diese Ausnahme ist hier nicht gegeben.

13Zum einen hat das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten vorab auf die von ihm beabsichtigte Lösung von bestimmten tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils hingewiesen. Zum anderen hat das Oberverwaltungsgericht im Vorfeld der Berufungsverhandlung am einen entsprechenden ausdrücklichen Lösungsbeschluss (dort Ziff. 2) gefasst, hat die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils vom benannt, von denen es sich löst, und hat diese Lösung ausreichend mit den Ergebnissen des vom Verwaltungsgericht eingeholten Gutachtens des Dr. S. begründet.

14Zum Zeitpunkt des Lösungsbeschlusses des Oberverwaltungsgerichts lagen auch die Voraussetzungen von § 65 Abs. 1 und § 56 Abs. 1 Satz 2 LDG NRW vor. Die gesetzliche Bindungswirkung dient der Rechtssicherheit. Sie soll verhindern, dass zu ein- und demselben Geschehensablauf unterschiedliche Tatsachenfeststellungen getroffen werden. Der Gesetzgeber hat die Aufklärung eines sowohl strafrechtlich als auch disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalts sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung den Strafgerichten übertragen. Dementsprechend sind die Verwaltungsgerichte nur dann berechtigt und verpflichtet, sich von den Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen und den disziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich zu ermitteln, wenn sie ansonsten "sehenden Auges" auf der Grundlage eines unrichtigen oder aus rechtsstaatlichen Gründen unverwertbaren Sachverhalts entscheiden müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Tatsachenfeststellungen des Strafurteils in Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen Gründen offenbar unrichtig sind. Darüber hinaus kommt eine Lösung in Betracht, wenn neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung standen und nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche Zweifel stoßen. Die Bindungswirkung entfällt aber auch bei Strafurteilen, die in einem ausschlaggebenden Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind ( 1 D 13.99 - BVerwGE 112, 243 <245> und vom - 2 WD 3.06 - BVerwGE 128, 189 <190>; Beschlüsse vom - 2 B 65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11, vom - 2 B 43.10 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5, vom - 2 B 78.12 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 20 Rn. 6 f., vom - 2 B 18.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 54 Rn. 28 und vom - 2 B 75.18 - juris Rn. 17).

15Die erheblichen Zweifel an der tatsächlichen Feststellung des Landgerichts hat das Berufungsgericht zulässigerweise aus dem Gutachten des Dr. S. abgeleitet, das vom Verwaltungsgericht im gerichtlichen Disziplinarverfahren eingeholt worden ist. Die aufgezeigten Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts haben nicht dazu geführt, dass dieses Gutachten im weiteren gerichtlichen Disziplinarverfahren unverwertbar ist.

16Das Landesdisziplinargesetz Nordrhein-Westfalen kennt kein generelles Verbot, wonach fehlerhaft erhobene Beweise nicht verwertet werden dürfen. Ein Verwertungsverbot benennt das Gesetz nur für speziell bezeichnete, teilweise anders gelagerte Fälle (z. B. § 16 Abs. 1 und § 20 Abs. 3 LDG NRW). Auch besteht kein allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig ist ( - NVwZ 2005, 1175 f. m. w. N.). Vielmehr beurteilt sich die Frage eines Verwertungsverbots jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen ( - NJW 2008, 3053 f. zum Verwertungsverbot im Strafprozess). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nur dann mit der Folge eines Verwertungsverbots verletzt, wenn die Abwägung zu dem Ergebnis führt, dass ein Eingriff in die Interessen des Beamten im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegt als diejenigen Belange, deren Wahrung die staatliche Maßnahme dienen soll.

17Die Abwägung der vorliegend berührten Belange ergibt, dass die Interessen der Beklagten zurückzustehen haben, sodass das Gutachten vom Oberverwaltungsgericht verwertet werden konnte. Für die Beklagte spricht ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht sowie das auch für das gerichtliche Disziplinarverfahren geltende Gebot des fairen Verfahrens ( u. a. - BVerfGE 38, 105 <111>), wonach staatliche Organe gegenüber dem Einzelnen korrekt und fair zu verfahren haben. Insbesondere kommt hier die Annahme eines schwer wiegenden Fehlers des Gerichts zum Nachteil der Beklagten, der ein Verwertungsverbot zur Folge haben kann ( - NJW 2008, 3053), nicht in Betracht. Ein solcher Fehler ist insbesondere in solchen Fällen anzunehmen, in denen der Betroffene im Vorfeld der Maßnahme deutlich auf deren verfahrens- oder materiell-rechtliche Unzulässigkeit hingewiesen hat, diese aber ungeachtet dieses Vorbringens durchgeführt worden ist (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom - 6 A 32/09 - juris Rn. 69 f. zur Durchsuchung des Dienst-PC ohne den erforderlichen Durchsuchungsbeschluss). Denn im Zeitraum vor dem Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichts vom hatte die Beklagte nicht ausdrücklich geltend gemacht, dass die Disziplinargerichte hinsichtlich des Vorliegens des Eingangsmerkmals der krankhaften seelischen Störung i. S. v. § 20 StGB an die Entscheidung des Landgerichts gebunden sind und eine Lösung hiervon einen entsprechenden Beschluss unter Darlegung der Anhaltspunkte für die offenkundige Unrichtigkeit dieser tatsächlichen Feststellung des Strafurteils voraussetzt. Zwar ist die Beklagte in vorbereitenden Schriftsätzen auf die Annahme in der Disziplinarklageschrift (S. 36) eingegangen, bei ihr sei entgegen der Annahme des Strafurteils vom Oktober 2013 die Steuerungsfähigkeit i. S. v. § 21 StGB bei Tatbegehung nicht erheblich vermindert gewesen. Auf die bestehende Bindungswirkung hat die Beklagte allerdings nicht verwiesen.

18Die für die Verwertung des Gutachtens sprechenden öffentlichen Interessen sind gegenüber den Belangen der Beklagten wesentlich höher zu gewichten. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, dass vergleichbare Dienstvergehen gleichmäßig geahndet werden und ihre Sanktionierung jeweils den Vorgaben des § 13 LDG NRW entspricht. Ist die Schuldfähigkeit des Beamten i. S. v. § 21 StGB erheblich vermindert, so ist dieser Umstand vom Disziplinargericht bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit den ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Wegen des auch im Disziplinarverfahren geltenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Schuldgrundsatzes kann die Höchstmaßnahme bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden ( 2 A 18.21 - NVwZ 2024, 165 Rn. 35 m. w. N.). Die Vorgaben des § 13 LDG NRW erfordern es aber, dass die Vergünstigung der erheblich verminderten Schuldfähigkeit nur solchen Beamten zugutekommt, bei denen die Voraussetzungen auch tatsächlich erfüllt sind. Die Verwertung des Gutachtens gewährleistet hier, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht "sehenden Auges" zu Unrecht ein erheblicher Milderungsgrund angenommen wird.

19bb) Dass das Oberverwaltungsgericht hinsichtlich der Frage der erheblich verminderten Schuldfähigkeit der Beklagten im Tatzeitraum kein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt, sondern sich allein auf das vom Verwaltungsgericht eingeholte Gutachten des Dr. S. gestützt hat, verletzt weder den Anspruch der Beklagten auf ein faires Verfahren noch den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit noch den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör und auch nicht den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

20Der von der Beklagten herangezogene Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist vom Bundesverfassungsgericht als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess entwickelt worden (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 1 BvR 1601/23 - ZUM-RD 2024, 1 Rn. 19 und vom - 1 BvR 605/23 - NJW 2023 Rn. 25). Sein Gehalt, die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Beteiligten vor Gericht zu gewährleisten, gebietet es nicht, einem prozessordnungswidrig eingeholten, aber verwertbaren Sachverständigengutachten von vornherein einen geringeren Beweiswert zuzusprechen. Unterliegt ein solches Gutachten nach der Abwägung der berührten Interessen keinem Verwertungsverbot, so ist es in jeder Hinsicht als vollwertiges Gutachten zu behandeln. Es ist nicht von vornherein mit einem Makel in dem Sinne behaftet, dass es wegen der Umstände seines Zustandekommens als Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts allein nicht ausreichen kann.

21Ob ein weiteres Sachverständigengutachtens einzuholen ist, bestimmt sich bei Annahme der Verwertbarkeit des Gutachtens allein nach den für jedes Gutachten geltenden gesetzlichen Vorgaben des § 98 VwGO und des § 412 ZPO. Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist nur dann geboten, wenn das vorliegende Gutachten objektiv ungeeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist im Allgemeinen der Fall, wenn das vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen gibt, ein anderer Sachverständiger über neue oder überlegenere Forschungsmittel oder größere Erfahrung verfügt oder wenn das Beweisergebnis durch substantiierten Vortrag eines der Beteiligten oder durch eigene Überlegungen des Gerichts ernsthaft erschüttert wird. Die Verpflichtung zur Ergänzung des Gutachtens folgt nicht schon daraus, dass ein Beteiligter dieses als Erkenntnisquelle für unzureichend hält (stRspr, vgl. 7 C 8.11 - Buchholz 419.01 § 26 GenTG Nr. 1 Rn. 37; Beschlüsse vom - 7 B 35.09 - juris Rn. 12 und vom - 7 BN 3.19 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 122 Rn. 6).

22Dass sich nach diesen - auch für ein als verwertbar angesehenes Gutachten geltenden - Grundsätzen dem Oberverwaltungsgericht die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens auch ohne einen in der Berufungsverhandlung unbedingt gestellten Beweisantrag hätte aufdrängen müssen, wird in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt.

23cc) Unbegründet ist auch die Verfahrensrüge, das Berufungsgericht habe dadurch gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen, dass es das Gutachten des Dr. S., das sich eingehend mit dem im Strafprozess erstellten Gutachten des Sachverständigen O. auseinandersetzt, trotz fehlender eigener medizinischer Sachkunde als überzeugend angesehen und deshalb auf die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens verzichtet habe. Das von der Beklagten beanstandete Vorgehen des Berufungsgerichts entspricht dem prozessrechtlichen Verhältnis von Gericht und dem von ihm beauftragten Sachverständigen.

24Die Heranziehung eines Sachverständigen kommt nur in Betracht, wenn die Beurteilung des Sachverhalts eine besondere Sachkunde erfordert, über die der Richter nicht verfügt. Der Sachverständige ist allerdings lediglich Gehilfe des Gerichts; die rechtliche Würdigung obliegt dem Gericht, das hierfür das Gutachten zu verwerten hat ( 7 C 103.62 - BVerwGE 17, 342 f.). Die Einholung des Gutachtens enthebt das Gericht nicht von der Verpflichtung, sich auch hinsichtlich des der Begutachtung unterworfenen Sachverhalts und der Ergebnisse des Gutachtens seine eigene Überzeugung zu bilden. Das Gericht darf die Begutachtung nicht einfach für seine Entscheidung übernehmen, sondern muss die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Gutachtens im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände, der eigenen Sachkunde und der allgemeinen Lebenserfahrung selbstverantwortlich überprüfen und nachvollziehen; erst auf der Grundlage dieser Prüfung darf es sich das Gutachten zu Eigen machen ( 6 C 76.65 - Buchholz 232 § 139 BBG Nr. 9 S. 5 und Beschluss vom - 6 B 7.70 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 71 S. 16). Für diese dem Gericht obliegende Prüfung bedarf es nicht der besonderen Sachkunde, die gerade den Sachverständigen kennzeichnet und ihn vom Gericht unterscheidet.

25b) Die Sache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.

26Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist ( 1 B 25.12 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 7 Rn. 3).

27Die Beschwerde der Beklagten sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in folgenden Fragen:

"1. Welche Rechtsfolgen hat es, wenn im disziplinargerichtlichen Verfahren (hier: nach dem LDG NRW) das Verwaltungsgericht, ohne sich durch Beschluss gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 LBG NRW von den auf einem Sachverständigengutachten beruhenden Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils in derselben Sache zu lösen, ein (neues) Sachverständigengutachten zu diesen Feststellungen einholt, auf den gegenteiligen Feststellungen des neuen Gutachtens sein Urteil stützt und das Berufungsgericht - nunmehr nach einem Lösungsbeschluss, der sich auf aus dem neuen Gutachten gewonnene "erhebliche Zweifel" an den strafgerichtlichen Feststellungen stützt, das Berufungsurteil (ebenfalls) aufgrund dieses neuen Gutachtens trifft?"

"2. Darf das Berufungsgericht in der vorliegenden Fallkonstellation (siehe 1) das erstinstanzlich verfahrenswidrig eingeholte Gutachten berücksichtigen oder ist es - trotz seines eigenen Lösungsbeschlusses - an die strafgerichtliche Feststellung gebunden?"

"3. Dürfen nur rechtmäßig (d. h. prozessordnungsgemäß) in das Verfahren eingeführte Beweismittel Anlass für eine Lösung von den Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils i. S. v. § 56 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW sein (in Eingrenzung einer mglw. missverständlichen, zu weiten Formulierung 2 B 18.17 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 54 Rn. 28 <2. Satz>)?"

4. Ist das Berufungsgericht, sofern das zweite eingeholte Sachverständigengutachten berücksichtigt werden darf, "in der vorstehenden Fallkonstellation - sei es aufgrund des Anspruchs auf ein faires Verfahren oder des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit oder wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (einzeln oder in der Summe dieser drei Aspekte) - zumindest verpflichtet, ein weiteres Sachverständigengutachten (Obergutachten) einzuholen?"

5. Ist das Berufungsgericht, sofern das zweite Sachverständigengutachten berücksichtigt werden darf, in der vorliegenden Fallkonstellation aufgrund des Anspruchs auf ein faires Verfahren, nach dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit oder aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör "zumindest verpflichtet, den Sachverständigen aus dem strafgerichtlichen Verfahren zur mündlichen Verhandlung zu laden und ihm Gelegenheit zur Erläuterung seines Gutachtens und den diesbezüglichen Einwänden des Zweitgutachters zu geben?"

28Die Frage 1 knüpft lediglich an die konkreten Gegebenheiten des Falles der Beklagten an und formuliert keine konkrete Fragestellung, die im angestrebten Revisionsverfahren rechtsgrundsätzlich geklärt werden könnte. Sollte mit der Fragestellung 2) die Frage der Verwertbarkeit des im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens für die vom Berufungsgericht beschlossene Lösung von tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils zum Vorliegen eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB aufgeworfen worden sein, so käme die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht in Betracht. Denn die Grundsätze für die Verwertbarkeit von prozessordnungswidrig eingeholten Sachverständigengutachten im weiteren gerichtlichen Verfahren sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesgerichte geklärt. Einen erneuten Klärungsbedarf zeigt die Beschwerdebegründung der Beklagten nicht auf. Auch die Frage 3) führt nicht zur Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass ein prozessordnungswidrig eingeholtes, aber nach den anerkannten Grundsätzen verwertbares Gutachten ein vollwertiges Gutachten ist, aus dem sich erhebliche Zweifel an der Richtigkeit von tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils ergeben können. Die Frage 4) ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ebenfalls geklärt. Wenn das prozessordnungswidrig eingeholte Gutachten verwertbar ist, handelt es sich, was bereits aus der Bezeichnung "verwertbar" folgt, um ein vollwertiges Gutachten. Die Notwendigkeit eines weiteren Gutachtens bestimmt sich nach den für jedes Gutachten geltenden gesetzlichen Vorgaben des § 98 VwGO und des § 412 ZPO. Die Frage 5) kann im angestrebten Revisionsverfahren, wie auch die Beschwerde einräumt, nicht geklärt werden. Denn der im strafgerichtlichen Verfahren herangezogene Gutachter ist bereits lange vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts verstorben.

293. Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 Abs. 1 LDG NRW und § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Beschwerdeverfahren Festgebühren nach dem Gebührenverzeichnis der Anlage zu § 75 LDG NRW erhoben werden.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:020524B2B37.23.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-69450