BGH Beschluss v. - VIa ZB 23/23

Instanzenzug: Az: I-18 U 261/21vorgehend LG Duisburg Az: 6 O 13/21

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2Er erwarb im Jahr 2016 einen neuen Audi Q7 3.0 TDI quattro 200, der mit einem von der Beklagten entwickelten und hergestellten 3,0 l Sechszylinder-Dieselmotor ausgestattet ist. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Berufung verlangt der Kläger unter anderem Zahlung des Kaufpreises unter Abzug einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs.

3Richter am Oberlandesgericht Dr. G., der nach der Geschäftsverteilung der für die Entscheidung über die Berufung zuständigen Spruchgruppe angehört, hat im August 2023 angezeigt, er sei Eigentümer eines Fahrzeugs der Marke Audi, in dem ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 verbaut sei. Er habe sich der Musterfeststellungsklage gegen die Volkswagen AG betreffend diesen Motor vor dem Oberlandesgericht Braunschweig zum Aktenzeichen 4 MK 1/18 angeschlossen. Im dortigen Verfahren habe er einen Vergleich geschlossen, mit dem auch Ansprüche gegen andere Konzerngesellschaften - insbesondere auch gegen die im Vergleich namentlich bezeichnete Audi AG - abgegolten gewesen seien. Daraufhin hat die Beklagte Richter am Oberlandesgericht Dr. G. wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

4Das Berufungsgericht hat das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II.

5Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, § 575 ZPO. Sie ist zudem in der Sache gerechtfertigt.

61. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung - soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - ausgeführt, allein die Anmeldung von Ansprüchen des abgelehnten Richters zum Musterfeststellungsverfahren gegen die Volkswagen AG sei bei Abwägung aller Umstände nicht geeignet, vom Standpunkt der Parteien bei vernünftiger Betrachtung heute noch Zweifel an dessen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit aufkommen zu lassen. Das Musterfeststellungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig sei allein gegen die Volkswagen AG als Herstellerin bestimmter Motoren geführt und schon im Frühjahr 2020 abgeschlossen worden. Eine rechtliche Verbindung zu den übrigen Konzerngesellschaften sei erst durch den verfahrensbeendenden Vergleich entstanden. Ein enger zeitlicher Zusammenhang, der bei dieser Sachlage die Annahme des Vorliegens von Befangenheitsgründen trage, bestehe nicht mehr. Zwischen dem Vergleichsschluss mit der Volkswagen AG und dem Verhandlungstermin vor dem Senat lägen mehr als drei Jahre. Entscheidend komme hinzu, dass mittlerweile eine differenzierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs flankiert durch die Vorgaben des Gerichtshofes der Europäischen Union für sogenannte Dieselverfahren vorliege. Diese Entscheidungen bestimmten die Rechtsfindung der Berufungsgerichte und der ihnen angehörenden Richter. Gegen eine Voreingenommenheit des abgelehnten Richters zum Nachteil der Beklagten spreche schließlich, dass er sein Fahrzeug der Marke Audi weiterhin nutze.

72. Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

8a) Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO ist die Befangenheit eines Richters zu besorgen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Maßgeblich ist, ob aus Sicht der ablehnenden Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt bereits der "böse Schein", das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität. Misstrauen gegen die Unvoreingenommenheit eines Richters ist unter anderem dann gerechtfertigt, wenn er in einem Verfahren zwar nicht selbst Partei ist, aber über den gleichen Sachverhalt zu entscheiden hat, aus dem er selbst Ansprüche gegen eine Partei geltend macht. Aus der Sicht einer Partei, gegen die ein Richter Ansprüche erhebt, kann Anlass zu der Befürchtung bestehen, dass dieser Richter die Würdigung des Sachverhalts, wie er sie dem von ihm verfolgten Anspruch gegen die Partei zugrunde gelegt hat, auf das Verfahren gegen eine andere Partei, dem der gleiche Sachverhalt zugrunde liegt, überträgt und wie in der eigenen Sache urteilt (vgl. zum Ganzen , NJW 2020, 1680 Rn. 9 f.; Beschluss vom - VI ZB 94/19, NJW 2020, 3458 Rn. 7 f.; Beschluss vom - III ZB 57/20, NJW 2021, 2368 Rn. 7; Beschluss vom - VIa ZB 17/23, juris Rn. 8).

9b) Nach diesen Maßstäben liegt ein Ablehnungsgrund vor. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht die Beteiligung des abgelehnten Richters an dem Musterfeststellungsverfahren zwischenzeitlich für unerheblich erachtet hat, sind von Rechtsfehlern beeinflusst.

10aa) Die Anmeldung von Ansprüchen des abgelehnten Richters zum Musterfeststellungsverfahren gegen die Volkswagen AG ist geeignet, vom Standpunkt der Beklagten aus bei vernünftiger Betrachtung Zweifel an seiner Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit auch ihr selbst gegenüber aufkommen zu lassen.

11Zwar richtete sich die Musterfeststellungsklage nicht gegen die Beklagte, sondern gegen ihre Konzernmutter, die bloße Herstellerin des im Fahrzeug des abgelehnten Richters verbauten Motors ist, und betraf das Musterfeststellungsverfahren einen Motor einer anderen Baureihe. Eine Haftung der Motorherstellerin eines vom sogenannten Dieselskandal betroffenen Motors - hier der Konzernmutter der Beklagten im Musterfeststellungsverfahren - nach §§ 826, 31 BGB kann allerdings nicht nur mit deren mittelbarer Täterschaft gerechtfertigt werden, sondern kommt auch in Betracht, wenn die sittenwidrige vorsätzliche Schädigung durch die Fahrzeugherstellerin und die Motorherstellerin als Mittäter begangen worden ist (vgl. , WM 2021, 1300 Rn. 12; Urteil vom - VI ZR 151/20, WM 2021, 1661 Rn. 12; Urteil vom - VI ZR 148/20, VersR 2022, 186 Rn. 13). In der Inanspruchnahme der Konzernmutter nach §§ 826, 31 BGB lag insoweit keine Vorfestlegung des abgelehnten Richters zur Frage einer täterschaftlichen Schädigung durch die Beklagte, so dass ihm die Möglichkeit offenblieb, auch die Beklagte als Verwenderin des Motors nach §§ 826, 31 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz in Anspruch zu nehmen. Welches Vorstellungsbild der abgelehnte Richter subjektiv tatsächlich mit seiner Anmeldung verfolgte, ist für § 42 Abs. 2 ZPO unerheblich (vgl. , NJW 2020, 1680 Rn. 19; vgl. zum Ganzen VIa ZB 17/23, juris Rn. 11).

12Aus der maßgeblichen Sicht der ablehnenden Partei war wegen der vorausgehenden Inanspruchnahme der Konzernmutter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters betreffend einen umfassenderen Lebenssachverhalt - Einbau eines nach dem Vortrag des Klägers vom sogenannten Dieselskandal wie Motoren der Baureihe EA 189 betroffenen, wenn auch einer anderen Baureihe zugehörigen Motors in das Fahrzeug des Klägers - auch gegenüber der Beklagten als Fahrzeugherstellerin zu zweifeln. Die Sachverhalte sind ausreichend vergleichbar, weil es in beiden Fällen um den Vorwurf geht, ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug habe bei Erwerb wegen der (vorsätzlichen) Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen nicht den einschlägigen Zulassungsvorschriften entsprochen (vgl. VIa ZB 17/23, juris Rn. 12).

13bb) Die Anmeldung der Ansprüche im Musterfeststellungsverfahren ist auch weiterhin geeignet, aus Sicht der Beklagten den Anschein der Parteilichkeit zu begründen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts führt der Zeitablauf von mehr als drei Jahren zwischen Vergleichsschluss und Verhandlungstermin nicht zum Wegfall der Besorgnis der Befangenheit.

14Nach welchem zeitlichen Ablauf von einem Wegfall des Ablehnungsgrunds ausgegangen werden kann, lässt sich nicht durch eine starre Frist bestimmen. Gleichzeitig ist ein Richter im Fall der Interessenparallelität nicht dauerhaft von solchen Verfahren ausgeschlossen, sondern nach der Geschäftsverteilung zuständig, wenn die Bejahung einer Besorgnis der Befangenheit auf die Entziehung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) hinausliefe (vgl. , MDR 2015, 50 Rn. 7). Maßgeblich ist, dass - erneut aus der maßgeblichen Sicht einer verständigen Partei - mit einer genügenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, der abgelehnte Richter habe seine negative Haltung ihr gegenüber inzwischen geändert (vgl. , NJW 2021, 2368 Rn. 13). Diese Annahme ist - ohne zusätzliche Anhaltspunkte - nach Ablauf von drei Jahren nicht gerechtfertigt. Der vom Berufungsgericht angeführte Umstand, der abgelehnte Richter nutze sein Fahrzeug der Marke Audi weiterhin, bietet keinen entsprechenden Anhalt, weil dem allein wirtschaftliche Erwägungen zugrunde liegen können (vgl. zum Ganzen VIa ZB 17/23, juris Rn. 14).

15cc) Schließlich kommt dem aus Sicht des Berufungsgerichts entscheidenden Aspekt, die differenzierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union bestimmten die Rechtsfindung der den Berufungsgerichten angehörenden Richter, im Zusammenhang mit der Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit keine Bedeutung zu. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte - auch die im Rechtszug übergeordneten - den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich (, BVerfGE 87, 273, 278; vgl. zum Ganzen VIa ZB 17/23, juris Rn. 15).

III.

16Der Senat kann in der Sache selbst das Ablehnungsgesuch für begründet erklären, weil die Aufhebung der Entscheidung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Rechts auf den festgestellten Sachverhalt erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Kosten der erfolgreichen Rechtsbeschwerde sind Kosten des Rechtsstreits ( VIa ZB 17/23, juris Rn. 16).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:090424BVIAZB23.23.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-69091