BAG Urteil v. - 4 AZR 120/23

Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge - Tarifwechselklausel - Auslegung einer tariflichen Besitzstandsklausel

Gesetze: § 3 Abs 1 TVG, § 4 Abs 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Gera Az: 5 Ca 122/21 Urteilvorgehend Thüringer Landesarbeitsgericht Az: 1 Sa 297/21 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die wöchentliche Arbeitszeit des Klägers und das ihm hierfür zustehende monatliche Entgelt.

2Der Kläger war seit 2013 bis zum bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin als Lagerarbeiter beschäftigt. Der Arbeitsvertrag vom enthielt ua. folgende Bestimmungen:

3Die Beklagte war Mitglied in der AHD Unternehmensvereinigung für Arbeitsbedingungen im Handel und Dienstleistungsgewerbe e.V. (AHD). Die AHD hatte mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di einen Sicherungstarifvertrag (SiTV) geschlossen. Dieser enthielt eine Bezugnahme auf die zwischen dem Landesverband für Groß-/Außenhandel und Dienstleistungen Thüringen e. V. (LGAD) sowie dem Landesverband Ost der Gewerblichen Verbundgruppen e.V. einerseits und ver.di andererseits geschlossenen Mantel- und Entgelttarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung.

4Der Kläger, der nicht Mitglied von ver.di ist, erhielt in Anwendung des SiTV bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden zuletzt ein monatliches Bruttoentgelt iHv. 2.339,00 Euro.

5Mit Wirkung zum kündigte die AHD den SiTV. Zum trat die Beklagte dem Landesverband Thüringen des Verkehrsgewerbes (LTV) e.V. (LTV Thüringen) bei, welcher mit ver.di bereits am einen Manteltarifvertrag (MTV) geschlossen hatte. Nach diesem beträgt die regelmäßige monatliche Arbeitszeit für stationäres Personal 173 Stunden. Das monatliche Entgelt ergibt sich nach § 12 MTV aus dem jeweils gültigen Entgelttarifvertrag (ETV). § 22 MTV lautet wie folgt:

6Der zwischen dem LTV Thüringen und ver.di geschlossene ETV vom enthält ua. folgende Regelung:

7Seit April 2021 arbeitete der Kläger entsprechend der Regelung im MTV wöchentlich 40 Stunden. Die Beklagte vergütete ihn nach Entgeltgruppe 2 ETV. Zusätzlich leistete sie für die Dauer von zwölf Monaten eine quartalsweise abschmelzende übertarifliche Zulage zum teilweisen Ausgleich der Differenz zum vormaligen Tarifentgelt des SiTV.

8Der Kläger hat die Ansicht vertreten, für ihn gelte weiterhin eine wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden. Hierfür stehe ihm - wie im SiTV geregelt - eine monatliche Bruttovergütung iHv. 2.339,00 Euro zu. Für ihn sei nicht vorhersehbar gewesen, mit welchen Änderungen seiner Arbeitsbedingungen er zu rechnen habe. Sollten der ETV und der MTV anwendbar sein, stünden die Besitzstandsregelungen in § 22 MTV und in § 7 ETV einer Abänderung der wöchentlichen Arbeitszeit und des Entgelts entgegen. Hierdurch sollten ihm diejenigen höheren Leistungen erhalten bleiben, die er vor der Anwendung der jetzigen Tarifverträge beanspruchen konnte.

9Der Kläger hat - soweit für die Revision von Bedeutung - zuletzt beantragt

10Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, infolge ihres Beitritts zum LTV Thüringen fänden der MTV und der ETV anstelle des SiTV auf das bestehende Arbeitsverhältnis Anwendung. Diese Tarifverträge hätten die Bestimmungen des SiTV abgelöst. Die Besitzstandsklauseln in § 22 MTV und in § 7 ETV verwiesen lediglich deklaratorisch auf das ohnehin geltende Günstigkeitsprinzip.

11Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

12Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers im Ergebnis zutreffend zurückgewiesen.

13I. Der Feststellungsantrag ist in der zuletzt gestellten Fassung - nach der gebotenen Auslegung (dazu  - Rn. 39 mwN) - zulässig.

141. Eine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO kann sich auch auf einzelne Bedingungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken - sog. Elementenfeststellungsklage. Das Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO ist allerdings nur dann gegeben, wenn durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag ein zwischen den Parteien bestehender Streit über Leistungsverpflichtungen insgesamt bereinigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann ( - Rn. 24).

152. Nach diesen Maßstäben ist der Feststellungsantrag zulässig. Der Kläger begehrt - wie er auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat - die einheitliche Feststellung, dass seine wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden bei einer Bruttovergütung von 2.339,00 Euro betragen hat. Durch eine Entscheidung über dieses Feststellungsbegehren wird die zwischen den Parteien streitige Frage der maßgebenden Wochenarbeitszeit sowie des hierfür zu leistenden Entgelts geklärt. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger nicht zwei eigenständige Elementenfeststellungsanträge gestellt. Ginge man von zwei Anträgen aus und würde nur einem stattgegeben, würde der zwischen den Parteien bestehende Streit nicht vollständig bereinigt. Wäre nur der Antrag hinsichtlich der Arbeitszeit erfolgreich, bliebe unklar, ob das Monatsentgelt nach dem ETV an die gegenüber dem MTV geringere Arbeitszeit anzupassen wäre; würde dem Entgeltbegehren entsprochen, stünde nicht fest, welche Arbeitszeit maßgebend ist.

16II. Die Klage ist unbegründet. Die zu leistende Arbeitszeit und der Vergütungsanspruch des Klägers richten sich seit dem Beitritt der Beklagten zum LTV Thüringen nach dem MTV und dem ETV. Die Regelungen des SiTV werden von den Besitzstandsregelungen in § 22 Abs. 1 MTV und § 7 Abs. 1 ETV nicht erfasst.

171. Bei dem Arbeitsvertrag der Parteien handelt es sich um einen Formularvertrag, der nach den Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen auszulegen ist (vgl.  - Rn. 16). Dessen Auslegung durch das Landesarbeitsgericht ist in der Revisionsinstanz voll überprüfbar (sh. nur  - Rn. 12).

182. Die arbeitsvertragliche Regelung ist dahin auszulegen, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien - wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat - die Tarifverträge anzuwenden sind, an die die Beklagte normativ gebunden ist.

19a) Nach § 13 Abs. 1 des Arbeitsvertrags finden auf das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis „die für den Arbeitgeber … jeweils unmittelbar und zwingend geltenden Tarifverträge … in ihrer jeweiligen Fassung … Anwendung“. Erfasst sind nicht nur die Tarifverträge einer bestimmten Branche oder bestimmter Tarifvertragsparteien in ihrer jeweiligen Fassung, sondern auch andere Tarifverträge, an die die Arbeitgeberin (zukünftig) gebunden sein wird (sog. große dynamische Bezugnahmeklausel, die auch als Tarifwechselklausel bezeichnet wird; vgl.  - Rn. 23 mwN, BAGE 174, 382). Die Möglichkeit der Ablösung von Tarifverträgen durch Tarifverträge anderer Tarifvertragsparteien wird in Abs. 2 der Arbeitsvertragsregelung klargestellt. Die Tarifwechselklausel ist Vertragsbestandteil geworden. Sie ist weder ihrer äußeren Form nach noch aufgrund ihrer inhaltlichen Gestaltung überraschend iSd. § 305c Abs. 1 BGB. Weiterhin ist sie nicht intransparent iSd. § 307 Abs. 3 Satz 2 iVm. Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. dazu  - Rn. 14 mwN).

20b) Die Bezugnahmeklausel in § 13 des Arbeitsvertrags erfasst auch die Arbeitszeit und die Vergütung. In § 2 und § 3 des Arbeitsvertrags haben die Parteien keine vom jeweils anwendbaren Tarifvertrag unabhängige Festlegung der Arbeitsvertragsbedingungen getroffen.

21aa) Zwar hat eine ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufgenommene Klausel grundsätzlich Vorrang gegenüber einer nur durch die pauschale Bezugnahme auf einen Tarifvertrag anwendbaren Regelung. Von diesem Grundsatz können die Arbeitsvertragsparteien jedoch abweichen, indem sie einer ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufgenommenen Regelung eine nur „deklaratorische“, den Wortlaut des in Bezug genommenen Tarifwerks lediglich wiedergebende Bedeutung beimessen und damit gleichsam die Bezugnahme „ausformulieren“ (ausf.  - Rn. 30, BAGE 168, 96).

22bb) Vorliegend haben die Parteien hinsichtlich der Vergütung in § 3 des Arbeitsvertrags durch die Nennung einer Tarifgruppe und eines Tarifgehalts lediglich den Inhalt des damals infolge der Bezugnahmeklausel maßgebenden Tarifvertrags wiedergegeben. Die Überschrift „Deklaratorische Eingruppierung, Vergütung“ verdeutlicht, dass der Erklärung keine konstitutive Bedeutung zukommt, sondern es sich nur um eine Angabe in Form einer sog. Wissenserklärung handelt (vgl. dazu  - Rn. 23 mwN). Hinsichtlich der Arbeitszeit wird nach § 2 lediglich festgehalten, dass sich diese nach dem jeweils geltenden Tarifvertrag richtet.

233. Die Beklagte war nach ihrem Eintritt in den LTV Thüringen am an den MTV und den ETV unmittelbar und zwingend (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) gebunden. Deren Regelungen waren nach § 13 Abs. 1 des Arbeitsvertrags seither für das Arbeitsverhältnis maßgebend.

244. Die Entgelt- und Arbeitszeitregelungen des SiTV werden durch die Besitzstandsregelungen in § 22 Abs. 1 MTV und § 7 Abs. 1 ETV nicht erfasst. Die Reichweite der konstitutiven Besitzstandsklauseln beschränkt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auf Leistungen aus den Vorgängertarifverträgen der vertragschließenden Tarifvertragsparteien. Das ergibt die Auslegung der Tarifbestimmungen (zu den Maßstäben der Tarifauslegung zB  - Rn. 35 mwN, BAGE 164, 326). Deshalb kann vorliegend dahinstehen, ob - wie der Kläger geltend gemacht hat - eine (geringere) Arbeitszeit tatsächlich eine „(höhere) Leistung“ iSd. § 22 Abs. 1 MTV ist.

25a) Regelt ein Tarifvertrag einen bestimmten Komplex von Arbeitsbedingungen insgesamt neu, ersetzt er nach dem Ablösungsprinzip den vorangehenden Tarifvertrag derselben Tarifvertragsparteien insoweit grundsätzlich insgesamt. Dieses Ablösungsprinzip können die Tarifvertragsparteien allerdings durch entsprechende Vereinbarungen in den Nachfolgetarifverträgen zur Wahrung eines Besitzstands durchbrechen (vgl.  - Rn. 20, 53).

26b) Bei den beiden Besitzstandsklauseln handelt es sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht lediglich um rein deklaratorische Wiederholungen des in § 4 Abs. 3 TVG verankerten Günstigkeitsprinzips (zu einer solchen Regelung etwa  - BAGE 17, 204). Das ergibt sich schon aus der Wahl der Überschriften in § 22 MTV und § 7 ETV. Daraus wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien einen Besitzstand sichern wollten (ähnlich  - zu II 1 a aa der Gründe). Ferner orientiert sich der Wortlaut nicht an § 4 Abs. 3 TVG. Durch die Formulierung, wonach ein Besitzstand als „vereinbart“ gilt, kommt der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer konstitutiven Regelung zum Ausdruck. Überdies kann ein Tarifvertrag bestehende individualvertraglich vereinbarte Rechte nach § 4 Abs. 3 TVG nicht abändern oder verkürzen (sh. nur  - Rn. 32 f. mwN). Deswegen sprechen auch die in § 22 Abs. 2 MTV und in § 7 Abs. 2 ETV vorgesehenen Möglichkeiten dagegen, dass die Besitzstandsklauseln nach dem Willen der Tarifvertragsparteien lediglich der Wiederholung des Günstigkeitsprinzips aus § 4 Abs. 3 TVG dienen sollten.

27c) Die Besitzstandsregelungen erfassen keine „höhere Leistungen“, welche in anderen als von den Tarifvertragsparteien des MTV und des ETV geschlossenen Tarifverträgen enthalten sind.

28aa) Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist kollektiv ausgeübte Privatautonomie ( - Rn. 22 mwN, BAGE 135, 80). Die Tarifvertragsparteien regeln im Interesse ihrer Mitglieder deren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dem wird regelmäßig durch den Abschluss eigener Tarifverträge Rechnung getragen ( - Rn. 34). Hierbei sind einzelne Tarifnormen nicht selten Ergebnisse tarifpolitischer Kompromisse ( - Rn. 34 mwN). Begünstigungen bei einzelnen Regelungen können um den Preis von Benachteiligungen durch andere Vorschriften erwirkt werden ( - Rn. 30, BAGE 163, 144). Außerdem schaffen Tarifvertragsparteien zusammenhängende Regelungssysteme, innerhalb derer es zu Verbindungen zwischen einzelnen Tarifnormen oder verschiedenen Tarifverträgen kommt. In ein solches tarifliches Regelungsgefüge lassen sich einzelne Bestimmungen aus Tarifverträgen anderer Tarifvertragsparteien nicht ohne weiteres integrieren. Zwar ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die Tarifvertragsparteien zugunsten ihrer Mitglieder einen Besitzstand wahren wollen, den diese unter der vormaligen Geltung eines Tarifvertrags anderer Tarifvertragsparteien erworben haben. Hierfür bedarf es aber ganz besonderer Anhaltspunkte (sh. auch zur Verweisung auf Tarifverträge, an denen eine andere Tarifvertragspartei beteiligt war  - Rn. 35).

29bb) Vorliegend fehlt es an den erforderlichen besonderen Anhaltspunkten dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit den Besitzstandsregelungen Ansprüche anderer Tarifverträge, an denen sie nicht beide beteiligt waren, sichern wollten. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien in § 22 Abs. 1 MTV und in § 7 Abs. 1 ETV den nicht näher spezifizierten Begriff der „Leistungen“ verwendet. Würde man mit dem Kläger davon ausgehen, dass hiervon auch Ansprüche erfasst sind, die Arbeitnehmern vor einem Tarifwechsel unter Geltung eines Tarifvertrags anderer Tarifvertragsparteien zugestanden haben, könnte aus Sicht der handelnden Tarifvertragsparteien im Zeitpunkt des Abschlusses des MTV und des ETV nicht abgeschätzt werden, welche tariflichen Ansprüche künftig bestehen. Dass gleichwohl ein solcher Wille bei den Tarifvertragsparteien des MTV und des ETV bestanden haben könnte, ist nicht ersichtlich. Ein anderes Ergebnis folgt schließlich nicht aus § 7 Abs. 2 ETV. Selbst wenn die Tarifvertragsparteien mit dieser Regelung bisherige übertarifliche Leistungen der Arbeitgeberin als tariflichen Besitzstand hätten sichern wollen, wären die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche davon nicht erfasst. Bei diesen handelt es sich um solche aus einem vormals geltenden Tarifvertrag, nicht aber um übertarifliche Leistungen.

30III. Der Kläger hat die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:240124.U.4AZR120.23.0

Fundstelle(n):
EAAAJ-69048