Kindergeld | Taggenaue Betrachtung für Zwecke des § 62 Abs. 1a Satz 1 und 3 EStG (FG)
Der "Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums" im Sinne des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist taggenau zu ermitteln, sodass eine Kindergeldberechtigung für alle vier Monate, die in den dreimonatigen Zeitraum des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom (sog. FreizügigkeitsRL) fallen, besteht (; Revision zugelassen).
Sachverhalt: Die Klägerin und ihre Tochter sind bulgarische Staatsangehörige, die am in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU erfüllte die Klägerin unstreitig nicht.
Die Familienkasse setzte gegenüber der Klägerin Kindergeld für die Monate Januar bis März 2022 fest, lehnte jedoch eine Kindergeldfestsetzung für den Monat April 2022 ab. Aus der Weisung des zum Ausschluss der Kindergeldzahlungen nach § 62 Abs. 1a EStG nach dem folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG (nur) in den ersten drei Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung; eine tagbezogene Betrachtung des Zeitraums sei nicht möglich.
Das FG Münster gab der hiergegen gerichteten Klage statt:
Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat (vorbehaltlich der Regelungen des § 62 Abs. 1a Satz 2 EStG) ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Union oder eines Staats, auf den das Abkommen über den EWR Anwendung findet, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld.
Nach Ablauf des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG genannten Zeitraums richtet sich der Kindergeldanspruch nach den – im Streitfall nicht erfüllten – weiteren Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 3 EStG.
Mit hat der EuGH entschieden, dass Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats – wie hier der Regelung des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG – entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 – hier Kindergeld – in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.
Nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der FreizügigkeitsRL hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen hat, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats – dazu zählt nicht das Kindergeld – nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Die Umsetzung in nationales Recht befindet sich in § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU in der bis zum gültigen Fassung bzw. in § 2a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU in der ab dem gültigen Fassung.
Daher sind die am eingereiste Klägerin und deren Tochter in den ersten drei Monaten nach ihrer Einreise zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt gewesen. Dabei ist der Zeitraum "von bis zu drei Monaten" taggenau zu ermitteln und dauert bis zum Ablauf des an.
Für die Auslegung, dass der Zeitraum „von bis zu drei Monaten“ den Kalendermonat der Einreise und die folgenden beiden Kalendermonate umfasst, besteht weder ein rechtlicher Anhaltspunkt noch eine tatsächliche Notwendigkeit.
Auch würde es anderenfalls einen nicht unwesentlichen Unterschied machen, ob ein Unionsbürger zu Beginn oder zum Ende eines Kalendermonats einreist.
Vor diesem Hintergrund ist auch der "Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums" im Sinne des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG taggenau zu ermitteln. Hierfür spricht auch der Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG.
Bei der von der Beklagten vertretenen Auffassung würde der Kinderanspruch für den Monat April 2022 von den weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU abhängig gemacht, obwohl im Monat April mindestens an einem Tag ein rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland gegeben ist. Aus § 66 Abs. 2 EStG ergibt sich, dass Kindergeld für jeden Monat zu gewähren ist, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wenigstens an einem Tag erfüllt sind.
Der 8. Senat des FG Münster hat die Revision zum BFH zugelassen.
Der Volltext der Entscheidung ist in der Rechtsprechungsdatenbank des Landes NRW veröffentlicht.
Quelle: FG Münster, Newsletter Juni 2024 (il)
Fundstelle(n):
TAAAJ-68862