Instanzenzug: Az: 606 KLs 16/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen unter Einbeziehung von Einzelgeldstrafen aus zwei Strafbefehlen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Vergewaltigung sowie sexueller Nötigung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat überwiegend Erfolg.
21. Der Schuldspruch hat keinen Bestand, weil die Schuldfähigkeitsprüfung der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält.
3a) Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde bei dem im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 25 Jahre alten Angeklagten im Kindesalter eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sowie eine Autismus-Spektrum-Störung in Form eines Asperger-Syndroms diagnostiziert. Bis zum Jahr 2014 befand er sich deshalb in Behandlung einer kinder- und jugendpsychiatrischen sowie psychotherapeutischen Praxis. Das Versorgungsamt bescheinigte ihm im Oktober 2020 eine Behinderung im Grad von 50 Prozent „aufgrund einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder psychischen Störung“. Der Angeklagte fühlt sich im Alltag nicht eingeschränkt. Er war, zumeist kurzzeitig, in verschiedenen Branchen beruflich tätig und arbeitete etwa drei Jahre als Boxtrainer für Schüler. In der Vergangenheit führte er mehrere feste Beziehungen zu Frauen, zuletzt war er etwa acht Jahre lang mit der Zeugin K. liiert.
4Als es in der Beziehung zur Zeugin zuletzt vermehrt zu Konflikten kam, suchte er regelmäßig Prostituierte auf. Zudem beschloss er, fremde Mädchen und junge Frauen unter einer Legende – als Psychologiestudent, Musikproduzent oder Modelagent – in Gespräche zu verwickeln und sie durch manipulatives und dominantes Auftreten zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen zu veranlassen. In Umsetzung dieses Tatplans sprach er am eine fünfzehnjährige Schülerin an, auf die er in manipulativer Weise unter Vorgabe, ein Psychologiestudent zu sein, einwirkte. Er veranlasste das sexuell unerfahrene Mädchen mit dem Versprechen, sie von ihrem Stottern heilen zu können, ihn zunächst zu küssen, anschließend an seinem entblößten Penis zu manipulieren und zuletzt insgesamt etwa 40 Sekunden an ihm den ungeschützten Oralverkehr auszuüben (Fall 1 der Urteilsgründe).
5Am sprach der Angeklagte eine ihm unbekannte junge Frau an, der gegenüber er sich als Musikproduzent gerierte, nachdem er durch Befragen von ihrem Interesse an eigener Musik erfahren hatte. Unter Vorspiegelung, sie bei ihrer Musikkarriere unterstützen zu können, verbrachte er längere Zeit mit ihr gemeinsam, wobei er das Gespräch auf sexuelle Inhalte lenkte. Da sich die Geschädigte nicht, wie von ihm vorgeschlagen, „für ihre Musikkarriere“ nackt auszog, packte sie der verärgerte Angeklagte unvermittelt am Hals und würgte sie für etwa eine Minute mit beiden Händen und schüttelte sie gleichzeitig. Im weiteren Verlauf des Geschehens zog sich die nun eingeschüchterte Geschädigte aufforderungsgemäß bis auf die Unterhose aus. Der Anweisung, sich dem Angeklagten zu nähern, folgte sie allerdings nicht (Fall 2 der Urteilsgründe).
6In der Nacht zum verwickelte der Angeklagte eine Siebzehnjährige an einer U-Bahnstation in ein Gespräch. Ihr gegenüber gab er sich als Modelagent aus. Auf manipulative Weise brachte er sie dazu, mit ihm einen Park aufzusuchen. Als sie sich nicht bereit zeigte, den Vorschlägen des Angeklagten zu folgen, einen fremden Mann auf den Mund oder Hals zu küssen, ihn oral zu befriedigen oder zu vergewaltigen, sondern nach Hause gehen wollte, erbat er eine Umarmung zur Verabschiedung. Während dieser hielt er die Geschädigte an den Hüften fest und küsste sie, trotz des von ihm erkannten entgegenstehenden Willens, auf den Mund. Als sie versuchte, den körperlich weitaus überlegenen Angeklagten wegzudrücken, hielt der sie noch stärker, für sie schmerzhaft, an den Hüften fest und küsste sie einige Minuten weiter. Aus Angst und in der Hoffnung, dann gehen zu dürfen, kam sie seiner Aufforderung, ihn am Hals zu küssen, nach. Anschließend fasste der Angeklagte in die Leggins der Geschädigten und drang mit Zeige- und Mittelfinger mindestens bis in den Scheidenvorhof ein, wobei er seine Finger permanent bewegte. Nach zehn Minuten gelang es ihr, sich aus dem Griff des Angeklagten zu befreien und wegzulaufen (Fall 3 der Urteilsgründe).
7Am stellte sich der Angeklagte einer ihm unbekannten achtzehnjährigen Schülerin als Modelagent vor und erreichte durch geschickte Gesprächsführung, dass diese mit ihm gemeinsam einen Park aufsuchte. Er führte das Mädchen, das zuvor seine verbalen sexuellen Annäherungsversuche abgeblockt hatte, gezielt zu einer von Menschen nicht frequentierten Stelle. Er ergriff ein Handgelenk der Geschädigten, zog sie hinter ein Gebüsch und drückte sie gegen einen Baum, wobei er ihre linke Hand hinter ihrem Rücken einklemmte. Der sich windenden und nach ihm tretenden Geschädigten hielt er mit der Hand den Mund zu und fixierte mit seinen Beinen ihren Unterkörper. Anschließend küsste er sie auf den Mund, wobei es ihm nicht gelang, mit seiner Zunge in ihren Mund einzudringen, da sie die Lippen zusammenpresste. Er küsste sie nun am Hals und auf die Wange, massierte ihre bedeckten Brüste und berührte ihr Gesäß oberhalb der Kleidung. Anschließend steckte er seinen Zeige- und Mittelfinger in ihren Mund und vollzog kreisende Bewegungen. Sodann zog er seine Hose und Unterhose herunter, nahm die freie Hand der Geschädigten und legte sie auf sein entblößtes Glied. Als sie ihre Hand wegzog, packte der Angeklagte diese und legte sie um seinen Penis herum, an dem er mit der Hand der Geschädigten für etwa eine Minute manipulierte. Als die Geschädigte ihre Hand aus seinem Griff lösen konnte, befriedigte sich der Angeklagte selbst bis zur Ejakulation. Anschließend zog er sich an und lief weg (Fall 4 der Urteilsgründe).
8b) Das sachverständig beratene Landgericht hat angenommen, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei bei allen Taten vollständig erhalten gewesen. Es hat sich insoweit der Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat beim Angeklagten eine leichtgradige Autismus-Spektrum-Störung und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und narzisstischen Anteilen diagnostiziert. Die Persönlichkeitsstörung hat der Sachverständige vor dem Hintergrund der zusätzlichen Autismuserkrankung als schwere andere seelische Störung im Sinne des § 20 StGB bewertet. Deren Symptome zeigten sich beim Angeklagten in der Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, seiner geringen Frustrationstoleranz, einer niedrigen Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten und in der Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein mit deutlichen Rechtfertigungstendenzen. Jedoch lägen mit Blick auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten „für sämtliche Taten keine Anknüpfungspunkte vor, welche darauf hindeuten würden, dass diese im Zeitpunkt der jeweiligen Tatbegehung erheblich vermindert oder aufgehoben gewesen waren“.
92. Die auf dieser Grundlage fußende Annahme des Landgerichts, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei im jeweiligen Tatzeitpunkt vollständig erhalten gewesen, kann keinen Bestand haben.
10a) Das Landgericht hat schon keine eigene Prüfung und Bewertung der Schuldfähigkeit des Angeklagten vorgenommen.
11Bei der Frage des Vorliegens eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB bei gesichertem psychiatrischen Befund wie auch bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit handelt es sich um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 19/22, NStZ-RR 2022, 168; vom – 1 StR 291/21 Rn. 13; Urteil vom – 1 StR 399/16 Rn. 11). Das Tatgericht hat die Darlegungen des Sachverständigen insoweit eigenständig zu überprüfen und ist verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise zu begründen (vgl. Rn. 9).
12Dem wird das Urteil nicht gerecht. Die Ausführungen beschränken sich darauf, das Ergebnis des Sachverständigengutachtens des C. zu referieren, dem sich das Landgericht – anders als dem Vorgutachter, der „partiell“ eine erhebliche Einschränkung der Einsichtsfähigkeit angenommen hatte – angeschlossen hat. Insbesondere hat das Landgericht die Rechtsfrage der Erheblichkeit der Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge der vom Sachverständigen angenommenen Störung nicht selbst beantwortet. Auch insoweit werden im Urteil allein die Einschätzungen des Sachverständigen mitgeteilt, wonach die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten nicht beeinträchtigt gewesen sei und auch „eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit oder deren Ausschluss […] nicht festzustellen“ sei. Zwar habe es, so der Sachverständige, krankheitsbedingt Einengungen der inneren Freiheitsgrade gegeben, diese würden in ihrem Schweregrad die Erheblichkeitsschwelle des § 21 StGB jedoch nicht überschreiten. Auch unter Berücksichtigung der weiteren Tatumstände sei nicht ersichtlich, dass der Angeklagte in seiner Steuerungsfähigkeit „mindestens erheblich eingeschränkt gewesen sei.“
13b) Mangels eigener Prüfung und Würdigung des Landgerichts kann das Urteil auch nicht den hier bestehenden besonderen Begründungsanforderungen bei Ablehnung einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit trotz Annahme des Eingangsmerkmals einer schweren anderen seelischen Störung gerecht werden. Insoweit gilt: Wird eine schwere andere seelische Störung festgestellt, die überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. BGH, Beschlüsse – 2 StR 158/23, NStZ-RR 2023, 272 f.; vom – 1 StR 447/21, NStZ-RR 2022, 132 f.; vom – 4 StR 543/20, NStZ-RR 2021, 138 f.; vom – 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222 f.; vom – 5 StR 364/17), so liegt es nahe, dass eine solche Störung zur Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB führt. Die Feststellung einer gleichwohl nicht erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit bedarf dann einer besonderen Begründung (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f.; vom – 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37 f.).
143. Die aufgezeigten Rechtsfehler entziehen bereits dem Schuldspruch die Grundlage. Der Senat hebt die Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht die Möglichkeit zu geben, umfassende und widerspruchsfreie Feststellungen zur Schuldfähigkeit zu treffen.
154. Hierzu weist der Senat auf Folgendes hin:
16a) Nach der bereits aufgezeigten Maßgabe (siehe hierzu Ziffer 2. b) bedarf es für die Annahme des Eingangsmerkmals einer schweren anderen seelischen Störung infolge einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung der Feststellung konkreter Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens des Angeklagten auch außerhalb des angeklagten Delikts, was anhand konkreter Umstände zu belegen ist. Erst wenn das Muster des störungsbedingt beeinträchtigten Denkens, Fühlens oder Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich das genannte Eingangsmerkmal erfüllen (BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 364/22, NStZ-RR 2023, 73 f.; vom – 2 StR 562/19, NStZ-RR 2020, 222). Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Denn die festgestellten persönlichen Verhältnisse (keine empfundenen Einschränkungen im Alltag, Schulabschluss, Berufstätigkeit, langjährige Paarbeziehungen) belegen eine schwerwiegende Beeinträchtigung der sozialen Anpassungsfähigkeit nicht (vgl. , NStZ-RR 2022, 132, 133).
17b) Auch die tatbezogene Ausprägung der Störung wird das neue Tatgericht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise konkret darzulegen haben. Da es sich bei der kombinierten Persönlichkeitsstörung um ein eher unspezifisches Störungsbild handelt, erreicht sie den Grad einer schweren anderen seelischen Störung regelmäßig erst dann, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. mwN; Beschlüsse vom – 2 StR 158/23, NStZ-RR 2023, 272 f.; vom – 4 StR 543/20, NStZ-RR 2021, 138, 140).
18c) Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. , NStZ-RR 2022, 7 f. mwN). Dem Tatverhalten wie auch dem Verhalten vor und nach der Tat kommt beim Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsstörung kein maßgebliches Gewicht zu (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 340/22, NStZ-RR 2023, 317, 319; vom – 2 StR 378/22; vom – 5 StR 99/22; vom – 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7 f.). Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:130224B5STR561.23.0
Fundstelle(n):
LAAAJ-68681