Örtliche Zuständigkeit eines Amtsgerichts für weitere Bewährungsaufsicht
Gesetze: § 359 StPO, §§ 359ff StPO, § 453 Abs 1 StPO, § 462a Abs 2 S 2 StPO, § 56f StGB
Gründe
1Die Amtsgerichte Detmold und Neustadt am Rübenberge streiten über die Zuständigkeit für die weiteren nachträglichen Entscheidungen, die sich auf eine Strafaussetzung zur Bewährung beziehen.
I.
2Das Amtsgericht Detmold hat gegen den Verurteilten am unter Einbeziehung einer Einzelstrafe aus einer früheren Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dem Verurteilten wurde auferlegt, eine Schadenswiedergutmachung in Höhe von 2.520 Euro in monatlichen Raten von 70 Euro an den Geschädigten zu zahlen.
3Nachdem der Verurteilte nach Auffassung des Amtsgerichts Detmold seiner Auflage zur Schadenswiedergutmachung nicht nachgekommen und einem gerichtlichen Anhörungstermin unentschuldigt ferngeblieben war, sowie auch im Übrigen nicht auf gerichtliche Schreiben geantwortet hatte, hat das Amtsgericht Detmold mit Beschluss vom , rechtskräftig seit dem , die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 56f Abs. 1 StGB widerrufen; tatsächlich hatte der Verurteilte die ihm auferlegten Zahlungen jedoch erbracht. Das von ihm gestellte Gnadengesuch wies das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen zurück, weil es nicht ausgeschlossen erscheine, dass das Amtsgericht Detmold seine Widerrufsentscheidung selbst aufheben werde. Daraufhin hat das Amtsgericht Detmold am den rechtskräftigen Beschluss vom „zurückgenommen“ und die Feststellung getroffen, dass der Bewährungsbeschluss vom mit Ausnahme der Zahlungsauflage „wiederauflebt“.
4Wegen des Wohnsitzwechsels des Verurteilten im Dezember 2022 hat das Amtsgericht Detmold die weiteren die Strafaussetzung zur Bewährung betreffenden Entscheidungen mit Beschluss vom gemäß § 462a Abs. 2 Satz 2, § 453 Abs. 1 StPO an das als Wohnsitzgericht zuständige Amtsgericht Neustadt am Rübenberge übertragen. Das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge hat die Übernahme abgelehnt, weil das Bewährungsverfahren mit der Rechtskraft der Widerrufsentscheidung vom seinen Abschluss gefunden habe; die Aufhebung dieses Beschlusses sei unzulässig gewesen.
5Die Staatsanwaltschaft Detmold hat die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreites vorgelegt.
II.
61. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberstes Gericht der Amtsgerichte Detmold (Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm) und Neustadt am Rübenberge (Bezirk des Oberlandesgerichts Celle) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.
72. Für die weitere Bewährungsaufsicht und die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, ist das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zuständig.
8a) Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge folgt aus § 462a Abs. 2 Satz 2, § 453 Abs. 1 StPO. Demnach kann das Gericht des ersten Rechtszugs die nach § 453 StPO zu treffenden Entscheidungen an das Amtsgericht abgeben, in dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Diese Abgabeentscheidung ist gemäß § 462a Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz StPO grundsätzlich bindend.
9Eine solche Abgabeentscheidung hat das Amtsgericht Detmold getroffen. Eine willkürliche Abgabe, die die Bindungswirkung entfallen ließe (vgl. , NStZ 1992, 399; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 27 mwN), liegt nicht vor. Das Vorgehen des Amtsgerichts Detmold entspricht den gesetzlichen Vorschiften, weil der Verurteilte seinen Wohnsitz im Bezirk des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge genommen hat.
10b) Das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge konnte die Übernahme des Verfahrens insbesondere nicht mit der Begründung ablehnen, dass die „Zurücknahme“ des rechtskräftigen Bewährungswiderrufs vom rechtsfehlerhaft gewesen sei und deshalb keine Wirkungen entfalte.
11aa) Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen leiden gerichtliche Entscheidungen unter derart schwerwiegenden Mängeln, dass sie nichtig sind und von ihnen aufgrund dessen keine Rechtswirkungen ausgehen (vgl. , NJW 1985, 125; , BGHSt 10, 278; Beschluss vom – StB 29/80, BGHSt 29, 351, 352 f.; Urteile vom – 1 StR 874/83, NStZ 1984, 279, und vom – 2 StR 717/84, BGHSt 33, 126, 127; , NStZ-RR 2002, 341 f.; , NJW 2013, 2371, 2375).
12Eine fehlerhafte richterliche Entscheidung in diesem Sinne ist nur dann unbeachtlich, wenn es für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, die Entscheidung wegen des Ausmaßes und des Gewichts ihrer Fehlerhaftigkeit als gültig anzuerkennen, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspricht und dies offenkundig ist (, BGHSt 29, 351, 353; Urteil vom – 1 StR 874/83, NStZ 1984, 279). Ob eine fehlerhafte gerichtliche Entscheidung in diesem Sinne noch hinnehmbar ist, bestimmt sich nicht allein nach der Schwere des Fehlers und der Offenkundigkeit seines Vorliegens, sondern auch nach der sachlichen Bedeutung der gerichtlichen Entscheidung für das Verfahren. Ein und derselbe Verfahrensfehler hat deshalb nicht bei jeder von ihm betroffenen Entscheidung dieselbe Folge (, BGHSt 29, 351, 353 f.).
13bb) Ausgehend von diesen Maßstäben kann dahinstehen, ob das Amtsgericht Detmold seinen Bewährungswiderrufsbeschluss vom aufheben durfte. Denn selbst wenn man dies – wozu der Senat neigt – für rechtsfehlerhaft hält, würde das Vorgehen des Amtsgerichts Detmold keinen derart schwerwiegenden Fehler darstellen, dass aus ihm die Nichtigkeit des „Rücknahmebeschlusses“ folgte.
14(1) In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob Bewährungswiderrufsentscheidungen nach Eintritt der Rechtskraft aufgehoben werden können, wenn sich nachträglich herausstellt, dass sie materiell unrichtig sind.
15Insbesondere in älteren Entscheidungen haben sich verschiedene Obergerichte für die Möglichkeit der Aufhebung eines Bewährungswiderrufs in entsprechender Anwendung der §§ 359 ff. StPO ausgesprochen (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom – 1 Ws 42/62, NJW 1962, 1169; , Justiz 1978, 474; , MDR 1993, 67; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 453 Rn. 17).
16Inzwischen wendet sich die überwiegende Rechtsprechung jedoch gegen die Möglichkeit der Aufhebung eines rechtskräftigen Bewährungswiderrufsbeschlusses; insoweit komme dem Vertrauen in die Rechtskraft von Entscheidungen eine besondere Bedeutung zu, zumal das Gnadenverfahren offen stehe, wenn nachträglich die materielle Fehlerhaftigkeit einer solchen Entscheidung zutage tritt (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom – 1 Ws 120-121/96, NStZ 1997, 55; HansOLG Hamburg, Beschluss vom – 2 Ws 1/99, juris Rn. 9 ff., , wistra 2001, 239; III-3 Ws 454/03, juris).
17(2) Der Senat kann offenlassen, welcher Auffassung zu folgen ist. Denn die Aufhebung des Bewährungswiderrufs ist jedenfalls angesichts der Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte nicht unvertretbar, weshalb die Entscheidung des Amtsgerichts Detmold vom nicht in derart gravierender Weise fehlerhaft ist, dass sie unbeachtlich wäre. Die Abgabeentscheidung des Amtsgerichts Detmold ist mithin nicht willkürlich und bindet das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:140224B2ARS176.23.0
Fundstelle(n):
VAAAJ-68228