BGH Beschluss v. - XIII ZB 44/21

Rechtswidrigkeit der Abschiebungshaft wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot

Leitsatz

Ein Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft oder von Ausreisegewahrsam ist unbegründet, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, die deutschen Behörden von diesem Hindernis Kenntnis haben und die antragstellende Behörde bei einer unverzüglichen, dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Weiterleitung der Information den Antrag entweder gar nicht hätte stellen dürfen oder diesen rechtzeitig vor der gerichtlichen Entscheidung hätte zurücknehmen müssen; eine gleichwohl angeordnete Haft ist rechtswidrig.

Gesetze: Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 GG, § 62 Abs 2 S 3 AufenthG, § 62b Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG

Instanzenzug: LG Mainz Az: 8 T 120/21 Beschlussvorgehend AG Trier Az: 13j XIV 48/20

Gründe

1I.    Der Betroffene ist pakistanischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben im September 2015 in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit bestandskräftigem Bescheid vom seinen Asylantrag ab und drohte ihm die Abschiebung nach Pakistan an.

2Das Amtsgericht hat auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam bis zum angeordnet. Der nach Ende der Haft noch auf Feststellung gerichteten Beschwerde des Betroffenen hat das Amtsgericht teilweise abgeholfen. Das Landgericht hat den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben, soweit darin Haft über den , 12:00 Uhr, hinaus angeordnet worden ist. Im Übrigen hat es die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die weitergehende Feststellung, dass ihn die Haftanordnung auch in der Zeit vom 13. bis zum , 12:00 Uhr, in seinen Rechten verletzt habe.

3II.    Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

41.    Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Aus dem aus der Ausländerakte ersichtlichen E-Mail-Verkehr ergebe sich, dass die beteiligte Behörde am Morgen des davon erfahren habe, dass die pakistanischen Behörden ihre Einreisemodalitäten kurzfristig geändert hätten, Rückführungen nur nach vorherigem Interview mit dem Betroffenen erfolgen könnten und die für den Folgetag beabsichtigte Abschiebung daher nicht mehr durchführbar gewesen sei. Der Betroffene hätte daher nicht erst am 17., sondern bereits am bis 12:00 Uhr aus der Haft entlassen werden müssen. Die bis zu diesem Zeitpunkt vollzogene Haft verletze den Betroffenen hingegen nicht in seinen Rechten, da das Amtsgericht bei Anordnung des Ausreisegewahrsams angesichts des für den gebuchten Flugs zu Recht von der Durchführbarkeit der Abschiebung innerhalb der festgelegten Haftdauer ausgegangen sei.

52.    Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

6a)    Allerdings ist die Prognose des Amtsgerichts zur Durchführbarkeit der Abschiebung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

7aa)    Nach § 62 Abs. 3 Satz 3 ebenso wie nach § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG muss das Haftgericht zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Prognose anstellen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb der anzuordnenden Zeit erfolgen kann. Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (, FGPrax 2011, 201 Rn. 9). Dazu muss das Gericht nach § 26 FamFG die erforderlichen Ermittlungen anstellen (, juris Rn. 8). Für die Überprüfung der vom Amtsgericht angestellten Prognose ist dessen Kenntnisstand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. , juris Rn. 16, zum staatsanwaltlichen Einvernehmen). Anders als die Rechtsbeschwerde meint, kommt es dabei nicht auf die objektive Sachlage an.

8bb)    Danach ist die Prognoseentscheidung des Amtsgerichts nicht zu beanstanden. Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Haftantrag am war dem Haftrichter nicht bekannt, dass Pakistan Rückführungen nur noch akzeptierte, wenn zuvor mit dem Betroffenen ein Interview in der pakistanischen Botschaft geführt worden ist. Aus den Akten ergaben sich auch keine Anhaltspunkte, die auf eine solche Änderung der Rückführungspraxis hindeuteten und die dem Haftrichter Anlass zu weitergehenden Ermittlungen nach § 26 FamFG gegeben hätten.

9b)    Das Beschwerdegericht hat jedoch den Anforderungen an die Verfahrensweise der Behörden, die sich aus dem Beschleunigungsgebot ergeben, nicht hinreichend Rechnung getragen.

10aa)    Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot verlangt bei Freiheitsentziehungen, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird (vgl. , juris Rn. 11, mwN). Umstände die außerhalb des Einflussbereichs der Behörde liegen, hat sie grundsätzlich nicht zu vertreten (vgl. , juris Rn. 19). Verzögerungen in der Zusammenarbeit der nationalen Behörden dürfen sich nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken (vgl. , juris Rn. 8). Daher sind Versäumnisse anderer am Verfahren beteiligter Behörden der die Abschiebung betreibenden Behörde zuzurechnen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 65/19, InfAuslR 2020, 385 Rn. 15; vom - XIII ZB 21/20, juris Rn. 19). Dazu gehören auch Versäumnisse bei der Übermittlung von Informationen innerhalb der öffentlichen Verwaltung über Umstände, die ein Abschiebungshindernis begründen (vgl. , juris Rn. 17). Ebenso wie die Behörden bei bereits vollzogener Haft Informationen über ein Abschiebungshindernis unverzüglich weiterzuleiten haben, um die sofortige Aufhebung der Haft sicherzustellen, ist ein Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft oder - wie hier - von Ausreisegewahrsam auch dann unbegründet, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, die deutschen Behörden von diesem Hindernis Kenntnis haben und die antragstellende Behörde bei unverzüglicher Weiterleitung der entsprechenden Information den Antrag entweder gar nicht hätte stellen dürfen oder diesen rechtzeitig vor der gerichtlichen Entscheidung hätte zurücknehmen müssen.

11Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom - XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 11; vom - XIII ZB 32/22, juris Rn. 9). Ebenso erweist sich eine Haft, die bei rechtzeitiger Übermittlung von Informationen über ein Abschiebungshindernis schon nicht hätte beantragt und angeordnet werden dürfen, als rechtswidrig.

12bb)    Nach diesen Maßstäben wird die Verfahrensweise der Behörden dem Beschleunigungsgrundsatz nicht gerecht. Zwar hat die beteiligte Behörde erst am von der geänderten Rückführungspraxis Pakistans Mitteilung erhalten und umgehend die erforderlichen Schritte zur Haftentlassung des Betroffenen in die Wege geleitet. Wie sich aus der E-Mail der Zentralstelle für Rückführungsfragen des Landes Rheinland-Pfalz vom ergibt, hatte die Botschaft Pakistans das Bundesministerium des Inneren jedoch bereits am über die geänderte und ab sofort geltende Praxis informiert. Auch wenn Bearbeitung und Weiterleitung derartiger wesentlicher Informationen an die für die Abschiebungen zuständigen Ausländerbehörden eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, wird die hier erst am erfolgte Benachrichtigung der beteiligten Behörde dem Beschleunigungsgebot nicht gerecht. Bei der gebotenen zügigen Behandlung hätte die beteiligte Behörde jedenfalls bereits vor der Entscheidung des Amtsgerichts am von der geänderten Praxis Pakistans Kenntnis erhalten und die entsprechenden Schritte einleiten müssen. Allen mit Rückführungsfragen befassten Behörden musste klar sein, dass die geänderte Praxis Pakistans - wie hier - unmittelbare Auswirkungen auf die Behandlung von laufenden Haftsachen haben würde. Die Verzögerungen, die bei der Weiterleitung der Information im Verantwortungsbereich anderer Behörden aufgetreten sind, sind der beteiligten Behörde zuzurechnen, auch wenn die Ursache für das Abschiebungshindernis nicht im Verantwortungsbereich der deutschen Behörden lag.

133.    Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

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                         Picker                             Holzinger

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:260324BXIIIZB44.21.0

Fundstelle(n):
UAAAJ-67881