Anhörung Beteiligter vor Erlass eines Verwaltungsakts
1.
Zur Wahrung der Belange der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers und zur Vermeidung von Rechtsbehelfen ist die Beachtung der Vorschriften der §§ 91 und 121 AO über das rechtliche Gehör und die Begründung von Verwaltungsakten unerlässlich.
Eine Anhörung ist gemäß § 91 Abs. 1 Satz 2 AO vorgeschrieben, wenn von den tatsächlichen Angaben der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers („erklärter Sachverhalt“) zuungunsten der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers wesentlich abgewichen werden soll. Der Fall der Abweichung von der Rechtsauffassung der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers wird nicht von § 91 Abs. 1 AO erfasst.
Abweichung vom erklärten Sachverhalt (Anhörung grundsätzlich erforderlich)
Nichtanerkennung von geltend gemachten steuermindernden Tatsachen ohne rechtliche Überlegungen (z. B. wesentliche Abweichung von in der Steuererklärung geltend gemachten Erhaltungsaufwendungen zu Erhaltungsaufwendungen laut vorgelegten Rechnungen)
Abweichung aufgrund von widersprüchlichen Angaben in der Steuererklärung, z. B. Abweichung von der Anzahl der Arbeitstage für Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte aufgrund von gleichzeitiger Geltendmachung von ganztägigen Auswärtstätigkeiten, der Tagespauschale nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6c Satz 1 EStG und/oder erhaltenen Lohnersatzleistungen für die betroffenen Arbeitstage
Abweichung von der Rechtsauffassung der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers (keine Anhörung nach § 91 Abs. 1 AO vorgeschrieben)
Abweichung von geltend gemachten steuermindernden Tatsachen, wenn nach der rechtlichen Würdigung die Voraussetzungen der jeweiligen Vorschrift nicht erfüllt sind (z. B. keine doppelte Haushaltsführung mangels eigenem Hausstand i. S. d. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 EStG; keine Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastungen aufgrund fehlendem Nachweis der Zwangsläufigkeit i. S. d. § 64 EStDV; keine Berücksichtigung als Handwerkerleistungen nach § 35a EStG aufgrund Barzahlung)
Berücksichtigung der erklärten Aufwendungen nach einer anderen Vorschrift (z. B. Abgrenzung Erhaltungsaufwand und Herstellungskosten)
2.
Ob eine "wesentliche Abweichung" vom erklärten Sachverhalt im Sinne des Gesetzes vorliegt und damit rechtliches Gehör zu gewähren ist, muss jeweils nach den Verhältnissen des Einzelfalls entschieden werden. Eine beabsichtigte Abweichung vom erklärten Sachverhalt ist regelmäßig wesentlich, wenn
steuermindernd geltend gemachte Umstände erkennbar von besonderer Bedeutung für die Steuerbürgerin / den Steuerbürger sind (z. B. weil die Steuerbürgerin / der Steuerbürger ausdrücklich darum gebeten hat, ihm beabsichtigte Abweichungen vom erklärten Sachverhalt vorher mitzuteilen),
die Abweichung z.B. auf Grund der Komplexität oder des Umfanges nicht hinreichend nachvollziehbar im Steuerbescheid erläutert werden kann oder
es sich um Sachverhalte handelt, die auch in die Zukunft wirken (Dauersachverhalte).
Eine wesentliche Abweichung liegt grundsätzlich auch dann vor, wenn das Finanzamt Besteuerungsgrundlagen berücksichtigen will, zu denen die bzw. der Beteiligte keine Angaben gemacht hat. Eine diesbezügliche Anhörung ist jedoch ausschließlich dann vorzunehmen, wenn sich dies nicht aus steuerstrafrechtlichen Erwägungen verbietet.
Eine Anhörung ist nicht erforderlich, sofern die beabsichtigte Abweichung von den Angaben der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers nicht wesentlich ist oder die Anhörung ausnahmsweise nach § 91 Abs. 2 und 3 AO unterbleiben kann.
Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer kann von einer vorherigen Anhörung im Allgemeinen abgesehen werden, wenn die Summe der beabsichtigten Abweichungen von den erklärten Besteuerungsgrundlagen weniger als 1.500 Euro beträgt.
3.
Rechtliches Gehör kann telefonisch, mündlich oder schriftlich gewährt werden. Soweit eine Bevollmächtigte / ein Bevollmächtigter mitwirkt, ist zunächst mit diesem Verbindung aufzunehmen (vgl. AEAO zu § 80, Nr. 4). Bei telefonischer oder mündlicher Anhörung ist eine Aktennotiz zu fertigen.
Für schriftliche Stellungnahmen zu den beabsichtigten Abweichungen ist der Steuerbürgerin / dem Steuerbürger bzw. ihrem / seinem steuerlichen Berater eine angemessene Frist – im Regelfall ein Monat – einzuräumen.
4.
Kann von der Anhörung der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers oder ihres / seines Bevollmächtigten abgesehen werden, bleibt die Verpflichtung, die Abweichung im Steuerbescheid zu erläutern (§ 121 Abs. 1 AO, AEAO zu § 121, Nr. 2). Diese Pflicht zur Begründung des Verwaltungsakts besteht uneingeschränkt auch dann, wenn die Abweichung von den erklärten Besteuerungsgrundlagen nur von geringer steuerlicher Auswirkung ist. Die Erläuterung muss die Abweichung der Höhe nach genau bezeichnen und unter Angabe der Rechtsgrundlagen ausreichend begründen. Die Möglichkeit, standardisierte Erläuterungstexte zu verwenden, ist auszuschöpfen.
5.
Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach unterlassener Anhörung einer / eines Beteiligten bzw. wegen fehlender Begründung des Verwaltungsakts (§ 126 Abs. 3 AO i.V. mit § 110 AO) vgl. AEAO zu § 91, Nr. 3 und zu § 121, Nr. 3.
Oberfinanzdirektion Karlsruhe v. - S
0226
Fundstelle(n):
NAAAJ-67814