Soziales Entschädigungsrecht - Meistbegünstigungsgrundsatz - Antrag auf "Beschädigtenversorgung" - konkludente Geltendmachung aller in diesem Sachzusammenhang zustehenden Ansprüche - Miterfassung des Berufsschadensausgleichs - sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Auslegung eines Klageantrags - Zurückverweisung
Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 92 Abs 1 S 1 Alt 3 SGG, § 123 SGG, § 133 BGB, § 30 Abs 1 S 1 BVG, § 30 Abs 3 BVG, § 30 Abs 4 S 1 BVG
Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 12 VE 35/13vorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 1 VE 1/20 Urteil
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
2Der 1980 geborene Kläger beantragte im Mai 2009 die Gewährung von Beschädigtenversorgung wegen langjähriger körperlicher und seelischer Misshandlungen durch seinen Vater in der Kindheit. Der Beklagte lehnte den Antrag ab. Es sei nicht erwiesen, dass die psychischen Störungen des Klägers nicht auf sein angeborenes Asperger-Syndrom zurückzuführen seien (Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ).
3Im Klageverfahren hat sich der Beklagte im April 2019 nach der Vernehmung von Zeugen und der Auswertung eines der vom SG eingeholten psychiatrischen Gutachtens bereit erklärt, beim Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30 ab Mai 2009 als Schädigungsfolge der gewalttätigen Übergriffe durch den Vater anzuerkennen.
4Das SG hat den Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide Beschädigtenversorgung nach dem OEG iVm dem BVG nach einem GdS von 80 ab dem im gesetzlichen Umfang zu gewähren und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom ).
5Während des von beiden Beteiligten angestrengten Berufungsverfahrens hat der Beklagte mit "Ausführungsbescheid" vom in Umsetzung seines erstinstanzlichen Teilanerkenntnisses beim Kläger eine PTBS mit einem GdS von 30 als Folge schädigender Einwirkungen iS des § 1 OEG ab anerkannt und ihm dafür eine Grundrente ab dem bewilligt. Die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung zusätzlicher Entschädigungsleistungen, darunter eines Berufsschadensausgleichs (BSchA), hat er abgelehnt.
6Das LSG hat die Berufungen beider Beteiligten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, die Gewährung eines BSchA sei nicht Gegenstand des Verfahrens, weil der Kläger diesen Ausgleich weder beantragt noch die ursprünglichen Bescheide darüber entschieden hätten. Der Bescheid vom habe mit der Ablehnung eines BSchA eine neue und eigenständige Regelung getroffen. Sie könne ua mangels Vorverfahrens nicht in das Verfahren einbezogen werden.
7Die Schädigungsfolgen bedingten entgegen den Feststellungen des SG nur einen "medizinischen" GdS von 70. Dieser sei wegen der besonderen beruflichen Betroffenheit um 10 auf 80 zu erhöhen, weil der Kläger schädigungsbedingt aus Studium und Erwerbsleben ausgeschieden sei und anschließend Grundsicherung nach dem SGB XII bezogen habe (Urteil vom ).
8Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil. Das LSG habe verfahrensfehlerhaft gehandelt und insbesondere die von ihm erhobenen Ansprüche verkannt. Zudem sei das Gericht von der Rechtsprechung des BSG abgewichen.
9II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das Berufungsverfahren leidet an einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, auf dem die Entscheidung des LSG auch beruhen kann.
101. Die Beschwerde ist zulässig, soweit der Kläger damit einen Verstoß gegen § 123 SGG rügt. In dieser Hinsicht genügt die Beschwerdebegründung den inhaltlichen Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Der Kläger hat die Umstände der Verkennung seines Berufungsbegehrens hinreichend bezeichnet.
112. Die Beschwerde ist auch begründet. Das Berufungsverfahren weist einen entscheidungserheblichen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf, weil das LSG § 123 SGG (dazu allgemein unter a) verletzt hat (dazu unter b). Auf diesem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen (dazu unter c). Da der Kläger mit der gerügten Verletzung von § 123 SGG bereits durchdringt, kann dahinstehen, ob die weiteren von ihm geltend gemachten Verfahrensmängel ordnungsgemäß bezeichnet worden sind und tatsächlich vorliegen (dazu unter d).
12a) Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Das Gewollte, also das mit der Klage verfolgte Prozessziel, ist im Wege der Auslegung festzustellen (stRspr; zB - juris RdNr 17 f; 8/5a RKn 11/87 - BSGE 63, 93 = SozR 2200 § 205 Nr 65 - juris RdNr 11). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille des Klägers zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falls, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach dem Meistbegünstigungsprinzip alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht (stRspr; zB - BSGE 127, 1 = SozR 4-3100 § 1 Nr 4, RdNr 15; - SozR 4-1500 § 92 Nr 4 RdNr 12; - BSGE 89, 199 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 - juris RdNr 12).
13b) Nach diesen Vorgaben und vor dem Hintergrund der Prozessgeschichte hat das LSG mit seinem Urteil die vom Kläger erhobenen Ansprüche unvollständig erfasst und darüber nur zum Teil entschieden. Es hat insbesondere versäumt, über den vom Kläger erhobenen Anspruch auf BSchA zu urteilen.
14Der Kläger hat BSchA bereits im Verwaltungsverfahren beantragt und diesen Antrag im Gerichtsverfahren weiterverfolgt (dazu unter aa). Der Kläger hat den Anspruch auch bis zuletzt aufrechterhalten (dazu unter bb).
15aa) Der Kläger hat BSchA bereits im Verwaltungsverfahren beantragt und diesen Antrag im Gerichtsverfahren weiterverfolgt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG zur Auslegung von Anträgen im Sozialen Entschädigungsrecht ist nicht die Ausdrucksweise, sondern der unter Berücksichtigung aller Umstände erkennbare Wille des Antragstellers maßgeblich. Wer zu einem bestimmten Sachverhalt einen Leistungsantrag stellt, will damit im Zweifel alle Ansprüche geltend machen, die ihm aus diesem Sachverhalt gegen den Versorgungsträger zustehen ( - juris RdNr 17; - SozR 3100 § 35 Nr 1 - juris RdNr 17; - BSGE 36, 120 = SozR Nr 61 zu § 182 RVO - juris RdNr 16).
16Der Kläger hatte bereits im Verwaltungsverfahren mit seinem Erstantrag auf Beschädigtenversorgung geltend gemacht, er sei wegen der Krankheitserscheinungen infolge der geltend gemachten Schädigung auf Dauer voll erwerbsgemindert. Er verfügte nach den Feststellungen des LSG über eine abgeschlossene Ausbildung, war jahrelang einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen und hatte ein Studium begonnen, aber nicht zu Ende führen können. Die von ihm auf dem dafür vorgesehenen Formular pauschal beantragte "Beschädigtenversorgung" umfasste daher nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände des Einzelfalls auch ohne ausdrückliche Erwähnung der Sache nach einen Anspruch auf BSchA (vgl Hansen, Der Berufsschadensausgleich, 1996, S 26). Unter anderem hat der Beklagte daher diesen Anspruch mit dem ursprünglichen Bescheid (vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ) verneint, mit dem er jede Art von Beschädigtenversorgung pauschal abgelehnt hat.
17Entgegen der Ansicht des LSG hat der Kläger somit schon im Verwaltungsverfahren sinngemäß BSchA beantragt, den Anspruch vor dem SG eingeklagt und mit seiner Berufungsschrift weiterverfolgt. Denn darin hat er die Ermittlung des zugrunde zu legenden Vergleichseinkommens und des schädigungsbedingten Minderverdienstes gefordert und damit zwei zentrale Tatbestandsmerkmale des BSchA zur Entscheidung des Gerichts gestellt (vgl § 30 Abs 3 und Abs 4 Satz 1 BVG idF des Gesetzes vom <BGBl I 2904>; - juris RdNr 12 mwN). Auch in seinem Schriftsatz vom hatte er im Berufungsverfahren noch einmal auf die Feststellung seines "Minderverdienstes" gedrungen, nachdem der Beklagte zuvor einen BSchA mit seinem Bescheid vom nochmals ausdrücklich abgelehnt hatte.
18bb) Der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers auf Anraten der Berichterstatterin des LSG unter dem schriftlich gestellte Berufungsantrag rechtfertigt nicht den Schluss, der Kläger habe den geltend gemachten Anspruch auf BSchA fallengelassen.
19Zwar ist bei der Auslegung von Anträgen, die - wie hier - ein Rechtsanwalt oder ein vergleichbar qualifizierter Prozessbevollmächtigter gestellt hat, in der Regel davon auszugehen, dass dieser das Gewollte auch richtig und vollständig wiedergibt, soweit er nicht mehrdeutig ist und deshalb Raum für eine Auslegung im Lichte der Meistbegünstigung bestehen bleibt (vgl - SozR 4-1500 § 92 Nr 4 RdNr 11 mwN).
20Vorliegend durfte das LSG indes den auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Verurteilung zur Feststellung eines GdS von 100 gerichteten Berufungsantrag schon wegen Zweifeln an seiner Zulässigkeit und damit an seiner Vollständigkeit (vgl - juris RdNr 7 mwN) nicht so deuten, dass der Kläger damit auf den zuvor geltend gemachten BSchA verzichten wollte. Zudem hatte der Kläger im gesamten Verfahren auf die Feststellung seines "Minderverdienstes" gedrungen und dieses Anliegen in seinem zuletzt an das Gericht übersandten Schriftsatz vom nochmals wiederholt. Eine zu seinen Ungunsten erfolgte Änderung der Interessen- oder Beweislage im Laufe des Verfahrens, die einen Verzicht auf BSchA nahegelegt hätte, ist nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes bestand kein Anlass, den auf Feststellung des maximalen GdS von 100 gerichteten Antrag gleichwohl einschränkend im Sinne eines Verzichts auf einzelne Elemente der Beschädigtenversorgung auszulegen, die ein solcher GdS rechtfertigen kann.
21Angesichts dessen kann dahinstehen, ob die erneute, diesmal ausdrückliche Ablehnung des Anspruchs auf BSchA durch den Beklagten mit Bescheid vom nach § 96 Abs 1 iVm § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist und ob das LSG auch darüber - ohne Durchführung eines weiteren Widerspruchsverfahrens (vgl - SozR 3-2500 § 85 Nr 12 - juris RdNr 13; Klein in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 96 SGG RdNr 92, Stand ) - in der Sache hätte entscheiden müssen. Dafür spricht, dass der Bescheid laut Ziffer 1 seines Tenors ausdrücklich an die Stelle des vom Kläger ursprünglich angefochtenen Bescheids vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom treten sollte. Zudem hat der Bescheid die ursprüngliche Beschwer des Klägers vermindert (vgl - BSGE 91, 277 = SozR 4-2600 § 96a Nr 3, RdNr 7 - juris RdNr 16 mwN); er sollte damit ersichtlich nicht nur eine vorläufige Regelung treffen (vgl - SozR 4-1500 § 141 Nr 4 RdNr 20 mwN).
22cc) Nach alledem verletzt die Rechtsauffassung des LSG, der BSchA sei nicht Streitgegenstand des Berufungsverfahrens gewesen, § 123 SGG. Da das Berufungsgericht somit einen wesentlichen, vom Kläger zur Entscheidung gestellten Bestandteil der Beschädigtenversorgung verkannt hat, kann dahinstehen, ob das Gericht darüber hinaus entgegen § 123 SGG noch weitere, zumindest konkludent geltend gemachte Ansprüche übergangen hat wie denjenigen auf Feststellung körperlicher Schädigungsfolgen, insbesondere eines Hüftschadens, sowie auf Zahlung einer Ausgleichsrente, einer Pflege- und einer Schwerstbeschädigtenzulage.
23c) Das angefochtene Urteil kann auch auf dem festgestellten Verstoß gegen § 123 SGG beruhen. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass das LSG bei vollständiger Erfassung des Berufungsbegehrens dem Kläger einen BSchA zugesprochen hätte, falls erforderlich auf Grundlage weiterer Ermittlungen.
24d) Da der Kläger mit der gerügten Verletzung von § 123 SGG bereits durchdringt, kann dahinstehen, ob er die weiteren von ihm geltend gemachten Verfahrensmängel ordnungsgemäß bezeichnet hat und ob diese tatsächlich vorliegen. Das betrifft insbesondere die Verletzung verfassungsrechtlich fundierter prozessualer Gewährleistungen wie des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Gebots der Rechtsschutzgleichheit durch die unterlassene Beiordnung eines neuen Prozessbevollmächtigten (vgl BH - juris RdNr 8 mwN), nachdem der Kläger seinen bisherigen Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren entpflichtet hatte (vgl - juris RdNr 4; B 10 ÜG 25/16 B - juris RdNr 22). Ebenfalls offenbleiben kann, ob der Kläger ordnungsgemäß eine Divergenz zur Rechtsprechung des BSG bezeichnet hat.
254. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung macht der Senat von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:210324BB9V423B0
Fundstelle(n):
VAAAJ-66861