Berechnung des Zuschusses zum Kurzarbeitergeld bei Teilzeitbeschäftigung
Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, § 320 Abs 1 SGB 3, § 106 Abs 1 S 2 SGB 3, § 241 Abs 2 BGB
Instanzenzug: Az: 9 Ca 2979/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 2 Sa 184/21 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten für die Dauer der Kurzarbeit in den Monaten März bis Oktober 2020 ein höheres Kurzarbeitergeld und einen höheren Zuschuss hierzu beanspruchen kann.
2Die Klägerin ist seit November 2000 in einem von der Beklagten betriebenen Kino als Kassenmitarbeiterin beschäftigt. Arbeitsvertraglich ist eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 86 Stunden vereinbart, die auf Abruf geleistet werden sollen.
3Kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit findet auf das Arbeitsverhältnis der von der Beklagten mit der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag vom (MTV) Anwendung, der ua. bestimmt:
4Die Klägerin arbeitete regelmäßig mehr als 86 Stunden im Monat. Die entsprechenden Arbeitsstunden wurden gemäß § 5 MTV als Mehrarbeit behandelt und mit einem Zuschlag von 25 % vergütet.
5Während der Corona-Pandemie führte die Beklagte wegen der behördlich angeordneten Schließung der Kinos zum Kurzarbeit „Null“ ein. Die hierzu unter dem mit dem in ihrem Betrieb errichteten Betriebsrat geschlossene Betriebsvereinbarung (iF BV Kurzarbeit) sieht einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld vor, mit dem das Kurzarbeitergeld auf 85 % der Nettoentgeltdifferenz (§ 106 Abs. 1 Satz 1 SGB III) aufgestockt werden soll.
6Für die Klägerin ermittelte die Beklagte das in § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III definierte Soll-Entgelt auf Basis der arbeitsvertraglich vereinbarten regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit von 86 Stunden, für die nach dem eingestellten Teilzeitbeschäftigten hingegen auf Basis von deren Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate vor Beginn der Kurzarbeit (§ 106 Abs. 4 Satz 1 SGB III).
7Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung hat die Klägerin mit der am anhängig gemachten und mehrfach erweiterten Klage die Differenz zwischen dem von der Bundesagentur für Arbeit gewährten Kurzarbeitergeld und dem hierauf fußenden Zuschuss nach der BV Kurzarbeit und einem auf der Basis des Durchschnittsverdienstes der letzten drei Monate vor Beginn der Kurzarbeit berechneten Kurzarbeitergeld nebst entsprechender Aufstockung verlangt. Sie hat gemeint, die Beklagte hätte bei der Ermittlung des Soll-Entgelts nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III nicht auf die vertraglich vereinbarte monatliche Arbeitszeit abstellen dürfen, sondern - wie bei den nach dem eingestellten Teilzeitbeschäftigten - die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zugrunde legen müssen. In einem Referenzzeitraum von März 2019 bis Februar 2020 habe ihre durchschnittliche monatliche Arbeitszeit 144,15 Stunden betragen, somit ergebe sich für die Monate Dezember 2019 bis Februar 2020 ein durchschnittliches Arbeitsentgelt von 1.758,44 Euro brutto.
8Davon ausgehend hat die Klägerin zuletzt sinngemäß beantragt,
9Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, sie habe sich bei der Ermittlung des Soll-Entgelts, bei dem nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III Entgelt für Mehrarbeit nicht zu berücksichtigen sei, an die Definition der Mehrarbeit in § 5 MTV halten dürfen. Die Klägerin betreibe „Rosinenpickerei“, wenn sie einerseits für die über 86 Stunden monatlich hinausgehenden Arbeitsstunden den tariflichen Mehrarbeitszuschlag in Anspruch nehme, andererseits aber beim Kurzarbeitergeld fordere, die als Mehrarbeit vergüteten Stunden zur regelmäßigen Arbeitszeit zu rechnen.
10Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Ersturteils, während die Klägerin die Zurückweisung der Revision beantragt.
Gründe
11Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht stattgegeben. Die Klage ist unbegründet. Die geltend gemachte Forderung steht der Klägerin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
12I. Die Revision der Beklagten ist zulässig, insbesondere wurde sie entgegen den von der Klägerin geäußerten Bedenken ordnungsgemäß iSd. § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO begründet (zu den Anforderungen sh. - Rn. 11 mwN, st. Rspr.). Die Beklagte hat sich - jedenfalls unter Berücksichtigung der Ergänzung ihrer Revisionsbegründung nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Berufungsurteils - ausreichend mit der tragenden Begründung des Landesarbeitsgerichts auseinandergesetzt, die Klägerin könne den eingeklagten Betrag als Schadenersatz wegen einer schuldhaften Pflichtverletzung der Beklagten bei den Angaben zur Berechnung des Kurzarbeitergelds beanspruchen.
13II. Die Revision der Beklagten ist begründet.
141. Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht zunächst einen Erfüllungsanspruch auf ein höheres Kurzarbeitergeld und einen höheren Aufstockungsbetrag nach der BV Kurzarbeit verneint. Selbst wenn die Beklagte bei der Ermittlung des Soll-Entgelts nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III verkannt hätte, unter welchen Voraussetzungen ein nach dieser Vorschrift das Soll-Entgelt verminderndes „Entgelt für Mehrarbeit“ vorliegt, kann die Klägerin kein höheres Kurzarbeitergeld verlangen. Denn der Bescheid der Bundesagentur für Arbeit über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld und dessen Höhe ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bestandskräftig geworden. Infolge dessen fehlt es auch an der Grundlage für einen höheren Zuschuss zum Kurzarbeitergeld nach der BV Kurzarbeit.
15Weiterhin scheidet - was das Landesarbeitsgericht offengelassen hat - ein auf Erfüllung zielender Anspruch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus. Wegen der Bestandskraft des entsprechenden Leistungsbescheids und dem damit verbundenen Abschluss des behördlichen Verfahrens kommt eine nachträgliche Gleichbehandlung mit den nach dem eingestellten Teilzeitbeschäftigten dergestalt, dass wie bei diesen auch bei der Klägerin die im Durchschnitt der letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor Beginn der Kurzarbeit tatsächlich geleistete Arbeitszeit der Berechnung des Soll-Entgelts zugrunde gelegt wird, nicht in Betracht.
162. Zu Unrecht hat das Landesarbeitsgericht jedoch - in Anlehnung an eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg ( - 12 Sa 297/22 - Revision nicht zugelassen) in einem ähnlich gelagerten Fall - einen Schadenersatzanspruch der Klägerin bejaht. Die Beklagte hat die ihr als Arbeitgeberin im Rahmen des Verfahrens über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld nach § 320 Abs. 1 SGB III auferlegten Pflichten und ihre Obliegenheit zur Rücksichtnahme nach § 241 Abs. 2 BGB nicht verletzt.
17a) Noch zutreffend ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Arbeitgeber werde im Verfahren über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld für den Arbeitnehmer treuhänderisch tätig ( B 11a/11 AL 15/04 R - Rn. 22 mwN; sh. auch - Rn. 36 ff. mwN). Er muss deshalb die ihm im Rahmen des Verfahrens über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld nach § 320 Abs. 1 SGB III auferlegten Pflichten sorgfältig erfüllen sowie wegen der ihm im Arbeitsverhältnis allgemein nach § 241 Abs. 2 BGB obliegenden Rücksichtnahmepflicht (zu deren Inhalt im Einzelnen sh. - Rn. 45 mwN) die Interessen der von der Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer wahren. Verletzt er diese Pflichten schuldhaft, kann der Arbeitnehmer den Ersatz des ihm hierdurch entstehenden Schadens verlangen, § 280 Abs. 1 BGB.
18b) Rechtsfehlerhaft hat das Landesarbeitsgericht aber angenommen, die Beklagte habe bei der Ermittlung des Soll-Entgelts nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III eine Pflichtverletzung begangen.
19aa) Nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III ist Soll-Entgelt das Arbeitsentgelt, das die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer ohne den Arbeitsausfall in dem Anspruchszeitraum erzielt hätte, vermindert um das Entgelt für Mehrarbeit. Der Begriff der Mehrarbeit wird in dieser Norm nicht definiert. Deshalb verstößt ein Arbeitgeber nicht gegen Pflichten aus § 320 Abs. 1 SGB III und § 241 Abs. 2 BGB, wenn er den Begriff der Mehrarbeit in § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III so versteht, wie er durch in seinem Betrieb anzuwendende Tarifnormen definiert wird. Nach dem von der Beklagten mit der Gewerkschaft ver.di geschlossenen MTV gilt für Teilzeitbeschäftigte, deren Arbeitsverhältnis wie das der Klägerin vor dem begründet wurde, die über die einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit als zuschlagspflichtige Mehrarbeit.
20(bb) Die einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit beträgt 86 Monatsstunden, sie hat sich nicht nachträglich konkludent auf die von der Klägerin errechneten durchschnittlichen 144,15 Stunden monatlich erhöht.
21(1) Arbeitsvertraglich haben die Parteien Arbeit auf Abruf vereinbart und die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit auf 86 Monatsstunden festgelegt. Unbeschadet der von § 12 Abs. 2 TzBfG eröffneten Möglichkeit, diese Arbeitszeit um bis zu 25 % zu überschreiten, kann - wie generell im Arbeitsverhältnis - auch bei Arbeit auf Abruf die vereinbarte Arbeitszeit nachträglich konkludent erhöht werden. Dazu reicht allerdings grundsätzlich allein das Abrufverhalten des Arbeitgebers nicht aus (vgl. - Rn. 20, 31).
22(2) Selbst wenn ausnahmsweise bei einem das Arbeitsverhältnis langjährig prägenden Abrufverhalten des Arbeitgebers eine konkludente Verlängerung der Arbeitszeit ausnahmsweise allein durch das Abrufverhalten in Betracht käme, wären dafür die Grundsätze heranzuziehen, die der Senat für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu § 4 Abs. 1a EFZG aufgestellt hat, der - ähnlich wie § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III - das „zusätzlich für Überstunden gezahlte Arbeitsentgelt“ unberücksichtigt lässt. Danach kann einerseits zwar nicht mehr von „Überstunden“ gesprochen werden, wenn der Arbeitnehmer ständig eine Arbeitszeit leistet, die über seine individuelle Arbeitszeitdauer hinausgeht ( - Rn. 45 mwN, BAGE 161, 33). Das Landesarbeitsgericht lässt jedoch außer Bedacht, dass der Senat andererseits in diesem Zusammenhang auch betont hat, für den Umfang der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit sei auf das gelebte Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwillens abzustellen ( - zu II 3 c der Gründe). Gelebt aber haben die Parteien ihr Arbeitsverhältnis jahrelang dergestalt, dass sie die über die vereinbarte Arbeitszeit hinausgehende Arbeit entsprechend den tariflichen Vorgaben als Mehrarbeit behandelten und dies gerade auch im Interesse der Klägerin war, weil sie bei dieser Handhabung Mehrarbeitszuschläge erhielt und damit einen höheren Verdienst erzielte.
233. Ein Anspruch der Klägerin auf Schadenersatz lässt sich nicht auf einen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen. Die Beklagte hat diesen nicht verletzt.
24a) Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz wird inhaltlich durch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bestimmt ( - Rn. 17). Er gebietet dem Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich zu behandeln und verbietet sowohl die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe als auch eine sachfremde Gruppenbildung (st. Rspr., vgl. - Rn. 25; - 10 AZR 29/22 - Rn. 26, jeweils mwN).
25b) Hiervon ausgehend hat die Beklagte schon gegen keine selbst gesetzte Regel verstoßen. Sie hat den Angaben zu § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III und ihrem Verständnis des dort beim Soll-Entgelt ausgenommenen „Entgelt für Mehrarbeit“ lediglich die in ihrem Betrieb anzuwendenden tariflichen Bestimmungen zugrunde gelegt. Während nach § 5 MTV bei der Klägerin die über die einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit als Mehrarbeit gilt und als solche vergütet wird, soll bei den nach dem eingestellten Teilzeitkräften ausschließlich eine über die monatliche Soll-Arbeitszeit von 173 Stunden hinaus geleistete Arbeit Mehrarbeit sein. Somit haben diese Beschäftigten - anders als die Klägerin - im maßgeblichen Zeitraum kein „Entgelt für Mehrarbeit“ erhalten. Ob die Tarifnorm insoweit möglicherweise Unionsrecht nicht gerecht wird (vgl. - [Lufthansa CityLine]), ist für die Frage, ob die Beklagte im Jahr 2020 bei der Ermittlung des Soll-Entgelts iSd. § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB III gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen hat, ohne Belang.
26III. Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1, § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:070224.U.5AZR360.22.0
Fundstelle(n):
BB 2024 S. 1075 Nr. 19
DB 2024 S. 1694 Nr. 27
DStR-Aktuell 2024 S. 12 Nr. 21
DStR-Aktuell 2024 S. 12 Nr. 21
NJW 2024 S. 10 Nr. 22
NJW 2024 S. 10 Nr. 22
FAAAJ-65971