BSG Beschluss v. - B 9 V 15/23 B

Gründe

1I. Die 1959 geborene Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer dissoziativen Identitätsstörung und einer schweren rezidivierenden depressiven Störung als Schädigungsfolge sexuellen Missbrauchs durch ihren 1969 verstorbenen Vater in der ehemaligen DDR sowie die Zuerkennung von Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von zumindest 50 nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Dieser Anspruch blieb im Verwaltungsverfahren nach Einholung medizinischer Unterlagen und Auskünften der Schwester sowie eines Glaubhaftigkeitsgutachtens der Diplompsychologin B vom erfolglos, weil die geschilderten Angriffe weder bewiesen noch glaubhaft gemacht seien. Aus der bei der Klägerin vorliegenden dissoziativen Erkrankung könne nicht auf die Glaubhaftigkeit der von ihr geschilderten Ereignisse rückgeschlossen werden (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Im anschließenden Klageverfahren hat das SG ein Gutachten der Psychiaterin K vom eingeholt und nach Anhörung der Klägerin die Klage abgewiesen. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Angaben der Klägerin auf eigenem Erleben beruhten (Urteil vom ). Die hiergegen gerichtete Berufung blieb ebenfalls erfolglos. Zur Begründung hat sich das LSG auf die Ausführungen des SG bezogen und ergänzend ausgeführt, dass auch nach den ergänzenden Ermittlungen im Berufungsverfahren nicht festgestellt werden könne, dass die Schilderungen der Klägerin hinsichtlich der angeschuldigten Taten ihres Vaters und anderer Personen in ihrer frühen Jugend glaubhaft iS von § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) seien. Gegen die Annahme einer PTBS spreche schon der lange Zeitraum zwischen den angeschuldigten Taten und dem Beginn der Erkrankung. Zwischen dem von der Klägerin behaupteten letzten erlittenen Missbrauch im Jahr 1972 und ihrem Erkrankungsbeginn 1991 liege ein beschwerdefreies Intervall von ca 20 Jahren. Dies sei nach den Ausführungen der Sachverständigen B mit den allgemeinen Erkenntnissen zum Erkrankungsverlauf und Beginn einer PTBS nur schwer in Einklang zu bringen. Nach den Ausführungen der Sachverständigen B und K lasse sich nicht feststellen, dass die Schilderungen der Klägerin hinsichtlich der Ereignisse in ihrer Herkunftsfamilie mit Wahrscheinlichkeit erlebnisbasiert seien. Beide Sachverständige hätten überzeugend auf Widersprüche in der Aussage und den möglichen Einfluss therapeutischer Maßnahmen auf das Erinnerungsvermögen der Klägerin hingewiesen. Weitere Ermittlungen während des Berufungsverfahrens hätten keine Belege für die wechselnden Darstellungen der Klägerin erbracht, sodass sich das Gericht von der Glaubhaftmachung der Schilderungen der Klägerin nicht überzeugen könne. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Angaben der Schwester, die ein dem Vater angeschuldetes Ereignis nicht habe schildern können (Urteil vom ).

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt und macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil die allein gerügte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht ordnungsgemäß dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hieran ändern auch die Ausführungen der Klägerin im Schriftsatz vom nichts. Unabhängig davon sind sie auch erst nach Ablauf der bis zum verlängerten Beschwerdebegründungsfrist (§ 160a Abs 2 Satz 2 SGG) erfolgt und deshalb ohnehin nicht zu berücksichtigen ( - juris RdNr 5).

41. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher unter Berücksichtigung des anwendbaren Rechts und der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB - juris RdNr 6 mwN). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.

5a) Die Klägerin misst der Frage grundsätzliche Bedeutung zu, welche genauen Anforderungen an das "Glaubhaftmachen" in den Fällen zu stellen sind, in denen OEG-Antragsteller geltend machen, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein, und ihre Angaben auch aussagepsychologisch nicht nachweisbar sind. Es bedarf keiner näheren Erörterung, ob die Klägerin damit überhaupt eine hinreichend konkrete Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten, genau bezeichneten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht formuliert hat (vgl hierzu - juris RdNr 7). Jedenfalls hat sie - selbst wenn man dieser Frage die Qualität einer Rechtsfrage zubilligen wollte - die Klärungsbedürftigkeit nicht dargelegt. Denn das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn die Frage bereits höchstrichterlich geklärt ist (vgl - juris RdNr 8 mwN).

6Sofern die von der Klägerin aufgeworfene Frage nach den Anforderungen an das "Glaubhaftmachen" auf das "Glaubhafterscheinen" iS von § 15 Satz 1 KOVVfG abzielt, sind dessen Kriterien höchstrichterlich bereits geklärt.

7Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS des § 15 Satz 1 KOVVfG (iVm § 6 Abs 3 OEG) handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Opferentschädigungsrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dh der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der "Wahrscheinlichkeit" des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben des Opferentschädigungsrechts ("Vollbeweis" und "Wahrscheinlichkeit") reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl hierzu insgesamt - BSGE 122, 218 = SozR 4-3800 § 1 Nr 23, RdNr 28; zum Beweismaßstab des "Vollbeweises" s RdNr 26 und zum Beweismaßstab der "Wahrscheinlichkeit" s RdNr 27, jeweils mwN).

8Ferner hat das BSG geklärt, dass die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG auch dann anwendbar ist, wenn für den schädigenden Vorgang keine Tatzeugen vorhanden sind (vgl hierzu - BSGE 122, 218 = SozR 4-3800 § 1 Nr 23, RdNr 30 mwN). Schließlich hat das BSG auch bereits grundsätzlich entschieden, dass die Einholung und Berücksichtigung von sog Glaubhaftigkeitsgutachten im Opferentschädigungsrecht zulässig ist ( - BSGE 122, 218 = SozR 4-3800 § 1 Nr 23, RdNr 35 ff mwN).

9Dass die insoweit höchstrichterlich entschiedenen Problemkreise dennoch weiterhin klärungsbedürftig sind, weil dieser Rechtsprechung in nicht geringem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden, legt die Klägerin im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung nicht im gebotenen Maß dar (vgl - juris RdNr 11). Allein die Darstellung der eigenen Rechtsansicht reicht hierfür nicht.

10Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG in ihrem Einzelfall inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; - juris RdNr 20 mwN). Gerade dies macht die Klägerin aber im Kern ihres Vorbringens zum Gegenstand ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, wenn sie in der Sache eine Anerkennung ihrer Schilderungen als glaubhaft erstrebt und die Würdigung der Einzelumstände durch das Berufungsgericht durch ihre eigene Würdigung ersetzt wissen will. Dies eröffnet die Zulassung der Revision nicht (vgl - juris RdNr 11 mwN).

11b) Soweit die Klägerin rügt, dass das Berufungsgericht offensichtlich den Maßstab für den Nachweis der Taten im Rahmen der Glaubhaftmachung in willkürlicher Art und Weise falsch angewendet und entgegen dem Wortlaut des § 15 Satz 1 KOVVfG verneint habe, benennt sie keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. Vielmehr wendet sie sich im Kern gegen die Beweiswürdigung des LSG. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG aber nicht zur Zulassung der Revision führen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass die Beschwerde ausdrücklich eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG geltend macht, sondern auch dann, wenn sie ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung des LSG in das Gewand einer Grundsatzrüge zu kleiden versucht (vgl stRspr; zB - juris RdNr 11).

122. Soweit die Klägerin mit ihrem Beschwerdevorbringen inzident einen Verfahrensmangel geltend macht, weil die eingeholten Glaubhaftigkeitsgutachten "keine Aussage über die Glaubhaftigkeit" ihrer Angaben träfen und das LSG deshalb den Sachverständigen zu Unrecht gefolgt sei, ist die Beschwerde gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG unzulässig. Denn die Klägerin wendet sich mit diesem Vorbringen wiederum gegen die Beweiswürdigung des LSG. Dies gilt ebenso für ihre Rüge, das LSG habe die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast nach § 15 Satz 1 KOVVfG nicht umgesetzt, weil es den Maßstab für die Glaubhaftmachung verkannt habe. § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG entzieht die Beweiswürdigung des LSG vollständig der Beurteilung durch das Revisionsgericht. Diese kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (stRspr; zB - juris RdNr 22 mwN). Soweit die Klägerin eine Verletzung der Pflicht des LSG zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) rügen wollte, wird die Beschwerde entgegen der ausdrücklichen Vorgabe des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nicht darauf gestützt, das LSG sei einem bis zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom aufrechterhaltenen Beweisantrag der auch im Berufungsverfahren anwaltlich vertretenen Klägerin ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt.

13Schließlich kann die Klägerin auch nicht damit gehört werden, das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt, weil es den Maßstab der Glaubhaftmachung zwar erkannt, aber ihre Angaben zu den tätlichen Angriffen ihres Vaters nicht zutreffend berücksichtigt habe. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet nur, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht, er verpflichtet es aber nicht, dem Sach- und Rechtsvortrag eines Beteiligten zu folgen (BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2933/13 - juris RdNr 12 f; - juris RdNr 8).

143. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

154. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und damit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:140224BB9V1523B0

Fundstelle(n):
OAAAJ-65929