Instanzenzug: OLG Frankfurt Az: 12 U 233/19vorgehend LG Darmstadt Az: 13 O 360/18
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte hinsichtlich eines von ihm im November 2014 von der Beklagten als Neuwagen erworbenen und von der Beklagten hergestellten Fahrzeugs Mercedes-Benz Vito 116 CDI VTP L in Anspruch. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs OM 651 DE 22 LA (Euro 5B+) ausgestattet. Im Mai 2018 verkaufte der Kläger das Fahrzeug für 15.500 €.
2Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag für das Fahrzeug nicht abgeschlossen. Mit der Klage hat er die Rückzahlung des um den Weiterveräußerungserlös reduzierten Kaufpreises nebst Delikts- und Verzugszinsen sowie die Erstattung von vorprozessualen Rechtsanwaltskosten verlangt.
3Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Senat beschränkt auf deliktsrechtliche Ansprüche zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.
Gründe
4Die Revision hat Erfolg.
I.
5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, wie folgt begründet:
6Die Voraussetzungen des § 826 BGB in Verbindung mit § 31 BGB lägen nicht vor. Der Kläger habe für seine Behauptung, in seinem Fahrzeug sei eine unzulässige "Abschaltlogik" verbaut entsprechend derjenigen, die in Motoren des Typs EA 189 Verwendung gefunden habe, keine greifbaren Anhaltspunkte aufgezeigt, so dass sie als "ins Blaue hinein" aufgestellt zu bewerten und einer Beweisaufnahme nicht zugänglich sei. Das Fahrzeug unterliege keinem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA). Die zuletzt vom Kläger vorgelegte Rückrufliste umfasse zwar auch Fahrzeuge des Typs Mercedes-Benz Vito mit dem Motortyp OM 651 (Euro 5). Ob dies dem hier verbauten Motor OM 651 DE 22 LA (Euro 5B+) entspreche, bleibe aber offen. Erfasst seien nach der Liste zudem nur Produktionszeiträume bis Juni 2014, während der Kläger sein Fahrzeug erst Ende September 2014 bestellt und zwei Monate später ausgeliefert erhalten habe. Eine unzulässige Abschalteinrichtung hinsichtlich des SCR-Systems sei schon deswegen nicht anzunehmen, weil nicht feststehe, dass das Fahrzeug darüber verfüge; dem Bestreiten der Beklagten sei der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Messungen, nach denen im realen Fahrbetrieb deutlich höhere Stickoxidmengen ausgestoßen würden als im Neuen Europäischen Fahrzyklus, belegten eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht. Selbst wenn man ein Thermofenster annehme, fehle es für ein sittenwidriges Handeln der Beklagten an der Darlegung von Umständen, die ihr Verhalten als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dies gelte auch für den Vortrag zur Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), für den offenbleiben könne, ob dieser gemäß § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert sei. Dem Vortrag der Beklagten, die KSR arbeite auf und außerhalb des Prüfstands in gleicher Weise, sei der Kläger nicht entgegengetreten. Aus dem Gutachten des Sachverständigen H. in einem Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart ergebe sich nichts Anderes, zumal schon unklar sei, ob der dort untersuchte Motor dem hiesigen entspreche. Die Beklagte habe unwidersprochen vorgetragen, dass das Fahrzeug des Klägers keine Kühlerjalousie aufweise, während der vom Sachverständigen H. untersuchte Motor nach dessen Darstellung im Gutachten über eine solche verfügt habe. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 scheide mangels Schutzgesetzeigenschaft der Normen aus.
II.
7Die Revision ist begründet. Sie führt im Umfang der Zulassung zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
81. Allerdings begegnet es auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen keinen revisionsrechtlichen Zweifeln, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen und sittenwidrigen Verhaltens verneint hat. Hieran ist das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO in Ermangelung eines zulässigen und begründeten Revisionsangriffs gebunden. Die Revision zeigt nicht auf, dass dem Berufungsgericht bei der Würdigung der von ihm festgestellten Tatsachen und des von ihm als zutreffend unterstellten Sachvortrags des Klägers ein Rechtsfehler unterlaufen wäre (vgl. zur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfung Rn. 32 m.w.N., WM 2022, 87). Sie legt auch nicht dar, dass das Berufungsgericht relevanten Sachvortrag oder Beweisantritte des darlegungs- und beweisbelasteten Klägers (vgl. Rn. 14, VersR 2021, 1252; Beschluss vom - VI ZR 433/19 Rn. 19, NJW 2021, 921; Beschluss vom - VI ZR 889/20 Rn. 29, NJW 2021, 1814; Beschluss vom - VIa ZR 51/21 Rn. 21, juris) übergangen hätte. Im Einzelnen:
9a) Gegen die Abweisung von Ansprüchen gemäß § 826 BGB im Hinblick auf ein Thermofenster wendet sich die Revision nicht.
10b) Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe keine ausreichenden Anhaltspunkte für den Einbau einer prüfstandsbezogenen KSR in das Klägerfahrzeug dargelegt, beruht nicht auf überspannten Substantiierungsanforderungen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die von der Revision angeführten Entscheidungen des Rn. 24 ff., WM 2021, 1609) und vom (VIII ZR 57/19 Rn. 8 ff., WM 2020, 476). Auf den von der Revision aufgezeigten Instanzvortrag zur Funktionsweise der KSR kommt es für die Frage, ob eine solche prüfstandsbezogene KSR im Klägerfahrzeug eingebaut ist, nicht an. Auch die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger sei dem Vortrag der Beklagten, die KSR funktioniere auf der Straße und auf dem Prüfstand in gleicher Weise, nicht mehr entgegengetreten, begegnet keinen durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken. In dem vom Berufungsgericht in Bezug genommenen Instanzvortrag legt die Beklagte dar, dass die KSR für die Einhaltung der Grenzwerte nicht relevant sei und das KBA ausweislich aktueller Auskünfte die KSR nicht als prüfstandsbezogene Abschalteinrichtung einstufe. Ein Bestreiten dieses Vortrags zeigt die Revision nicht auf. Die Feststellung des Berufungsgerichts, das Fahrzeug unterliege keinem Rückruf, begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Dass die Beklagte mit Blick auf die vom Kläger überreichte Rückrufliste nicht zur Frage der Produktionszeiträume der betroffenen Fahrzeuge vorgetragen hat, hindert das Berufungsgericht nicht, anhand der überreichten Anlage dazu eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit den von der Revision angeführten Abgasmessungen der Berner Fachhochschule, der Deutschen Umwelthilfe und des KBA hat sich das Berufungsgericht ebenso befasst wie mit dem Gutachten H. aus einem Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart. Die Vergleichbarkeit der untersuchten Motortypen mit dem im Fahrzeug des Klägers verbauten Motor hat das Berufungsgericht verfahrensfehlerfrei zurückgewiesen. Zudem begründen angesichts der unstreitig gravierenden Unterschiede der Bedingungen, unter denen die Messung erfolgt, von den Messwerten nach Neuem Europäischen Fahrzyklus abweichende Messwerte im Realbetrieb schon kein Indiz für eine Abschalteinrichtung, und erst recht nicht für eine Manipulationssoftware, die die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllen könnte. Der Kläger hat den Vortrag der Beklagten, das vom Sachverständigen H. untersuchte Fahrzeug verfüge ebenso wenig wie das Fahrzeug des Klägers über eine Kühlerjalousie, nicht unstreitig gestellt, so dass sich die Revision darauf nicht berufen kann.
11c) Auch im Übrigen erachtet der Senat die von der Revision erhobenen Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend (§ 564 Satz 1 ZPO).
122. Im Lichte der nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann allerdings eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens nicht ausgeschlossen werden (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245).
13Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am entschieden, dass von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart das Interesse des Käufers geschützt ist, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe in seinem Urteil vom (C-100/21) Art. 3 Nr. 36, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG im Sinne des Schutzes auch der individuellen Interessen des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 ausgerüsteten Kraftfahrzeugs gegenüber dem Fahrzeughersteller ausgelegt. Den Schutz der individuellen Interessen des Fahrzeugkäufers im Verhältnis zum Hersteller habe er dabei aus der in Art. 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG vorgesehenen Beifügung einer Übereinstimmungsbescheinigung für die Zulassung, den Verkauf oder die Inbetriebnahme des Fahrzeugs abgeleitet. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe das auf der Übereinstimmungsbescheinigung beruhende und unionsrechtlich geschützte Vertrauen des Käufers mit dessen Kaufentscheidung verknüpft und dem Unionsrecht auf diesem Weg einen von einer vertraglichen Sonderverbindung unabhängigen Anspruch des Fahrzeugkäufers gegen den Fahrzeughersteller auf Schadensersatz "wegen des Erwerbs" eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs entnommen. Das trage dem engen tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrauen des Käufers auf die Ordnungsmäßigkeit des erworbenen Kraftfahrzeugs einerseits und der Kaufentscheidung andererseits Rechnung. Dieser Zusammenhang wiederum liege der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Erfahrungssatz zugrunde, dass ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwerbe, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte. Dementsprechend könne der vom Gerichtshof geforderte Schutz des Käufervertrauens im Verhältnis zum Fahrzeughersteller, sollten Wertungswidersprüche vermieden werden, nur unter einer Einbeziehung auch der Kaufentscheidung gewährleistet werden (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245; Urteil vom - III ZR 267/20 Rn. 22, ZIP 2023, 1903). Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (vgl. Urteile vom - VII ZR 306/21 und VII ZR 619/21, juris).
14Das Berufungsgericht hätte die Berufung des Klägers bei richtiger rechtlicher Bewertung mithin nicht zurückweisen dürfen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, den von ihm geltend gemachten Schaden im Sinne des Differenzschadens zu berechnen. Die Stellung eines an die Geltendmachung des Differenzschadens angepassten Zahlungsantrags ist dem Kläger möglich.Denn dem von ihm in erster Linie auf §§ 826, 31 BGB gestützten großen Schadensersatz einerseits und einem Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGVandererseits liegen lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde, die im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen ( VIa ZR 335/21 Rn. 45, BGHZ 237, 245).
III.
15Danach ist das angefochtene Urteil im tenorierten Umfang aufzuheben und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Eine Entscheidung in der Sache durch den Senat kommt nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:290224UVIIZR701.21.0
Fundstelle(n):
LAAAJ-64906