EuGH Urteil v. - C-427/21

Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Leiharbeit – Richtlinie 2008/104/EG – Art. 1 – Anwendungsbereich – Begriff ‚vorübergehende Zurverfügungstellung‘ – Verlagerung der Aufgaben eines Arbeitnehmers von dessen Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen – Dauerhafte Zurverfügungstellung dieses Arbeitnehmers unter Beibehaltung seines ursprünglichen Arbeitsvertrags

Leitsatz

Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Leiharbeit
ist dahin auszulegen, dass
diese Richtlinie nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der zum einen die Aufgaben eines Arbeitnehmers endgültig von seinem Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen verlagert werden und zum anderen dieser Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis zu diesem Arbeitgeber fortbesteht, weil er von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat, auf Verlangen des Arbeitgebers verpflichtet sein kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Drittunternehmen zu erbringen, und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Drittunternehmens unterliegen kann.

Gesetze: RL 2008/104/EG Art. 1

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LD, einem Arbeitnehmer, und der ALB FILS Kliniken GmbH, seiner ehemaligen Arbeitgeberin, über die Pflicht von LD, seine Arbeitsleistung dauerhaft bei der A Service GmbH (im Folgenden: Gesellschaft A) zu erbringen, nachdem die Aufgaben, die er bei ALB FILS Kliniken wahrgenommen hatte, auf sie verlagert worden waren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Die Erwägungsgründe 11 und 15 der Richtlinie 2008/104 lauten:

„(11) Die Leiharbeit entspricht nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren. Sie trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei.

(15) Unbefristete Arbeitsverträge sind die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses. Im Falle von Arbeitnehmern, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen geschlossen haben, sollte angesichts des hierdurch gegebenen besonderen Schutzes die Möglichkeit vorgesehen werden, von den im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln abzuweichen.“

4 Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/104 bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie gilt für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten.

(2) Diese Richtlinie gilt für öffentliche und private Unternehmen, bei denen es sich um Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht.

…“

5 Art. 2 („Ziel“) der Richtlinie 2008/104 lautet:

„Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen.“

6 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b) ‚Leiharbeitsunternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, die nach einzelstaatlichem Recht mit Leiharbeitnehmern Arbeitsverträge schließt oder Beschäftigungsverhältnisse eingeht, um sie entleihenden Unternehmen zu überlassen, damit sie dort unter deren Aufsicht und Leitung vorübergehend arbeiten;

c) ‚Leiharbeitnehmer‘ einen Arbeitnehmer, der mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen hat oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist, um einem entleihenden Unternehmen überlassen zu werden und dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten;

d) ‚entleihendes Unternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, in deren Auftrag und unter deren Aufsicht und Leitung ein Leiharbeitnehmer vorübergehend arbeitet;

e) ‚Überlassung‘ den Zeitraum, während dessen der Leiharbeitnehmer dem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, um dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten;

…“

7 Art. 5 („Grundsatz der Gleichbehandlung“) Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2008/104 sieht vor:

„(1) Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer entsprechen während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.

(5) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. …“

8 Art. 6 („Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/104 bestimmt:

„(1) Die Leiharbeitnehmer werden über die im entleihenden Unternehmen offenen Stellen unterrichtet, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen Arbeitnehmer dieses Unternehmens. …

(2) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit Klauseln, die den Abschluss eines Arbeitsvertrags oder die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem entleihenden Unternehmen und dem Leiharbeitnehmer nach Beendigung seines Einsatzes verbieten oder darauf hinauslaufen, diese zu verhindern, nichtig sind oder für nichtig erklärt werden können.

…“

Deutsches Recht

AÜG

9 In § 1 („Arbeitnehmerüberlassung, Erlaubnispflicht“) des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung vom (BGBl. 1972 I S. 1393) in der Fassung der Bekanntmachung vom (BGBl. 1995 I S. 158), zuletzt geändert durch das Gesetz zur befristeten krisenbedingten Verbesserung der Regelungen für das Kurzarbeitergeld vom (BGBl. 2020 I S. 493) (im Folgenden: AÜG), heißt es:

„(1) Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung überlassen (Arbeitnehmerüberlassung) wollen, bedürfen der Erlaubnis. Arbeitnehmer werden zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen. … Die Überlassung von Arbeitnehmern ist vorübergehend bis zu einer Überlassungshöchstdauer nach Absatz 1b zulässig. …

(1b) Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. …

(3) Dieses Gesetz ist … nicht anzuwenden auf die Arbeitnehmerüberlassung

2b. zwischen Arbeitgebern, wenn Aufgaben eines Arbeitnehmers von dem bisherigen zu dem anderen Arbeitgeber verlagert werden und auf Grund eines Tarifvertrages des öffentlichen Dienstes

a) das Arbeitsverhältnis mit dem bisherigen Arbeitgeber weiter besteht und

b) die Arbeitsleistung zukünftig bei dem anderen Arbeitgeber erbracht wird,

…“

10 § 9 („Unwirksamkeit“) Abs. 1 AÜG bestimmt:

„Unwirksam sind

...

1b. Arbeitsverträge zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern mit dem Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer nach § 1 Abs. 1b, es sei denn, der Leiharbeitnehmer erklärt schriftlich bis zum Ablauf eines Monats nach Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer gegenüber dem Verleiher oder dem Entleiher, dass er an dem Arbeitsvertrag mit dem Verleiher festhält,

…“

11 In § 10 („Rechtsfolgen bei Unwirksamkeit“) Abs. 1 AÜG heißt es:

„Ist der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach § 9 unwirksam, so gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen; … Für das Arbeitsverhältnis nach Satz 1 gilt die zwischen dem Verleiher und dem Entleiher vorgesehene Arbeitszeit als vereinbart. lm Übrigen bestimmen sich Inhalt und Dauer dieses Arbeitsverhältnisses nach den für den Betrieb des Entleihers geltenden Vorschriften und sonstigen Regelungen; sind solche nicht vorhanden, gelten diejenigen vergleichbarer Betriebe. Der Leiharbeitnehmer hat gegen den Entleiher mindestens Anspruch auf das mit dem Verleiher vereinbarte Arbeitsentgelt.“

BGB

12 In § 613a („Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) heißt es:

(1) Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. …

...

(6) Der Arbeitnehmer kann dem Übergang des Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung nach Absatz 5 schriftlich widersprechen. Der Widerspruch kann gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber oder dem neuen Inhaber erklärt werden.“

TVöD

13 § 4 („Versetzung, Abordnung, Zuweisung, Personalgestellung“) Abs. 3 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände vom (im Folgenden: TVöD) sieht vor:

„Werden Aufgaben der Beschäftigten zu einem Dritten verlagert, ist auf Verlangen des Arbeitgebers bei weiter bestehendem Arbeitsverhältnis die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung bei dem Dritten zu erbringen (Personalgestellung). § 613a BGB sowie gesetzliche Kündigungsrechte bleiben unberührt.

Protokollerklärung zu Absatz 3:

Personalgestellung ist – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhältnisses – die auf Dauer angelegte Beschäftigung bei einem Dritten. …“

14 Da die Protokollerklärung zu § 4 Abs. 3 TVöD eine eigenständige Definition der Tatbestandsvoraussetzungen einer Personalgestellung durch die Tarifvertragsparteien vorsieht, ist sie materieller Bestandteil des TVöD und hat damit Regelungscharakter.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15 LD, eine natürliche Person, schloss im April 2000 einen Arbeitsvertrag mit ALB FILS Kliniken, einer privatrechtlichen Gesellschaft, die eine Klinik betreibt und deren einziger Gesellschafter eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist. Auf das sich daraus ergebende Arbeitsverhältnis fand der TVöD Anwendung.

16 Im Juni 2018 gliederte ALB FILS Kliniken die Bereiche „Poststelle“, „Archiv“ und „Bibliothek“ sowie die in diesen Bereichen von LD wahrgenommenen Aufgaben auf die Gesellschaft A aus (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verlagerung). Diese Gesellschaft ist eine von ALB FILS Kliniken gegründete Tochtergesellschaft, deren gesamtes Gesellschaftskapital von ALB FILS Kliniken gehalten wird.

17 Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hätte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verlagerung grundsätzlich zur Folge gehabt, dass das zwischen LD und ALB FILS Kliniken bestehende Arbeitsverhältnis auf die Gesellschaft A übergegangen wäre. LD machte jedoch von seinem Recht aus § 613a Abs. 6 BGB Gebrauch, dem Übergang dieses Arbeitsverhältnisses zu widersprechen, so dass es gegenüber ALB FILS Kliniken fortbestand, und zwar auch in Bezug auf die vor diesem Übergang geltenden Arbeitsbedingungen und vertraglichen Bestimmungen.

18 Allerdings war LD verpflichtet, seine Arbeitsleistung bei der Gesellschaft A zu erbringen, die in diesem Kontext sowohl in fachlicher als auch in organisatorischer Hinsicht über eine Weisungsbefugnis ihm gegenüber verfügte. Nach § 4 Abs. 3 TVöD war ALB FILS Kliniken berechtigt, LD der Gesellschaft A dauerhaft zur Verfügung zu stellen, und diese durfte ihm Weisungen erteilen.

19 LD ist der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung gegen das Unionsrecht und insbesondere gegen die Richtlinie 2008/104 verstoße, da diese nationale Regelung eine dauerhafte Arbeitnehmerüberlassung erlaube. Daher erhob er Klage auf Feststellung, dass er trotz der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verlagerung nicht verpflichtet sei, seine Arbeitsleistung dauerhaft bei der Gesellschaft A zu erbringen.

20 Nachdem die Klage in erster und zweiter Instanz abgewiesen worden war, legte LD beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision ein.

21 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit davon abhänge, ob die nach § 4 Abs. 3 TVöD erfolgte Personalgestellung von LD an die Gesellschaft A in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 falle.

22 Da eine Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD voraussetze, dass zwischen dem betreffenden Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer, der dem Drittunternehmen überlassen werde, ein Arbeitsverhältnis bestehe, und dieser Arbeitnehmer der Weisungsbefugnis des Drittunternehmens unterliege, könne angenommen werden, dass dieses Arbeitsverhältnis unter der „Aufsicht“ und „Leitung“ des Drittunternehmens im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 durchgeführt werde.

23 Das vorlegende Gericht meint jedoch, dass eine Personalgestellung im Sinne von § 4 Abs. 3 TVöD aufgrund ihrer Besonderheiten und dem mit ihr verfolgten Ziel, Inhalt und Bestand des Arbeitsverhältnisses des von einer dauerhaften Verlagerung seiner Aufgaben betroffenen Arbeitnehmers zu sichern, so maßgeblich von dem der Richtlinie 2008/104 zugrunde liegenden Leitbild der Leiharbeit abweiche, dass die Personalgestellung nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst werde.

24 Eine Personalgestellung im Sinne von § 4 Abs. 3 TVöD betreffe nämlich die dauerhafte Verlagerung der Aufgaben, die ein Arbeitnehmer wahrnehme, der ursprünglich zur Erledigung von Aufgaben seines Arbeitgebers eingestellt worden sei, auf einen Dritten, und diese Verlagerung erfolge zu dem Zweck, den Schutz und die Sicherheit dieses Arbeitnehmers, dessen Aufgaben bei diesem Arbeitgeber dauerhaft weggefallen seien, zu gewährleisten, indem das Risiko eines Arbeitsplatzverlusts oder eines Arbeitgeberwechsels vermieden werde.

25 Ferner äußert das vorlegende Gericht im Hinblick auf die auf das Urteil vom , Betriebsrat der Ruhrlandklinik (C‑216/15, EU:C:2016:883), zurückgehende Rechtsprechung Zweifel daran, ob eine solche Personalgestellung eine Tätigkeit des Arbeitgebers darstelle, die darin bestehe, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten, und damit eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2008/104.

26 Zweitens möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 falle, wissen, ob der Umstand, dass § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG – die zur Umsetzung der Richtlinie erlassene deutsche Regelung – die Personalgestellung im Sinne von § 4 Abs. 3 TVöD aus dem Anwendungsbereich des AÜG ausnehme, so dass dessen Schutzbestimmungen nicht anwendbar seien, im Hinblick auf das Ziel einer solchen Personalgestellung, die Beschäftigung und das Arbeitsverhältnis des betreffenden Arbeitnehmers zu bewahren, mit dem Schutzzweck der Richtlinie im Einklang stehe.

27 Ein solcher Ausschluss sei im AÜG vorgesehen, da die Personalgestellung nach nationalem Recht eine besondere Form der Aufgabenverlagerung sei, die im Bestandsschutzinteresse des von der Verlagerung betroffenen Arbeitnehmers erfolge, wobei die bisherigen Arbeitsbedingungen weiter gälten und die typischen Risiken der Arbeitnehmerüberlassung nicht gegeben seien, so dass die Gefahr eines Missbrauchs zulasten dieses Arbeitnehmers ausgeschlossen sei. Ferner könne die Anwendung der Schutznormen des AÜG auf eine solche Personalgestellung den Interessen des Arbeitnehmers und insbesondere seinem Interesse am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu seinem Arbeitgeber zuwiderlaufen, da nach § 9 Abs. 1 Nr. 1b und § 10 Abs. 1 AÜG zwischen dem Arbeitnehmer und dem Dritten, auf den die von dem Arbeitnehmer wahrgenommenen Aufgaben verlagert würden, ein Arbeitsverhältnis zustande komme.

28 Darüber hinaus deckten sich die Interessen, die den in Rede stehenden Schutzbestimmungen zugrunde lägen, nämlich die Interessen der Leiharbeitnehmer gemäß der Richtlinie 2008/104 einerseits und die Interessen der von einer Personalgestellung im Sinne von § 4 Abs. 3 TVöD betroffenen Arbeitnehmer andererseits, nicht, da die Bestimmungen der Richtlinie einen diskriminierungsfreien Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer festlegen sollten, während § 4 Abs. 3 TVöD die Bewahrung des Arbeitsverhältnisses zwischen den von der Verlagerung ihrer Aufgaben betroffenen Arbeitnehmern und ihrem Arbeitgeber zum Ziel habe.

29 Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Findet Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2008/104 Anwendung, wenn – wie in § 4 Abs. 3 TVöD bestimmt – Aufgaben eines Arbeitnehmers zu einem Dritten verlagert werden und dieser Arbeitnehmer bei weiter bestehendem Arbeitsverhältnis zu seinem bisherigen Arbeitgeber auf dessen Verlangen die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Dritten erbringen muss und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Dritten unterliegt?

  2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird:

    Ist es mit dem Schutzzweck der Richtlinie 2008/104 vereinbar, wenn wie durch § 1 Abs. 3 Nr. 2b AÜG die Personalgestellung im Sinne von § 4 Abs. 3 TVöD aus dem Anwendungsbereich der nationalen Schutzvorschriften bei Arbeitnehmerüberlassung herausgenommen wird, so dass diese Schutzvorschriften auf die Fälle der Personalgestellung nicht anzuwenden sind?

Verfahren vor dem Gerichtshof

30 Mit Schreiben vom , das am beim Gerichtshof eingegangen ist (im Folgenden: Schreiben zur Vergleichsvereinbarung), hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof zunächst mitgeteilt, dass die Parteien des Ausgangsrechtsstreits in einem weiteren zwischen ihnen geführten Rechtsstreit einen Vergleich geschlossen hätten, in dessen Rahmen sie erstens vereinbart hätten, dass LD spätestens zum gegen Zahlung einer Abfindung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheide, zweitens, dass LD bis zu seinem Ausscheiden unter Fortzahlung seiner Vergütung freigestellt sei, und drittens, dass LD das Recht habe, das Arbeitsverhältnis vor diesem Zeitpunkt einseitig zu beenden.

31 Das vorlegende Gericht hat in dem Schreiben zur Vergleichsvereinbarung ferner ausgeführt, dass solch ein Vergleich nach deutschem Recht keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Verfahren des Ausgangsrechtsstreits habe, das daher fortzusetzen sei. Zu seinem Feststellungsinteresse, das erforderlich sei, damit sein Antrag materiell-rechtlich beschieden werden könne, hat LD dem vorlegenden Gericht mitgeteilt, dass er das betreffende Verfahren fortsetzen wolle, weil die Frage, ob seine Beschäftigung in der Vergangenheit rechtskonform erfolgt sei, für ihn von Interesse sei.

32 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom ist das Vorabentscheidungsersuchen den Parteien des Ausgangsverfahrens und den übrigen Beteiligten zugestellt worden.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

33Was zunächst die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens betrifft, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens in einem weiteren nationalen Verfahren einen Vergleich geschlossen hätten, wobei es darauf hingewiesen hat, dass dieser Vergleich keine unmittelbare Auswirkung auf den Ausgangsrechtsstreit habe und LD mitgeteilt habe, dass er das Ausgangsverfahren fortsetzen wolle, da es für ihn von Interesse sei, ob seine Beschäftigung in der Vergangenheit rechtskonform erfolgt sei. Somit besteht nach den Angaben des vorlegenden Gerichts der Gegenstand des bei ihm anhängigen Verfahrens fort.

34Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom , Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, C-600/21, EU:C:2022:970, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteile vom , Caisse régionale de Crédit mutuel de Loire-Atlantique et du Centre Ouest, C-600/21, EU:C:2022:970, Rn. 24, sowie vom , Eurocostruzioni, C-31/21, EU:C:2023:136, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36Im vorliegenden Fall geht aus dem Schreiben des vorlegenden Gerichts an den Gerichtshof hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit beim vorlegenden Gericht noch anhängig ist und dass nicht offensichtlich ist, dass das in dem Vorabentscheidungsersuchen beschriebene Problem hypothetisch geworden ist, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass LD weiterhin ein Interesse daran hat, im Rahmen dieses Rechtsstreits eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Pflicht zu erhalten, seine Arbeitsleistung dauerhaft bei der Gesellschaft A zu erbringen. Folglich wird das vorlegende Gericht bei der in dieser Rechtssache zu treffenden Entscheidung die Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen zu berücksichtigen haben.

37Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

Zur ersten Frage

38Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass diese Richtlinie auf eine Situation anwendbar ist, in der zum einen die Aufgaben eines Arbeitnehmers endgültig von seinem Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen verlagert werden und zum anderen dieser Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis zu diesem Arbeitgeber fortbesteht, weil er von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat, auf Verlangen des Arbeitgebers verpflichtet sein kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Drittunternehmen zu erbringen, und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Drittunternehmens unterliegen kann.

39Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom , Luso Temp, C-426/20, EU:C:2022:373, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40Als Erstes ist in Bezug auf die wörtliche Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 festzustellen, dass nach Art. 1 Abs. 1 diese Richtlinie „für Arbeitnehmer [gilt], die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten“.

41Insoweit ergibt sich zum einen aus der Definition der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“ und „Leiharbeitnehmer“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2008/104, dass der Abschluss dieses Arbeitsvertrags bzw. die Begründung dieses Beschäftigungsverhältnisses mit einem Arbeitnehmer zu dem Zweck vorgenommen werden muss, ihn einem entleihenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen.

42Zum anderen geht sowohl aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 als auch aus der Definition dieser Begriffe sowie der Begriffe „entleihendes Unternehmen“ und „Überlassung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. d und e der Richtlinie hervor, dass das Arbeitsverhältnis mit einem entleihenden Unternehmen seiner Natur nach vorübergehend ist (vgl. in diesem Sinne KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C-681/18, EU:C:2020:823, Rn. 61).

43Unter diesen Umständen ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „vorübergehend“ in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 nicht darauf abzielt, den Einsatz von Leiharbeit auf Arbeitsplätze zu beschränken, die nicht dauerhaft vorhanden sind oder die vertretungsweise besetzt werden, da dieser Begriff nicht den Arbeitsplatz kennzeichnet, der im entleihenden Unternehmen zu besetzen ist, sondern die Modalitäten der Überlassung eines Arbeitnehmers an dieses Unternehmen (vgl. Urteil vom , Daimler, C-232/20, EU:C:2022:196, Rn. 31).

44Damit ein Arbeitsverhältnis in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 fällt, muss ein Arbeitgeber somit, sowohl bei Abschluss des betreffenden Arbeitsvertrags als auch bei jeder der tatsächlich vorgenommenen Überlassungen, die Absicht haben, den betreffenden Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen vorübergehend zur Verfügung zu stellen.

45Im vorliegenden Fall erbringt in einer Situation wie der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils beschriebenen der betreffende Arbeitnehmer die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses mit seinem Arbeitgeber vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zwar gegenüber einem Drittunternehmen und unterliegt in diesem Kontext dessen „Aufsicht“ und „Leitung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104.

46Gleichwohl ist angesichts dessen, dass in dieser Situation der betreffende Arbeitnehmer ursprünglich zur Erledigung von Aufgaben seines Arbeitgebers eingestellt wurde, festzustellen, dass die in den Rn. 41 und 44 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen nicht erfüllt sind, da der Arbeitgeber bei Abschluss des betreffenden Arbeitsvertrags nicht die Absicht hatte, diesen Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Zudem fehlt es an dieser Absicht nicht nur beim Abschluss dieses Vertrags, sondern auch bei der Überlassung des Arbeitnehmers an das Drittunternehmen, wenn – wie hier – das Arbeitsverhältnis zu dem Arbeitgeber nur deshalb fortbesteht, weil der Arbeitnehmer von seinem Recht, dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf dieses Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat.

47Des Weiteren kann eine dauerhafte Verlagerung der Aufgaben, die ein Arbeitnehmer in dem Unternehmen wahrnimmt, mit dem er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, auf ein Drittunternehmen kein vorübergehendes Arbeitsverhältnis mit dem Drittunternehmen im Sinne der in den Rn. 42 und 43 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung begründen.

48Folglich ist – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung – in Übereinstimmung mit der deutschen Regierung und der Europäischen Kommission festzustellen, dass ein Arbeitsverhältnis wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 fallen kann, da zum einen ALB FILS Kliniken keinerlei Absicht hatte, LD einem entleihenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen, und zum anderen die betreffende Zurverfügungstellung nicht vorübergehend war.

49Als Zweites ist festzustellen, dass eine solche wörtliche Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 durch den Zusammenhang bestätigt wird, in dem diese Bestimmung steht.

50Denn die Richtlinie 2008/104 stellt im 15. Erwägungsgrund sowie in Art. 6 Abs. 1 und 2 zwar klar, dass „unbefristete Arbeitsverträge“, d. h. Dauerarbeitsverhältnisse, die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses sind und dass die Leiharbeitnehmer über die im entleihenden Unternehmen offenen Stellen unterrichtet werden müssen, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen Arbeitnehmer dieses Unternehmens, doch geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass sich die Richtlinie ausschließlich auf vorübergehende Arbeitsverhältnisse, Übergangsarbeitsverhältnisse oder zeitlich begrenzte Arbeitsverhältnisse und nicht auf Dauerarbeitsverhältnisse bezieht (vgl. in diesem Sinne KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C-681/18, EU:C:2020:823, Rn. 62).

51Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof auch entschieden hat, dass die Richtlinie 2008/104 sicherstellen soll, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer wird, und dass Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren, und einer nationalen Regelung entgegensteht, die keine Maßnahmen vorsieht, um aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen mit dem Ziel, die Bestimmungen der Richtlinie insgesamt zu umgehen, zu verhindern (vgl. in diesem Sinne KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C-681/18, EU:C:2020:823, Rn. 60 und 72).

52Insoweit war im vorliegenden Fall unter Zugrundelegung der Angaben des vorlegenden Gerichts jede Gefahr des Missbrauchs oder der Umgehung der Richtlinie 2008/104 ausgeschlossen, da zum einen ALB FILS Kliniken – wie sich aus Rn. 46 des vorliegenden Urteils ergibt – nicht die Absicht hatte, LD der Gesellschaft A zur Verfügung zu stellen, und zum anderen das zwischen LD und ALB FILS Kliniken bestehende Arbeitsverhältnis einschließlich der Arbeitsbedingungen und der vor der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verlagerung geltenden vertraglichen Bestimmungen fortbestand, weil LD von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses zu widersprechen, Gebrauch gemacht hatte.

53Als Drittes ist festzustellen, dass die wörtliche und systematische Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 – wie sich aus den Rn. 40 bis 52 des vorliegenden Urteils ergibt – auch durch die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele bestätigt wird.

54Die Richtlinie 2008/104 soll nämlich nach ihrem elften Erwägungsgrund nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen entsprechen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, und trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei. Sie bemüht sich daher um einen Ausgleich zwischen dem Ziel der von den Unternehmen angestrebten Flexibilität und dem Ziel der Sicherheit, das dem Schutz der Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Dieses zweifache Ziel entspricht somit dem Willen des Unionsgesetzgebers, die Leiharbeitsbedingungen den „normalen“ Arbeitsverhältnissen anzunähern, zumal der Unionsgesetzgeber im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104 ausdrücklich klargestellt hat, dass die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses unbefristete Arbeitsverträge sind. Die Richtlinie 2008/104 zielt daher auch darauf ab, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu unbefristeter Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern (Urteil vom , Luso Temp, C-426/20, EU:C:2022:373, Rn. 42 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

55Auch ist es nach Art. 2 der Richtlinie 2008/104 deren „Ziel …, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen“.

56In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die von einem Arbeitnehmer wahrgenommenen Aufgaben endgültig auf ein Drittunternehmen verlagert werden, können die mit der Richtlinie 2008/104 verfolgten Ziele der Flexibilität der Unternehmen, der Schaffung neuer Arbeitsplätze oder auch der Förderung des Zugangs der Leiharbeitnehmer zu unbefristeter Beschäftigung nicht relevant sein, da das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, dessen Aufgaben verlagert wurden, fortbesteht. Außerdem kann der Arbeitnehmer – wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht – dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen widersprechen, was zur Folge hat, dass ihm sämtliche Arbeitsbedingungen erhalten bleiben, die für ihn vor der Verlagerung seiner Aufgaben galten. Daher ist auf diese Situation der in der Richtlinie 2008/104 vorgesehene Schutz der Leiharbeitnehmer nicht anwendbar.

57Nach alledem ist Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen, dass diese Richtlinie nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der zum einen die Aufgaben eines Arbeitnehmers endgültig von seinem Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen verlagert werden und zum anderen dieser Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis zu diesem Arbeitgeber fortbesteht, weil er von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat, auf Verlangen des Arbeitgebers verpflichtet sein kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Drittunternehmen zu erbringen, und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Drittunternehmens unterliegen kann.

Zur zweiten Frage

58In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage, die für den Fall gestellt worden ist, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht, nicht zu beantworten.

Kosten

59Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Leiharbeit

ist dahin auszulegen, dass

diese Richtlinie nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der zum einen die Aufgaben eines Arbeitnehmers endgültig von seinem Arbeitgeber zu einem Drittunternehmen verlagert werden und zum anderen dieser Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis zu diesem Arbeitgeber fortbesteht, weil er von seinem Recht, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf das Drittunternehmen zu widersprechen, Gebrauch gemacht hat, auf Verlangen des Arbeitgebers verpflichtet sein kann, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung dauerhaft bei dem Drittunternehmen zu erbringen, und dabei dem fachlichen und organisatorischen Weisungsrecht des Drittunternehmens unterliegen kann.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2023:505

Fundstelle(n):
NAAAJ-64645