BGH Beschluss v. - XII ZR 65/23

Gehörsverletzung durch die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags zu der Ersatzzustellung eines Versäumnisurteils

Leitsatz

Die Zustellung eines Versäumnisurteils und die Fristwahrung eines dagegen gerichteten Einspruchs ist gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen. § 531 Abs. 2 ZPO ist insoweit nicht anwendbar (im Anschluss an , NJW-RR 2014, 1532 und Beschluss vom - I ZB 57/17, NJW 2018, 2894).

Gesetze: § 189 ZPO, § 341 Abs 1 ZPO, § 531 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: 32 U 6877/22 evorgehend LG München I Az: 34 O 16305/21

Gründe

I.

1Der Beklagte wendet sich gegen die Verwerfung seines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil.

2Die Kläger nehmen den Beklagten nach dem Scheitern der Übernahme einer Gaststätte auf Rückzahlung von 60.000 € nebst Zinsen in Anspruch. Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß durch Versäumnisurteil zur Zahlung verurteilt. Gegen dieses - nach der Zustellungsurkunde an V. N. (erster Vorname und Familienname des Beklagten) adressierte und am in den „zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung“ eingelegte - Versäumnisurteil hat der Beklagte am Einspruch eingelegt.

3Das Landgericht hat den Einspruch des Beklagten gegen das Versäumnisurteil wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht durch Beschluss zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Beklagte, der seinen Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Zulassung der Revision und zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Oberlandesgericht.

51. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, mit der Zustellungsurkunde sei bewiesen, dass dem Beklagten das Versäumnisurteil am durch Einwurf in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden sei. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich des Adressaten sei nur dann aufgehoben, wenn aufgrund der Bezeichnung unklar bleibe, an welche von mehreren gleichnamigen Personen zugestellt sein solle. Es sei aber nicht ersichtlich, dass eine zweite Person mit dem im Adressfeld der Zustellungsurkunde angegebenen Namen an der Zustelladresse wohne. Die bloße Gleichheit des Nachnamens N. führe nicht zur Unklarheit darüber, an wen zugestellt sei. Der Beklagte habe die Beweiskraft der Zustellungsurkunde mit seinem erstinstanzlichen Vorbringen auch nicht entkräftet. Sein Vortrag, das Versäumnisurteil habe sich erst am 28. oder in seinem mit dem Nachnamen und seinem zweiten Vornamen B. beschrifteten Briefkasten befunden, es sei möglicherweise vom Zusteller in einen der beiden anderen unter derselben Anschrift angebrachten Briefkästen mit der Beschriftung N. eingelegt und dann von dem anderen Hausbewohner dieses Namens bei ihm eingeworfen worden, habe lediglich die Möglichkeit eines anderen als des beurkundeten Ablaufs aufgezeigt. In welchen anderen Briefkasten das Schreiben zuvor eingeworfen worden sein sollte und warum es erst am 28. oder in den Briefkasten des Beklagten gelangt sei, habe dieser im landgerichtlichen Verfahren dagegen nicht vorgetragen. Der Beklagte habe sich insoweit auch nicht in Beweisnot befunden, weil er die namensgleichen Nachbarn hätte befragen und dann Beweis antreten können.

6Soweit der Beklagte - auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO - im Berufungsverfahren vorgetragen habe, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass die Mitbewohnerin seines Nachbarn mit dem Namen V. V. N. das Schreiben Mitte Mai 2022 in dessen Briefkasten gefunden und dem Nachbarn ausgehändigt habe, der seinerseits das Schreiben Ende Mai 2022 auf den Briefkasten gelegt habe, wo ein anderer Nachbar es gefunden und in seinen - des Beklagten - Briefkasten eingeworfen habe, sei dies nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig. Der Vortrag sei neu, weil es sich hierbei nicht lediglich um eine Konkretisierung des erstinstanzlichen Vorbringens handele, und die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung neuen Vortrags lägen nicht vor.

72. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Der Beklagte beanstandet zu Recht, dass er durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist.

8a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags oder hierfür erbrachter Beweisangebote verstößt dabei gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn diese im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZR 83/22 - NZM 2023, 501 Rn. 10 mwN). Die Schwelle einer solchen grundrechtsrelevanten Gehörsverletzung kann bei der Verwerfung eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil als verfristet eher überschritten sein, als dies üblicherweise der Fall ist. Denn hiermit ist stets eine Präklusion des Verteidigungsvorbringens verbunden, durch die der Beklagte in seiner Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren einschränkt ist (vgl. BVerfG NJW-RR 2010, 421 Rn. 12 mwN; vgl. auch - NJW 2019, 2942 Rn. 6).

9Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung einer Klage oder eines Versäumnisurteils nicht vor, ist der Beklagte durch die Annahme einer wirksamen Zustellung in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Entsprechendes gilt für ein Urteil, mit dem der Einspruch des Beklagten gegen ein solches Versäumnisurteil verworfen wird, und für eine Entscheidung des Berufungsgerichts, mit der die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs zurückgewiesen wird. Denn durch derartige Entscheidungen wird die Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör perpetuiert, weil diesem die wirksame Möglichkeit einer Überprüfung des Versäumnisurteils auf dessen sachliche Richtigkeit genommen ist (vgl. - NJW 2019, 2942 Rn. 6 f. mwN).

10b) Daran gemessen ist der Beklagte durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Verwerfung des Einspruchs des Beklagten gegen das Versäumnisurteil als verfristet findet im Prozessrecht keine Stütze und hält daher rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

11Das Oberlandesgericht hätte den erst im Berufungsverfahren eingeführten Vortrag des Beklagten zum genauen Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen der Briefkästen an der Zustelladresse nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen. Denn auf die gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen gebotene Prüfung der Zustellung eines Versäumnisurteils und der Fristwahrung des dagegen gerichteten Einspruchs (vgl. - NJW-RR 2014, 1532 Rn. 7 mwN) ist § 531 Abs. 2 ZPO nicht anwendbar (vgl. - NJW 2018, 2894 Rn. 15 mwN; Urteil vom - III ZR 22/75 - NJW 1976, 1940). Ungeachtet dessen hätte das Oberlandesgericht den vom Beklagten erst auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO im Berufungsverfahren gehaltenen Vortrag zum Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen Briefkasten an der Zustelladresse auch deshalb nicht als verspätet zurückweisen dürfen, weil die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO nicht vorlagen. Das Vorbringen erst im Berufungsverfahren beruht jedenfalls nicht auf einer Nachlässigkeit des Beklagten (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), weil der Beklagte entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts im landgerichtlichen Verfahren nicht zu weiteren Nachforschungen verpflichtet gewesen wäre (vgl. - NJW 2020, 1679 Rn. 8 mwN).

12c) Der Verstoß des Oberlandesgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Oberlandesgericht ohne die Gehörsverletzung keine Überzeugung von der Zustellung des Versäumnisurteils am hätte bilden können, es gemäß § 189 ZPO einen Beginn der Einspruchsfrist erst mit dem vom Beklagten behaupteten tatsächlichen Zugang des Versäumnisurteils am angenommen und den am eingegangenen Einspruch demzufolge als rechtzeitig angesehen hätte.

13Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Insbesondere wäre dem Beklagten nicht unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlichen Verhaltens versagt, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen. Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass die Geltendmachung eines Zustellungsmangels treuwidrig und damit rechtsmissbräuchlich sein kann, wenn der Mangel bewusst und zielgerichtet herbeigeführt worden ist (vgl. - FamRZ 2019, 1795 Rn. 11 mwN). Hierfür ist indes vorliegend nichts ersichtlich. Insoweit ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass der Briefkasten des Beklagten mit dem Namen B. N. beschriftet war, sich an der Zustellungsadresse zwei weitere Briefkästen anderer Bewohner befanden, die ebenfalls mit dem Nachnamen N. gekennzeichnet waren, und die Sendung vom Zusteller in den Briefkasten eines gleichnamigen Nachbarn des Beklagten eingelegt wurde. Dass die Sendung in einen der nicht der Wohnung des Beklagten zuzuordnenden Briefkästen eingelegt wurde, würde unter diesen Umständen maßgeblich darauf beruhen, dass das Landgericht den in der Klageschrift genannten zweiten Vornamen des Beklagten nicht in das Adressfeld des Postzustellungsauftrags aufgenommen hat, und läge damit in der Sphäre des Gerichts.

143. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

15Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Oberlandesgericht nach freier Überzeugung zu beurteilen haben wird, ob die Beweiskraft der Zustellungsurkunde hinsichtlich der Person des Zustellungsadressaten (§§ 182 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1, 418 Abs. 1 ZPO) - auch in Anbetracht der Beschriftung der Briefkästen an der Zustelladresse - ganz oder teilweise dadurch gemindert oder aufgehoben ist, dass im Adressfeld der Zustellungsurkunde nicht der vollständige Name des Beklagten angegeben war (vgl. Zöller/Schultzky ZPO § 182 Rn. 18 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:210224BXIIZR65.23.0

Fundstelle(n):
BAAAJ-64260