Instanzenzug: ArbG Wilhelmshaven Az: 1 Ca 215/19 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 6 Sa 76/20 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.
2Der Kläger leistete im streitgegenständlichen Zeitraum Nachtarbeit im Rahmen von Wechselschichtarbeit bei der Beklagten, einem Brauereiunternehmen. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Beklagte ist durch einen mit der Gewerkschaft NGG geschlossenen Unternehmenstarifvertrag (UTV) an den Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Brauereien von Niedersachsen e. V. und der NGG Landesbezirk Niedersachsen/Bremen vom (MTV) sowie an verschiedene zwischen der F GmbH & Co. KG und der NGG vereinbarte Tarifverträge, ua. die Änderungs-/Ergänzungsvereinbarung zum Anerkennungstarifvertrag vom (ÄV 2002), gebunden.
3Der Kläger verrichtete von Januar bis Mai 2019 Nachtarbeit in Wechselschicht in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr, für die er einen Zuschlag in Höhe von 25 % erhielt. Es handelt sich um einen Zuschlag in Höhe von 140,10 Euro brutto für 24 Nachtschichtstunden im Januar 2019, in Höhe von 186,80 Euro brutto für 32 Stunden im Februar 2019, in Höhe von 384,80 Euro brutto für 64 Stunden im März 2019, in Höhe von 384,80 Euro brutto für 64 Stunden im April 2019 und in Höhe von 240,50 Euro brutto für 40 Stunden im Mai 2019. Abgerechnet wurden die Nachtarbeitszuschläge - entsprechend einer im Betrieb bestehenden Regelung - jeweils mit der Entgeltabrechnung im Folgemonat.
4Der Kläger begehrt mit seiner am eingegangenen Klage - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung der Ansprüche für Januar und Februar 2019 mit undatiertem Schreiben am - für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit in Höhe von 50 %.
5Er hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 7 Buchst. f MTV idF der ÄV 2002 iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge von nur 25 %, für im Übrigen verrichtete Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Zudem sei die Teilhabe am sozialen Leben auch bei Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr deutlich erschwert. Planbarkeit könne sowohl bei Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr als auch bei Nachtarbeit vorliegen oder fehlen. Ein Zuschlag von nur 25 % für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr sei nicht vom Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt, er verteuere die Nachtarbeit nicht ausreichend. Außerdem sei dieser Gestaltungsspielraum mit Blick darauf eingeschränkt, dass tarifvertragliche Regelungen für Nachtarbeitszuschläge der Durchführung von Unionsrecht iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dienten und insoweit an Art. 20 und Art. 31 Abs. 1 GRC zu messen seien. Seine Ansprüche seien auch nicht verfallen.
6Der Kläger hat beantragt,
7Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit und Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Die Zuschlagsdifferenz verringere sich außerdem durch die Regelungen zu den Schichtfreizeiten, Pausen und den Umstand, dass der Zuschlag von 50 % für Nachtarbeit typischerweise Mehrarbeit betreffe und daher den Mehrarbeitszuschlag enthalte. Er solle auch nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern kompensieren, dass die betroffenen Arbeitnehmer die Möglichkeit verlören, über ihre Freizeit zu disponieren. Arbeitgeber sollten von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abgehalten werden. Außerdem sei die Teilhabe am sozialen Leben, etwa die Organisation der Kinderbetreuung, bei unregelmäßiger Nachtarbeit wesentlich schwerer zu organisieren. Schließlich sei eine „Anpassung nach oben“ abzulehnen.
8Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger seine Zahlungsansprüche weiter.
9Der Senat hat das Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgesetzt. Der EuGH hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom geantwortet (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]).
Gründe
10Die Revision des Klägers ist überwiegend begründet. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts für die während der Nachtschichten geleisteten Arbeitsstunden grundsätzlich Anspruch auf einen höheren Nachtarbeitszuschlag. Dies führt zur teilweisen Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Klage ist überwiegend begründet, was der Senat selbst entscheiden kann (§ 563 Abs. 3 ZPO).
11I. Der Rechtsstreit war nicht in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen der gegen das Urteil des Senats vom (- 10 AZR 423/20 -) eingelegten Verfassungsbeschwerde (- 1 BvR 1708/23 -) auszusetzen (vgl. zur entsprechenden Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde (A) - Rn. 42 ff., BAGE 172, 175).
121. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf (vgl. - Rn. 20 mwN; - 6 AZR 136/19 (A) - Rn. 45 mwN, BAGE 172, 175).
132. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des gerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG) ist eine nochmalige Aussetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien nicht angezeigt.
14a) Streitgegenständlich sind vorliegend Ansprüche des Klägers auf höhere Nachtarbeitszuschläge für die Monate Januar bis Mai 2019. Die der Beklagten im Juli 2019 zugestellte Klage ist seit über vier Jahren rechtshängig. In dritter Instanz ist das Verfahren bereits im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV ausgesetzt worden. Dieser Aussetzungsgrund ist mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]) entfallen.
15b) Eine weitere Aussetzung bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht würde unter Berücksichtigung der üblichen Dauer eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, dessen Abschluss nicht valide abzuschätzen ist, zu einer erheblichen Verlängerung der ohnehin bereits beträchtlichen Verfahrensdauer führen. Mit Blick darauf war dem Interesse des Klägers an einem zeitnahen Abschluss des Verfahrens vor einem Aussetzungsinteresse der Beklagten der Vorrang einzuräumen. Der Zweck der Aussetzung, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen zu vermeiden, tritt insoweit zurück.
16II. Die zulässige Klage ist weitgehend - mit Ausnahme einiger Zinstermine - begründet. Die Beklagte hat an den Kläger für die Monate Januar bis Mai 2019 für seine Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag für Nachtarbeit nach § 7 Buchst. f MTV idF der ÄV 2002 in Höhe von 50 % des tatsächlich gezahlten Monatsentgelts je Arbeitsstunde (§ 7 Buchst. d MTV idF der ÄV 2002) abzüglich der geleisteten Zuschläge zu zahlen.
171. Dem Kläger stehen höhere Nachtarbeitszuschläge zu, weil die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge für sonstige Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit (§ 7 Buchst. f MTV idF der ÄV 2002) einer Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhält. Nachtschichtarbeitnehmer werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechter gestellt. Dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) kann nur dadurch genügt werden, dass der Kläger für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Arbeitnehmer, der sonstige Nachtarbeit iSv. § 7 Buchst. f MTV idF der ÄV 2002 leistet, behandelt wird. Daher hat der Kläger ergänzend zu dem gezahlten Nachtarbeitszuschlag nach § 7 Buchst. f MTV idF der ÄV 2002 Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % zu seinem jeweiligen tatsächlichen Stundenentgelt für die von ihm geleisteten Stunden zur tariflichen Nachtzeit. Das hat der Senat zu den hier maßgeblichen Tarifnormen bereits entschieden ( - Rn. 35 ff.). Das Vorbringen im Streitfall entspricht dem Vorbringen in dem bereits entschiedenen Verfahren und führt zu keiner anderen Bewertung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird daher auf die Erwägungen im vorstehenden Urteil verwiesen.
182. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz hat zur Folge, dass der Kläger Anspruch auf Zahlung des höheren Nachtarbeitszuschlags von 50 % des Stundenentgelts für die von ihm geleistete streitgegenständliche Nachtarbeit hat. Die gleichheitswidrige Ungleichbehandlung kann für die im Streit stehende Vergangenheit nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Erwägungen des Senats im Urteil vom (- 10 AZR 423/20 - Rn. 65 ff.) verwiesen.
193. Der Kläger hat die tarifliche Ausschlussfrist für die geforderten Nachtarbeitszuschläge für die Monate Januar bis Mai 2019 gewahrt.
20a) Die Nachtarbeitszuschläge für die Monate Januar bis Mai 2019 hat der Kläger mit einem undatierten Schreiben am ausschlussfristwahrend auf der ersten Stufe geltend gemacht. Entgegen seiner Ansicht ist für die streitgegenständlichen Nachtarbeitszuschläge hinsichtlich der ersten Stufe der Ausschlussfrist die Regelung in § 26 Nr. 2 MTV maßgeblich (näher - Rn. 72 f.). Diese Frist hat er allerdings im Hinblick auf die streitgegenständlichen Nachtarbeitszuschläge gewahrt. Die ältesten Ansprüche aus Januar 2019 waren nach der im Betrieb der Beklagten geltenden Regelung gemäß § 10 Nr. 2 iVm. Nr. 3 MTV mit dem Entgeltanspruch für Februar 2019 und somit am , einem Donnerstag, fällig. Die Ausschlussfrist endete damit am (§ 187 Abs. 1 iVm. § 188 Abs. 2 BGB; - Rn. 12, BAGE 154, 252). Die erstmalige schriftliche Geltendmachung am genügt in der vorliegenden Streitkonstellation nach § 26 Nr. 2 MTV auch für später entstandene Ansprüche (vgl. - Rn. 80 ff.).
21b) Die zweite Stufe der Ausschlussfrist in § 26 Nr. 3 MTV hat der Kläger durch seine am bei dem Arbeitsgericht eingegangene Klage gewahrt. Mit dieser hat er, nachdem die Beklagte mit Schreiben vom iSv. § 26 Nr. 3 MTV die Erfüllung höherer „Nachtschichtzuschläge“ nachweislich abgelehnt hatte, innerhalb von drei Monaten seit der Ablehnung die streitgegenständlichen Ansprüche gerichtlich geltend gemacht.
224. Danach stehen dem Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für die Monate Januar bis Mai 2019 in Höhe von insgesamt 1.337,00 Euro brutto zu (140,10 Euro brutto für Januar 2019, 186,80 Euro brutto für Februar 2019, 384,80 Euro brutto für März 2019, 384,80 Euro brutto für April 2019 und 240,50 Euro brutto für Mai 2019). Die Höhe der Zuschläge ist zwischen den Parteien unstreitig und zutreffend berechnet. Soweit die Beklagte die Anzahl der geleisteten Nachtarbeitsstunden pauschal bestritten hat, ist das nicht hinreichend. Vielmehr gilt die Anzahl der vom Kläger für jeden Monat substantiiert unter Vorlage der Entgeltabrechnungen vorgetragenen Nachtarbeitsstunden als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
235. Nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB schuldet die Beklagte Verzugszinsen, die dem Kläger gemäß § 187 Abs. 1 BGB ab dem Tag nach Eintritt der Fälligkeit zustehen (vgl. - Rn. 38 mwN). Fällig sind die Ansprüche auf Nachtarbeitszuschläge - wie ausgeführt - am Ende des Folgemonats bzw. am vorhergehenden Tag, wenn es sich um einen arbeitsfreien Tag handelt (§ 10 Nr. 2 MTV). Danach besteht ein Zinsanspruch des Klägers für die für Januar 2019 abzurechnenden Stunden ab dem , für die für Februar 2019 abzurechnenden Stunden ab dem , für die für März 2019 abzurechnenden Stunden ab dem , für die für April 2019 abzurechnenden Stunden ab dem und für die für Mai 2019 abzurechnenden Stunden ab dem . Soweit der Kläger die Zahlung von Zinsen bereits ab einem früheren Zeitpunkt begehrt, ist die Klage unbegründet. Für den Monat Januar 2019 hat der Kläger Zinsen erst ab dem beantragt.
24III. Die Kostenentscheidung beruht auf beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Zuvielforderung bei den Zinsen erweist sich als verhältnismäßig geringfügig, so dass die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:240124.U.10AZR436.20.0
Fundstelle(n):
TAAAJ-64241