BGH Urteil v. - VIa ZR 1283/22

Instanzenzug: Az: 4 U 40/22 Beschlussvorgehend Az: 22 O 147/21

Tatbestand

1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2Er erwarb am für 34.315 € ein von der Beklagten hergestelltes, gebrauchtes Kraftfahrzeug BMW X5 xDrive, das mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe N57 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist.

3Das Landgericht hat die im Wesentlichen auf Schadensersatz nebst Zinsen, Zahlung von Deliktszinsen, Feststellung des Annahmeverzugs und Freistellung von Rechtsverfolgungskosten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der er seine Anträge aus dem ersten Rechtszug im Wesentlichen weiterverfolgt hat, ist erfolglos geblieben. Er verfolgt seine Berufungsanträge mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision nur im tenorierten Umfang weiter.

Gründe

4Die Revision des Klägers hat Erfolg.

I.

5Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

6Der Kläger habe ein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten der Beklagten zu seinem Nachteil im Sinne der §§ 826, 31 BGB nicht hinreichend dargetan.

7Soweit er sich auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV berufe, stehe dem schon entgegen, dass das Interesse nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht vom Schutzzweck der genannten Bestimmungen umfasst sei.

8Einer Entscheidung darüber, ob die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auch fahrlässige Rechtsverstöße der Hersteller einbeziehen müsse, bedürfe es nicht, weil der Beklagten ausgehend vom Vortrag des Klägers eine Fahrlässigkeit nicht vorgeworfen werden könne, wenn sie - wie hier - die temperaturbasierte Abgassteuerung in dem behördlicherseits zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs verlangten Umfang zur EG-Typgenehmigung angemeldet habe und mit einer Bewertung der konkreten Konfiguration als rechtswidrig nach der damals vorherrschenden Auffassung nicht habe rechnen müssen. Sie habe sich darauf verlassen dürfen, dass die temperaturbasierte Abgassteuerung, die zudem bis heute dem Stand der Technik entspreche, rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die Beklagte habe insofern nicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen. Der Kläger verkenne, dass nicht jeder vorsatzausschließende Rechtsirrtum einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründe, sondern dass das Maß der gebotenen Sorgfalt nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen sei. Zu diesen Einzelfallumständen gehörten auch die jahrelang hingenommenen Verwaltungsabläufe im Typgenehmigungsverfahren. Im Rahmen des § 276 Abs. 2 BGB und für das Maß der gebotenen Sorgfalt komme es darauf an, was von einem durchschnittlichen Mitglied des betroffenen Verkehrskreises erwartet werden könne. Dabei könne die "gelebte Praxis" gewisse Anhaltspunkte geben. Zugleich könne sich der Verpflichtete nur dann auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen, wenn er die höchstrichterliche Rechtsprechung beachtet habe und nicht damit habe rechnen müssen, dass sein Handeln grundlegend anders bewertet werden würde. Angesichts der Bewertung durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) und des unterbliebenen Rückrufs sowie mit Rücksicht auf den Umstand, dass Betriebsbeschränkungen nicht drohten, sei nicht ersichtlich, dass die nicht vorsätzlich handelnde Beklagte Sorgfaltspflichten verletzt habe.

9Darüber hinaus stelle sich das Verlangen des Klägers nach Schadensersatz unter Berufung auf unionsrechtliche Bestimmungen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB als rechtsmissbräuchlich dar, weil der Kläger das Fahrzeug ungeachtet der behaupteten Rechtsverstöße für seine Zwecke nutze.

10Schließlich habe der Kläger die Kausalität des behaupteten Schadens insofern weder schlüssig dargetan noch bewiesen oder unter Beweis gestellt, als eine Betriebsuntersagung oder -beschränkung nicht drohe und deshalb der der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entnehmende Erfahrungssatz nicht zur Anwendung komme. Angesichts des vagen Vortrags des Klägers zu seiner Motivlage und zu seinem Vorstellungsbild lägen auch die Voraussetzungen der Vernehmung des Klägers als Partei nicht vor, zumal die Beklagtenseite nicht zugestimmt habe.

II.

11Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren teilweise nicht stand.

121. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.

132. Nicht frei von Rechtsfehlern sind allerdings die Erwägungen des Berufungsgerichts zu einem Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV.

14a) Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).

15Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Das Vorliegen eines solchen Schadens ergibt sich bereits aus der mit dem Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung einhergehenden Möglichkeit von Betriebsbeschränkungen und kann dementsprechend im Falle der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht ohne Verstoß gegen § 287 Abs. 1 ZPO verneint werden ( aaO, Rn. 41). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

16b) Ein Schadensersatzanspruch des Klägers gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV hat das Berufungsgericht auch nicht gestützt auf die von ihm zum Verschulden angestellten Erwägungen verneinen dürfen.

17aa) Der Senat hat insofern nach Erlass der hier angefochtenen Entscheidung entschieden, dass ein Verschulden des Fahrzeugherstellers vermutet wird ( VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 59 ff.). Der Fahrzeughersteller kann sich zwar durch einen von ihm darzulegenden und zu beweisenden unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten. Das setzt indessen zunächst die Darlegung und - erforderlichenfalls - den Nachweis eines entsprechenden Rechtsirrtums seitens des Fahrzeugherstellers voraus ( aaO, Rn. 63). Der Fahrzeughersteller muss dabei darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. aaO, Rn. 62) im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. , BGHZ 220, 162 Rn. 17 ff.; Urteil vom - VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 14). Der Irrtum muss außerdem die Rechtmäßigkeit der konkreten, in Rede stehenden Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten betreffen. Nur in Bezug auf einen in diesen Einzelheiten konkret festgestellten Irrtum der maßgebenden Personen kann der Sorgfaltsmaßstab der Fahrlässigkeit sachgerecht geprüft und kann die Unvermeidbarkeit festgestellt werden. Die strengen Maßstäbe dafür hat der Senat in seiner Entscheidung vom ebenfalls ausgeführt ( aaO, Rn. 63 bis 70).

18bb) Diesen Maßstäben ist das Berufungsgericht, das seine Entscheidung vor dem Urteil des Senats vom (BGHZ 237, 245) gefällt hat, nicht gerecht geworden. Feststellungen dazu, sämtliche Repräsentanten der Beklagten hätten sich im maßgeblichen Zeitpunkt in einem Rechtsirrtum befunden, fehlen. Erst im Anschluss an die Darlegung und den Nachweis dieser Umstände kann Bedeutung gewinnen, ob eine festgestellte Abschalteinrichtung entweder in all ihren für die Bewertung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007maßgebenden Einzelheiten von der damit befassten nationalen Behörde genehmigt war oder genehmigt worden wäre. Bezogen auf ein Thermofenster hätte das Berufungsgericht berücksichtigen müssen, dass die Bedeutung der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht höchstrichterlich und insbesondere nicht durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt war (vgl. VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 15). Eine Entlastung ohne Rücksicht hierauf und im Hinblick etwa auf den Umstand, dass der Verwendung von Thermofenstern ein allgemeiner Industriestandard zugrunde lag und dass jedes Dieselfahrzeug mit einer Abgasrückführung auch über ein Thermofenster verfügte, kommt dagegen nicht in Betracht ( VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 69 f.).

19c) Auch die Erwägungen des Berufungsgerichts zu einem Rechtsmissbrauch des Klägers begegnen durchgreifenden Bedenken.

20Zwar kann eine Rechtsausübung unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt (vgl. , BGHZ 211, 105 Rn. 20) oder eine formale Rechtsposition ausgenutzt wird (vgl. , BGHZ 227, 253 Rn. 27).

21Soweit ein Fahrzeugkäufer aber einerseits gestützt auch auf Vorschriften des Unionsrechts Schadensersatz verlangt und andererseits das erworbene, nach seinem hier bedeutsamen Vorbringen mit einer fehlerhaften Übereinstimmungsbescheinigung versehene Fahrzeug zweckgemäß als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr nutzt, lassen sich seinem Verhalten zwar unterschiedliche Bedeutungsgehalte entnehmen, diese schließen sich aber keineswegs aus und sind daher nicht widersprüchlich. Weder gibt der Fahrzeugkäufer mit der Fahrzeugnutzung zu verstehen, dass er das Fahrzeug für rechtskonform hält und auf damit zusammenhängende Ansprüche verzichtet, noch gibt der Fahrzeugkäufer mit seinem Schadensersatzbegehren zu verstehen, dass das Fahrzeug wegen der Rechtsverstöße aktuell nicht im Straßenverkehr nutzbar ist.

22Im Ergebnis nichts Anderes gilt für die Erwägung des Berufungsgerichts, der Kläger könne nicht einerseits behaupten, die EG-Typgenehmigung sei erloschen, andererseits aber das Fahrzeug unverändert nutzen: Der Fahrzeugnutzung liegt die EG-Typgenehmigung als Voraussetzung der Zulassung zugrunde, § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV). Der fortgesetzten Fahrzeugnutzung kann deshalb lediglich entnommen werden, dass das Fahrzeug unverändert zugelassen ist und dass keine der Nutzung entgegenstehende Maßnahme der Zulassungsbehörde nach § 5 FZV getroffen wurde.

23d) Schließlich können die Erwägungen des Berufungsgerichts zur Anwendung des Erfahrungssatzes, dass der Kläger den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte, keinen Bestand haben. Der Erfahrungssatz kommt auch im Falle einer mit Rücksicht auf das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung fehlerhaften Übereinstimmungsbescheinigung zur Anwendung, und zwar ohne Rücksicht auf die bisher seitens des KBA getroffenen oder nicht getroffenen Maßnahmen ( VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 55).

III.

24Die angefochtene Entscheidung ist demnach im beantragten Umfang aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO), weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

25Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:200224UVIAZR1283.22.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-63674