BGH Beschluss v. - VI ZB 45/23

Wert des Beschwerdegegenstands bei Grundurteil über Schmerzensgeldanspruch

Leitsatz

Zum Wert des Beschwerdegegenstands bei einem Grundurteil über einen Schmerzensgeldanspruch.

Gesetze: § 3 ZPO, § 304 ZPO, § 511 Abs 2 Nr 1 ZPO, § 253 Abs 2 BGB, § 823 Abs 1 BGB

Instanzenzug: Az: 1 S 28/21vorgehend Az: 27 C 110/20

Gründe

I.

1Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen Körperverletzung durch Einsatz eines Pfeffersprays auf Schadensersatz in Anspruch.

2Die Klägerin war mit ihrem vorschriftswidrig nicht angeleinten Hund in G. unterwegs, als ihr der Beklagte entgegen kam. Der Beklagte wehrte den sich ihm nähernden Hund mit einem Pfefferspray ab. Streitig ist zwischen den Parteien, ob der Beklagte das Pfefferspray auch gegen die Klägerin einsetzte. Das Amtsgericht hat über die auf Zahlung von 1.245 € (Schmerzensgeld 1.200 €, Kostenpauschale 25 €, Kosten für ein ärztliches Attest 20 €) nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage zunächst durch Grundurteil entschieden. Es hat das begehrte Schmerzensgeld dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin von 25 % für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung des Beklagten hat das Landgericht durch Beschluss als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

II.

3Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

41. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Wert des Beschwerdegegenstandes überschreite in Anbetracht des Vortrags der Klägerin in erster Instanz die Grenze von 600 € (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) nicht. Der Beklagte begehre mit der Berufung die Abänderung des Grundurteils des Amtsgerichts, mit dem es den Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin von 25 % für gerechtfertigt erklärt habe. Selbst wenn man unterstelle, dass sich die Klägerin durch den Angriff des Beklagten mit Pfefferspray - wie in der Klageschrift geltend gemacht - sehr stark erschreckt habe, starke Schmerzen und eine Reizung der Schleimhäute erlitten habe sowie beim Verlassen des Hauses nun von der Angst begleitet werde, erneut eine entsprechende Situation zu erleben, komme eine Verurteilung zu einem den Betrag von 550 € übersteigenden Schmerzensgeld nicht in Betracht. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die körperlichen Beschwerden der Klägerin letztlich ohne eingehende ärztliche Behandlungsmaßnahmen in überschaubarer Zeit abgeklungen seien und ausweislich der von der Klägerin eingereichten ärztlichen Atteste die reaktive Anpassungsstörung, die sie im Hinblick auf das Ereignis entwickelt haben solle, auf der Grundlage einer vorbestehenden depressiven Störung und Angst entstanden sei. Der ausgeurteilte Mitverschuldensanteil führe bei der Bemessung des einheitlichen Schmerzensgeldanspruchs nicht - wie der Beklagte meine - zu einem prozentual gekürzten Schmerzensgeld. Vielmehr sei der Mitverschuldensanteil im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung des einheitlich zu bemessenden Schmerzensgeldes zu berücksichtigen. Dem Beklagten stünde im Übrigen im Betragsverfahren - sollte das Amtsgericht Schmerzensgeld von über 600 € ausurteilen - das Rechtsmittel der Berufung zu. Gründe, die Berufung zuzulassen, lägen nicht vor.

52. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

6Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Denn die angefochtene Entscheidung verletzt den Beklagten in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses Verfahrensgrundrecht verbietet es, einer Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfG NJW 1991, 3140; Senatsbeschlüsse vom - VI ZB 74/22, NJW 2023, 2280 Rn. 6; vom - VI ZB 50/17, NJW-RR 2019, 640 Rn. 7 mwN). Das ist vorliegend erfolgt. Mit dem angefochtenen Verwerfungsbeschluss hat das Berufungsgericht den Wert des Beschwerdegegenstands der Berufung des Beklagten rechtsfehlerhaft mit 550 € festgesetzt und damit angenommen, dieser übersteige 600 € (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) nicht.

7a) Fehlt es - wie im Streitfall - an einer Zulassung der Berufung (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), so ist die Berufung gemäß § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO gegen ein im ersten Rechtszug erlassenes Endurteil nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt. Ein Zwischenurteil über den Grund ist in Betreff der Rechtsmittel als Endurteil anzusehen, § 304 Abs. 2 Halbs. 1 ZPO.

8Die Festsetzung des Werts des Beschwerdegegenstands bei Rechtsmitteln richtet sich - wie sich aus § 2 ZPO ergibt - nach den Vorschriften der §§ 3 ff. ZPO (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZB 66/19, NJW 2020, 3174 Rn. 6). Die Wertfestsetzung kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht die Grenzen des ihm von § 3 ZPO eingeräumten Ermessens überschritten oder rechtsfehlerhaft von ihm Gebrauch gemacht hat (vgl. Senatsbeschlüsse vom - VI ZB 72/22, juris Rn. 4; vom - VI ZB 41/20, VersR 2021, 1128 Rn. 4 mwN).

9b) Gemessen an diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft den Wert des Beschwerdegegenstands der Berufung des Beklagten mit 550 € bemessen.

10aa) Der für die Zulässigkeit der Berufung maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstands beurteilt sich nach dem Betrag, um den der Berufungskläger durch das Urteil erster Instanz in seinem Recht verkürzt zu sein behauptet und in dessen Höhe er mit seinem Berufungsantrag Abänderung des Urteils beantragt. Bei einer unbeschränkt eingelegten Berufung des Beklagten ist der Wert des Beschwerdegegenstands nach dem Umfang der erstinstanzlichen Verurteilung zu bemessen (Senatsbeschluss vom - VI ZB 61/10, NJW-RR 2011, 1430 Rn. 4 mwN). Bei einem Grundurteil gemäß § 304 ZPO bemisst sich der Wert des Beschwerdegegenstands im Fall der unbeschränkt eingelegten Berufung des Beklagten nach der Höhe der Klageforderung bzw. dem Bruchteil derselben, zu dem der Klage dem Grunde nach stattgegeben worden ist (vgl. , NJW 2010, 681 Rn. 6; Ball in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 511 Rn. 26; Saenger/Wöstmann, ZPO, 10. Aufl., § 511 Rn. 24).

11bb) Das Amtsgericht hat durch Grundurteil ausgesprochen, dass der Klägerin gegen den Beklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 823 Abs. 1 BGB das mit der Klage geltend gemachte Schmerzensgeld - laut Klageantrag 1.200 € - dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin von 25 % zusteht. Der Wert des Beschwerdegegenstands der gegen das Grundurteil unbeschränkt eingelegten Berufung des Beklagten übersteigt damit den Wert von 600 €.

12(1) Wäre der Klägerin das Schmerzensgeld dem Grunde nach ohne die Einschränkung, einen Mithaftungsanteil der Klägerin von 25 % zu berücksichtigen, zugesprochen worden, wäre die Beschwer des Beklagten identisch mit der Höhe der Klageforderung von 1.200 € (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZR 300/18, juris Rn. 2).

13(2) Durch die für das Betragsverfahren bindende Vorgabe im Grundurteil, wonach ein Mithaftungsanteil der Klägerin von 25 % zu berücksichtigen sei, ist, wie im Ausgangspunkt zutreffend vom Berufungsgericht angenommen, der Beklagte nicht zu dem seiner Beteiligungsquote entsprechenden Teil des beantragten Schmerzensgeldes verurteilt worden, sondern zu einem Schmerzensgeld, das unter Berücksichtigung der Beteiligungsquote der Klägerin angemessen ist (vgl. auch , VersR 1984, 739, juris Rn. 9; vom - VI ZR 13/69, VersR 1970, 624, juris Rn. 37). Der vom Amtsgericht mit 25 % bemessene Mithaftungsanteil der Klägerin ist im Betragsverfahren nur als einer der Umstände zu berücksichtigen, die bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu beachten sind und in ihrer Gesamtheit zur Ermittlung des angemessenen Schmerzensgeldbetrags führen (vgl. , NZV 1991, 305, juris Rn. 8; vom - VI ZR 13/69, VersR 1970, 624, juris Rn. 37).

14Auch wenn also erst im Betragsverfahren entschieden wird, wie sich die Mithaftung bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auswirkt, kann die für das Betragsverfahren bindende Vorgabe der Berücksichtigung des Mithaftungsanteils bei der Bemessung der Beschwer des Beklagten aus dem Grundurteil nicht unberücksichtigt bleiben. Das bedeutet, dass grundsätzlich von der Beschwer, die sich für den Beklagten aus einem uneingeschränkt stattgebenden Grundurteil ergeben würde, ein Abzug vorzunehmen ist. Da bei lebensnaher Betrachtung nicht vorstellbar ist, dass eine Beschwer, die sich ohne Mithaftungsanteil auf 1.200 € belaufen würde, allein wegen der Mithaftung der Klägerin von 25 % auf 600 € oder weniger zurückfällt, liegt die Beschwer jedenfalls bei über 600 €.

15(3) Demgegenüber hat das Berufungsgericht zur Begründung, weshalb seiner Ansicht nach der Wert des Beschwerdegegenstands unter 600 € liege, rechtsfehlerhaft Umstände herangezogen, die ausschließlich die - seiner Meinung nach in Betracht kommende - Höhe des geltend gemachten Anspruchs betreffen. Diese können zur Bemessung des Werts des Beschwerdegegenstands bei einer Berufung gegen ein Grundurteil nicht berücksichtigt werden.

16Das Berufungsgericht hat angeführt, aus dem Vortrag der Klägerin in erster Instanz ergebe sich, dass die körperlichen Beschwerden der Klägerin ohne eingehende ärztliche Behandlungsmaßnahmen in überschaubarer Zeit abgeklungen seien und sie bereits vor dem Ereignis unter einer depressiven Störung und Angst gelitten habe. Deshalb stehe der Klägerin von vornherein ein geringeres Schmerzensgeld als der von ihr mit der Klage geltend gemachte Betrag von 1.200 € zu. Das Amtsgericht hat zu diesen Umständen in seinem Grundurteil keine Feststellungen getroffen, sondern ausgeführt, dass Ausmaß, Dauer und Folgen der Verletzung der Klägerin umstritten seien, weshalb die Höhe des Schmerzensgeldes - auch ein Mindestmaß - noch nicht bemessen werden könne. Hätte das Amtsgericht in seinem Grundurteil zu den die Höhe des Anspruchs betreffenden Umständen Ausführungen gemacht, wären sie unzulässig und würden für das Betragsverfahren nicht binden (vgl. , NJW-RR 2007, 138 Rn. 18; Beschluss vom - III ZR 325/15, NJW-RR 2016, 1150 Rn. 11). Dies bedeutet aber, dass diese Umstände auch nicht vom Berufungsgericht zur Bemessung des Werts des Beschwerdegegenstands der Berufung gegen das Grundurteil herangezogen werden können. Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, dass der Beklagte immer noch Berufung einlegen könne, sollte das Amtsgericht im Betragsverfahren Schmerzensgeld von mehr als 600 € ausurteilen, hat es nicht berücksichtigt, dass Gegenstand des Betragsverfahrens allein die Höhe des Anspruchs ist und Einwendungen, die den Grund des Anspruchs betreffen, dort ausgeschlossen sind (vgl. Zöller/Feskorn, ZPO, 35. Aufl., § 304 Rn. 38).

173. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:160124BVIZB45.23.0

Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 9 Nr. 14
NJW-RR 2024 S. 474 Nr. 7
GAAAJ-61863