Festsetzung des Streitwerts eines Patentnichtigkeitsverfahrens: Zu erwartende Umsätze mit einem bestimmten Arzneimittel als Grundlage; Streitwert eines Verletzungsverfahrens als maßgeblicher Anhaltspunkt für den Wert des Patents - Nichtigkeitsstreitwert V
Leitsatz
Nichtigkeitsstreitwert V
1. Die während der möglichen Restlaufzeit eines Formulierungspatents zu erwartenden Umsätze der Patentinhaberin mit einem bestimmten Arzneimittel bilden keine geeignete Grundlage für die Festsetzung des Streitwerts eines Patentnichtigkeitsverfahrens, wenn dieses Arzneimittel von der Lehre des Streitpatents keinen Gebrauch macht.
2. Der Streitwert eines Verletzungsrechtsstreits bildet grundsätzlich auch dann einen maßgeblichen Anhaltspunkt für den Wert des mit einer Nichtigkeitsklage angegriffenen Patents, wenn die Anträge im Verletzungsverfahren zurückgenommen worden sind.
Gesetze: § 51 Abs 1 GKG
Instanzenzug: Az: 3 Ni 13/22 (EP) Urteil
Gründe
1I. Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 3 143 990 (Streitpatents), das am unter Inanspruchnahme US-amerikanischer Prioritäten vom 1. April und angemeldet wurde und eine für die orale Verabreichung geeignete feste Formulierung mit 0,5 Milligramm Fingolimod, einem Füllstoff und einem Cyclodextrin enthaltenden Stabilisator betrifft.
2Die Beklagte hat sich mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen den Vertrieb eines von der Lehre des Streitpatents Gebrauch machenden Medikaments durch die Klägerin gewandt. Im Verfügungsverfahren ist der Streitwert zunächst auf 3,6 Millionen Euro und nach Rücknahme eines Teils der Anträge auf 2,4 Millionen Euro festgesetzt worden. Im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht hat die hiesige Beklagte ihre Anträge in vollem Umfang zurückgenommen.
3Das Patentgericht hat das Streitpatent mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt und den erstinstanzlichen Streitwert auf 30 Millionen Euro festgesetzt.
4Die Beklagte hat gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt.
5Sie beantragt vorab, den Streitwert für beide Instanzen auf 3,6 Millionen Euro festzusetzen.
6Die Klägerin hält eine Festsetzung auf 4,5 Millionen Euro für angemessen.
7II. Die Festsetzung des Streitwerts für die Berufungsinstanz ist in der derzeitigen Verfahrenslage gemäß § 63 Abs. 1 GKG zulässig, die Änderung der Festsetzung für die erste Instanz gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
8III. Zu Recht machen beide Parteien geltend, dass die Festsetzung des erstinstanzlichen Streitwerts durch das Patentgericht auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht.
91. Wie auch das Patentgericht im Ansatz nicht verkannt hat, ist der für die Festsetzung des Streitwerts maßgebliche gemeine Wert des mit der Nichtigkeitsklage angefochtenen Patents in Ermangelung anderer Anhaltspunkte anhand der (vorläufigen) Streitwertfestsetzung aus anhängigen Verletzungsverfahren zuzüglich eines Zuschlags von 25 % zu bemessen (vgl. nur , GRUR 2021, 1105 Rn. 10 f. - Nichtigkeitsstreitwert III).
102. Im Ansatz ebenfalls noch zutreffend ist das Patentgericht davon ausgegangen, dass eine abweichende Festsetzung möglich und geboten ist, wenn besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ein abweichender Wert ergibt.
113. Entgegen der Auffassung des Patentgerichts bilden die während der möglichen Restlaufzeit des Patents zu erwartenden Umsätze der Beklagten mit dem Medikament Gilenya im Streitfall jedoch keine geeignete Grundlage für eine abweichende Festsetzung.
12Nach dem übereinstimmenden Vortrag beider Parteien macht Gilenya - anders als die von der Klägerin angebotene Ausführungsform - von der Lehre des Streitpatents keinen Gebrauch, weil es nicht den Stabilisator Cyclodextrin enthält.
13Vor diesem Hintergrund besteht keine gesicherte Grundlage für die Annahme, dass die Umsätze mit Gilenya durch die Nichtigerklärung des Streitpatents in einem für den Streitwert des vorliegenden Verfahrens erheblichen Umfang beeinflusst werden. Der Wert des Streitpatents wird vielmehr im Wesentlichen durch die Möglichkeit bestimmt, den Vertrieb von Ausführungsformen, die von der Lehre des Streitpatents Gebrauch machen, zu unterbinden.
14Dieser Wert spiegelt sich im Streitwert des Verletzungsverfahrens wider. Anhaltspunkte, die Anlass geben könnten, von dem üblichen Zuschlag von 25 % abzuweichen, sind demgegenüber nicht ersichtlich.
15IV. Mit der Klägerin hält der Senat eine Festsetzung auf 4,5 Millionen Euro für angemessen.
161. Dieser Betrag korreliert mit dem im Verletzungsverfahren ursprünglich festgesetzten Streitwert von 3,6 Millionen Euro.
172. Dass der Streitwert des Verletzungsverfahrens später auf 2,4 Millionen Euro reduziert wurde, ist - ebenso wie die später erfolgte vollständige Rücknahme des Verfügungsantrags - demgegenüber nicht zu berücksichtigen.
18Durch die Rücknahme der Anträge ist die hiesige Beklagte nicht gehindert, ihre gegen die angegriffene Ausführungsform gerichteten Ansprüche erneut geltend zu machen. Der aus dieser Möglichkeit resultierende Wert ist mangels besonderer Anhaltspunkte anhand des ursprünglich festgesetzten Streitwerts zuzüglich des üblichen Zuschlags zu bemessen.
Bacher Hoffmann
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:230124BXZR161.23.0
Fundstelle(n):
KAAAJ-60119