Bayerisches Landesamt für Steuern - S 0353.1.1-8 St 43

Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden wegen Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO)

1. Anwendungsbereich

Die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist eine Änderungsvorschrift, die es ermöglicht, Ereignisse, die bei Erlass des Bescheides noch nicht vorgelegen haben, nachträglich steuerlich zu berücksichtigen, wenn sie in die Vergangenheit zurückwirken. Ein zunächst fehlerfreier Bescheid wird durch Eintritt eines rückwirkenden Ereignisses rechtswidrig und muss daher korrigiert werden.

Spezielle Änderungsvorschriften in den Einzelsteuergesetzen gehen der Vorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO vor (z. B Verlustrücktrag § 10d Abs. 1 S. 3 EStG oder die Änderung der Bemessungsgrundlage § 17 UStG; Bedingung und Befristung §§ 5 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 BewG).

2. Steuerliche Rückwirkung des Ereignisses

Ob einem Ereignis steuerliche Rückwirkung für die Vergangenheit zuzumessen ist, bestimmt sich nicht nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, sondern kann nur den materiellen Steuergesetzen entnommen werden ( BStBl II 1984 S. 786 und vom , BStBl II 1989 S. 957).

Bei einmaligen Steuern (z. B. GrESt oder ErbSt) stellt ein nachträglich eingetretener Sachverhalt in der Regel ein rückwirkendes Ereignis dar, weil nur der eine Steuerbescheid aufgehoben oder geändert werden kann.

Bei laufend veranlagten Steuern wirken sich Ereignisse, die nach Ablauf des Veranlagungszeitraums eintreten, regelmäßig nicht rückwirkend aus, sondern betreffen den neuen Veranlagungszeitraum. Dies gilt insbesondere für Vorgänge, die an Zu- und Abfluss von Zahlungen knüpfen.

3. Umfang der Änderung

Der (Anpassungs-) Bescheid hat lediglich die Auswirkungen des eingetretenen Ereignisses zu berücksichtigen (punktuelle Änderung). Eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ist unzulässig. Allerdings dürfen - soweit das rückwirkende Ereignis reicht - anlässlich der Änderung wegen des eingetretenen Ereignisses auch Rechtsfehler, die bei der ursprünglichen Entscheidung unterlaufen sind, korrigiert werden ( BStBl 2001 II S. 122). Daneben ist auch die Vorschrift des § 177 AO zu beachten.

4. Festsetzungsfrist

Für den Erlass, die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO). Die besondere Verjährungsfrist ist auf den Umfang der durch den Eintritt des rückwirkenden Ereignisses sich ergebenden steuerlichen Auswirkung beschränkt. Für den Fristbeginn kommt es nicht darauf an, wann das Ereignis dem Finanzamt bekannt wird.

5. Beispiele für das Nichtvorliegen von rückwirkenden Ereignissen

In den folgenden Fällen liegt ein rückwirkendes Ereignis nicht vor:

  • Änderung steuerrechtlicher Normen ( BStBl II 1991 S. 55),

  • Änderung der Rechtsprechung ( BStBl II 1996 S. 399),

  • Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht (§ 78 BVerfG).

  • Zu § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG
    Die Veräußerung eines vierten Objekts im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels (vgl. BStBl II 2000 S. 306). Die steuerliche Erfassung der stillen Reserven aus der Veräußerung der ersten drei Objekte ist aber gem. § 173 AO möglich (vgl. BStBl III 1965 S. 677).

  • Zu § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG
    Wird ein Gesellschaftsanteil gegen abgekürzte Leibrente veräußert und entscheidet sich der Steuerpflichtige für die Sofortversteuerung, stellt der Tod des Rentenberechtigten vor dem Ende der Laufzeit kein rückwirkendes Ereignis dar ( BStBl II 2000 S. 179).

  • Zu § 14 S. 1 KStG
    Die Änderung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft erfüllt bezogen auf die dem Organträger gegenüber festgesetzte Körperschaftsteuer weder die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 noch die des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ( BStBl 2004 II S. 539).

  • Zu § 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1 UStG
    Der nachträgliche Verzicht auf die Steuerfreiheit einer Grundstückslieferung ist kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO für die Steuerfestsetzung des Veräußerers. Weder die Ausgabe einer Rechnung mit Umsatzsteuer noch die Änderung durchgeführter zivilrechtlicher Vereinbarungen (auch die nach dem wegen § 9 Abs. 3 Satz 2 UStG notariell beurkundeten Vertragsänderungen bzw- ergänzungen) sind als rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu beurteilen, das die Unanfechtbarkeit durchbricht.

    Wenn ein Wahlrecht wie der Verzicht auf die Steuerbefreiung der Grundstückslieferung (§ 4 Nr. 9 Buchst. a, § 9 Abs. 1 UStG) oder der Widerruf des Verzichts nur zeitlich begrenzt bis zur Bestandskraft (oder Änderbarkeit nach § 164 Abs. 2 AO) der Steuerfestsetzung des Lieferers oder des Abnehmers ausgeübt werden darf, ist die nachträgliche Ausübung dieses Wahlrechts kein Ereignis mit steuerrechtlicher Rückwirkung i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ( BStBl II 2003 S. 175).

6. § 175 Abs. 2 AO

§ 175 Abs. 2 AO fingiert die Rückwirkung eines Ereignisses. Von der Vorschrift werden Fälle erfasst, in denen zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung die - an einen bestimmten Zeitraum anknüpfenden - Voraussetzungen für die Gewährung einer Vergünstigung vorgelegen haben, die jedoch später wegfallen. § 175 Abs. 2 AO ist vornehmlich anzuwenden, wenn Wirtschaftsgüter eine bestimmte Zeit im Betriebsvermögen verbleiben müssen (z. B. für Sonderabschreibungen) oder wenn Steuervergünstigungen zur Erfüllung eines bestimmten gesetzgeberischen Zwecks gewährt werden und die Voraussetzungen entweder im Gesetz selbst benannt sind oder durch besonderen Verwaltungsakt festgestellt wird, dass sie eine Voraussetzung für die Steuervergünstigung darstellen.

7. Nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung; § 175 Abs. 2 S. 2 AO

Beweismittel, die ausschließlich dazu dienen, eine steuerrechtlich relevante Tatsache zu belegen und die als solche keinen Eingang in eine materielle Steuerrechtsnorm gefunden haben, sind auch dann kein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs.1 S. 1 Nr. 2 AO wenn sie erst nach Bestandskraft des Bescheides beschafft werden konnten; ggf. kommt aber eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO in Betracht.

Hinweis:

Die bisherige Karte 2 zu § 175 AO (Kontroll-Nr.: 7/2005) wurde aktualisiert.

Bayerisches Landesamt für Steuern v. - S 0353.1.1-8 St 43

Fundstelle(n):
AO-Kartei BY AO § 175 Karte Karte 2 - Kontroll-Nr.: 1/2024 -
XAAAJ-57839