BSG Beschluss v. - B 4 AS 44/23 C

Sozialgerichtliches Verfahren - Anhörungsrüge - Berufungsverfahren - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - Abweisung einer unzulässig geänderten Klage

Gesetze: Art 6 Abs 1 MRK, § 73a Abs 1 S 1 SGG, § 99 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 178a SGG, § 114 ZPO, § 118 ZPO, § 343 ZPO

Instanzenzug: Az: S 37 AS 3691/16vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 5 AS 1680/19 Beschlussvorgehend Az: B 4 AS 46/23 BH Beschluss

Gründe

11. Auf die zulässige und begründete sinngemäße Anhörungsrüge der Klägerin war das Verfahren fortzuführen (§ 178a Abs 5 Satz 1 SGG), weil sich aus dem Vorbringen der Klägerin ergibt, dass sie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) fristgerecht gestellt hat.

22. Der Beschluss des Senats vom ist aber gemäß § 178a Abs 5 Satz 4 SGG iVm § 343 ZPO (im Ergebnis) aufrechtzuerhalten, weil der Antrag auf Bewilligung von PKH mangels Erfolgsaussichten abzulehnen ist.

3Nach § 73a Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Nicht ausreichend ist nur eine entfernte Erfolgsaussicht ( ua - BVerfGE 81, 347 [357]; BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 2869/11 - BVerfGK 19, 384 [386]). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG auch einer Besserstellung desjenigen, der seine Prozessführung nicht aus eigenen Mitteln bestreiten muss und daher von vorneherein kein Kostenrisiko trägt, gegenüber dem Bemittelten, der sein Kostenrisiko wägen muss, entgegensteht (BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 2455/08 - BVerfGK 16, 406 [408]; BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 1974/08 - SozR 4-1500 § 73a Nr 7 RdNr 13; BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 2735/11 - juris RdNr 7; BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 2869/11 - BVerfGK 19, 384 [386]). Muss aber PKH selbst nicht schon immer dann gewährt werden, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich entschieden ist (BVerfG [Kammer] vom - 1 BvR 149/16 - juris RdNr 14), ist der Antrag auf PKH jedenfalls insbesondere dann abzulehnen, wenn eine Rechtsfrage bereits höchstrichterlich entschieden ist.

4Nach diesen Maßstäben liegen keine hinreichenden Erfolgsaussichten vor. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG) in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin erfolgreich zu begründen. Da kein Anspruch auf Bewilligung von PKH besteht, sind auch die Anträge auf Beiordnung eines Rechtsanwalts abzulehnen (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 ZPO).

5Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3).

6Solche Zulassungsgründe sind nach summarischer Prüfung des Streitstoffs auf der Grundlage des Inhalts der Gerichtsakten sowie unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin nicht erkennbar.

7Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist nur anzunehmen, wenn eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Dies ist hier nicht der Fall. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen, weil die Klage aufgrund anderweitiger Rechtshängigkeit teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet sei, weil die Voraussetzungen des § 44 SGB X und des § 22 Abs 1 SGB II nicht vorlägen. Dies betrifft die Umstände des Einzelfalls, wirft aber keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Gleiches gilt für die Beurteilung der Klageerweiterung, die das LSG für unzulässig erachtet hat.

8Es ist auch nicht erkennbar, dass die Entscheidung des LSG von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht, weshalb eine Divergenzrüge keine Aussicht auf Erfolg verspricht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).

9Nach Aktenlage ist schließlich nicht ersichtlich, dass ein Verfahrensmangel geltend gemacht werden könnte, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG). Insbesondere stellt es keinen Verfahrensmangel dar, dass das LSG auch über die - nach seiner Ansicht vorliegende - Klageerweiterung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG entschieden hat (allgemein zu den Voraussetzungen nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG - juris RdNr 7 f mwN). Zwar ermächtigt diese Norm das LSG nur, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Dies schließt aber zumindest die Möglichkeit ein, zugleich auch eine im Berufungsverfahren unzulässig geänderte Klage abzuweisen ( - juris RdNr 6; - juris RdNr 6; - juris RdNr 11; vgl auch - juris RdNr 2 f). Anderenfalls hätte es ein Kläger in der Hand, durch jede noch so sinnlose Klageänderung eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG zu verhindern, obwohl diese Verfahrensweise gerade nicht zur Disposition des Klägers steht (vgl zu Letzterem - BSGE 129, 106 = SozR 4-2400 § 7 Nr 45, RdNr 11; - juris RdNr 4; BH - juris RdNr 7). Im Übrigen ist auch sonst nach der Rechtsprechung des BSG das LSG nicht darauf beschränkt, die Berufung zurückzuweisen, sondern kann durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG auch darüber entscheiden, ob sich das Verfahren durch Berufungsrücknahme oder Vergleichsschluss erledigt hat ( - juris RdNr 7; BH - juris RdNr 13; implizit auch - juris RdNr 10 ff), und über Urteilsergänzungsanträge ( - juris RdNr 10 mwN), obwohl der Tenor auch in diesen Fällen nicht auf die Zurückweisung der Berufung gerichtet ist.

10Diese Rechtsprechung des BSG kollidiert auch nicht mit Art 6 Abs 1 EMRK. Unabhängig davon, ob der Anwendungsbereich dieser Norm ("Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine […] strafrechtliche Anklage") bei Streitigkeiten nach dem SGB II überhaupt eröffnet ist, und abgesehen davon, dass die EMRK nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ( - BVerfGE 111, 307 [317]; - BVerfGE 151, 1 [26 f., RdNr 61] mwN) und damit keinen höheren Rang als § 153 Abs 4 SGG hat, etabliert Art 6 Abs 1 EMRK keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung (EGMR vom - 33060/10 - NJW 2017, 2455 RdNr 70). Vielmehr ist in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt, dass es Verfahren geben kann, die einer mündlichen Verhandlung nicht bedürfen, zum Beispiel wenn es nicht um die Glaubwürdigkeit oder um bestrittene Tatsachen geht und die Gerichte fair und angemessen auf der Grundlage des Parteivortrags oder anderer schriftlicher Unterlagen entscheiden können (EGMR vom - 33060/10 - NJW 2017, 2455 RdNr 70 mwN). Gemessen daran ist bei der bloßen - und im Beurteilungsspielraum des Gerichts stehenden (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 99 RdNr 11 mwN) - Entscheidung der reinen Rechtsfrage, ob eine Klageänderung sachdienlich ist (§ 99 Abs 1 Var 2 SGG), eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger - bei Verneinung der Sachdienlichkeit - nicht gehindert ist, hinsichtlich seines zusätzlichen Antrags eine neue, eigenständige Klage zu erheben, weil über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags nicht entschieden ist, wenn bereits die Zulässigkeit der Klageänderung verneint worden ist. Dies unterscheidet die vorliegende Konstellation auch von den Fällen, in denen ein neuer Verwaltungsakt gemäß § 153 Abs 1 iVm § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens wird.

11Es bedurfte auch keiner erneuten Anhörungsmitteilung, nachdem die Anhörungsmitteilung vom der Klägerin am nächsten Tag zugestellt wurde, der Beschluss des LSG aber (erst) auf den datiert. Anhörungsmitteilungen verlieren nicht allein durch Zeitablauf ihre Wirksamkeit (vgl 2 C 24.83 - juris RdNr 16; 9 B 1011.98 - juris RdNr 5 f; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 153 RdNr 165 ff; zur Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheids B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 105 RdNr 11 mwN).

12Allerdings ist zweifelhaft, ob das LSG jedenfalls für die Jahre 2012 bis 2014 zu Recht davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem Antrag der Klägerin, "die Differenz der Kosten für die Unterkunft gem. § 22 SGB II für die Jahre 2011 bis 2014 mit abschließender Entscheidung in voller Höhe auszugleichen", um eine Klageänderung handelt. Die Klägerin hat damit keinen neuen Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt, sondern lediglich eine zusätzliche Begründung für ihr Begehren, höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu erhalten. Ob es sich hierbei jedenfalls wegen § 99 Abs 3 Nr 1 und Nr 2 SGG nicht um eine Klageänderung gehandelt hat und ob in einer etwaigen unzutreffenden Beurteilung durch das LSG ein Verfahrensmangel liegt, weil das LSG hierüber im Rahmen der Sachentscheidung hätte befinden müssen, kann dahinstehen. Denn jedenfalls würde die Entscheidung des LSG nicht auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Das LSG hat für die Verneinung eines Anspruchs auf (höhere) Leistungen für Unterkunft und Heizung selbständig tragend darauf abgestellt, dass die Klägerin zwischen Januar 2007 und Oktober 2015 mangels ernstgemeinter Mietforderung keine Kosten für Unterkunft und Heizung hatte; auf die Frage, in welcher Höhe Unterkunftskosten angemessen sind, kann es nicht ankommen, wenn bereits die Entstehung von Unterkunftskosten dem Grunde nach verneint wird.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:071223BB4AS4423C0

Fundstelle(n):
XAAAJ-57797