Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Verpflichtungen des Steuerpflichtigen – Sorgfaltspflicht – Beweislast – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit – Vorrang des Unionsrechts – Widerspruch zwischen der Rechtsprechung eines nationalen Gerichts und dem Unionsrecht
Leitsatz
1. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er das nationale Gericht, das von seiner Befugnis aus Art. 267 AEUV Gebrauch gemacht hat, verpflichtet, die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn es der Auffassung ist, dass diese Beurteilungen in Anbetracht der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses im Sinne von Art. 99 seiner Verfahrensordnung vorgenommen hat, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Dieser Grundsatz steht jedoch einer nationalen Regelung nicht entgegen, die sich darauf beschränkt, die nationalen Untergerichte zu verpflichten, jede Abweichung von diesen Beurteilungen zu begründen.
2. Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis nicht entgegenstehen, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt, dass Rechnungen für diese Erwerbe aufgrund von Umständen, die einen diesem Steuerpflichtigen zuzurechnenden Mangel an Sorgfalt belegen, nicht glaubhaft seien, wobei diese Umstände grundsätzlich anhand der von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen beurteilt werden, sofern
diese Praxis und diese Leitlinien nicht die Verpflichtung der Steuerverwaltung in Frage stellen, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass dieser Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen,
diese Praxis und diese Leitlinien diesen Steuerpflichtigen nicht mit komplexen und umfassenden Überprüfungen in Bezug auf seinen Vertragspartner belasten,
die von der Steuerverwaltung angewandten Anforderungen denen dieser Leitlinien entsprechen und
die veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen eindeutig formuliert waren und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar war.
3. Die Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass
sie, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass dieser an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerverwaltung auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei,
es der Steuerverwaltung obliegt, zum einen die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung genau zu bestimmen und die betrügerischen Handlungen nachzuweisen und zum anderen zu belegen, dass der Steuerpflichtige aktiv an dieser Steuerhinterziehung beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen in diese Hinterziehung einbezogen war, was jedoch nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.
Gesetze: RL 2006/112/EG
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts sowie von Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Global Ink Trade Kft. und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von Gegenständen durch die Steuerverwaltung.
Rechtlicher Rahmen
3 Nach Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
4 Art. 168 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
5 Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie legt fest, dass der Steuerpflichtige, um sein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß Art. 168 Buchst. a dieser Richtlinie ausüben zu können, eine gemäß deren Anforderungen ausgestellte Rechnung besitzen muss.
6 Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
7 Global Ink Trade ist in Ungarn im Großhandel tätig. Im Zeitraum von Juli 2012 bis Juni 2013 erwarb dieses Unternehmen verschiedene Büromaterialien. Den meisten Rechnungen über diese Erwerbe ist zu entnehmen, dass der Lieferer der betreffenden Gegenstände das ungarische Unternehmen Office Builder Kft. war.
8 Im Zuge von bei Office Builder durchgeführten Prüfungen stellte die Steuerverwaltung u. a. fest, dass diese Gesellschaft keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt habe und ihren steuerlichen Pflichten nicht nachgekommen sei. Der im März 2013 in einer Justizvollzugsanstalt inhaftierte Geschäftsführer dieses Unternehmens habe bestritten, irgendeine Rechnung ausgestellt und irgendeine Korrespondenz mit Global Ink Trade geführt zu haben. Außerdem stellte die Steuerverwaltung fest, dass die für den Austausch zwischen Office Builder und Global Ink Trade verwendete E‑Mail-Adresse nicht mit der offiziellen E‑Mail-Adresse von Office Builder übereingestimmt habe.
9 Die Steuerverwaltung befragte auch Zeugen, die bestätigt hätten, dass die betreffenden Gegenstände an Global Ink Trade geliefert worden seien. Der Geschäftsführer von Global Ink Trade habe erklärt, dass er aufgrund einer Anzeige von Office Builder in einer Lokalzeitung die Geschäftsbeziehung zu diesem Unternehmen aufgenommen, dessen Daten im Handelsregister überprüft und sich persönlich mit einem Vertreter von Office Builder getroffen habe. Der gesamte weitere Austausch habe jedoch per E‑Mail stattgefunden.
10 Auf der Grundlage der erhobenen Beweise vertrat die Steuerverwaltung die Auffassung, dass die angeblich von Office Builder an Global Ink Trade ausgestellten Rechnungen nicht glaubhaft seien, da der Geschäftsführer von Office Builder ausdrücklich bestritten habe, sie ausgestellt zu haben. Die Steuerverwaltung schloss daraus, dass es zwischen diesen beiden Unternehmen nicht zu den in diesen Rechnungen beschriebenen Umsätzen gekommen sei. Folglich versagte sie Global Ink Trade das Recht auf Abzug der in diesen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer u. a. mit der Begründung, dass Global Ink Trade bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe, insbesondere indem sie es versäumt habe, sich ausreichend über die tatsächliche Identität ihres Lieferers und die Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten durch diesen zu informieren, so dass sie sich der passiven Steuerhinterziehung schuldig gemacht habe.
11 Gegen diese Entscheidung erhob Global Ink Trade Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, und machte geltend, die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug in Bezug auf die in Rede stehenden Rechnungen durch die Steuerverwaltung beruhe auf nicht nachgewiesenen Umständen und die Steuerverwaltung habe verkannt, dass sie die Beweislast trage.
12 In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht fest, dass die einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie vom Gerichtshof in ähnlichen, Ungarn betreffenden Rechtssachen in den Beschlüssen vom , Vikingo Fővállalkozó (C‑610/19, EU:C:2020:673, im Folgenden: Beschluss Vikingo Fővállalkozó), und Crewprint (C‑611/19, EU:C:2020:674, im Folgenden: Beschluss Crewprint) ausgelegt worden seien. Dem vorlegenden Gericht zufolge wendet die Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) mit der Begründung, dass diese Beschlüsse keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthielten, jedoch weiterhin ihre diesen Beschlüssen vorausgehende Rechtsprechung an, die das Recht auf Vorsteuerabzug durch Anforderungen, die keine Grundlage in der Mehrwertsteuerrichtlinie hätten, zu beschränken scheine.
13 Insbesondere habe die Rechtsprechung der Kúria (Oberstes Gericht) zur Folge, dass jeder Steuerpflichtige komplexe und umfassende Überprüfungen in Bezug auf seine Lieferer vornehmen müsse, u. a. dazu, ob diese ihren eigenen Verpflichtungen zur Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer nachgekommen seien, obwohl aus dem Beschluss Vikingo Fővállalkozó hervorgehe, dass diese Prüfungen nicht dem Steuerpflichtigen auferlegt werden dürften, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausübe. Die ungarischen Gerichte verträten daher unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu ziehenden Konsequenzen. Insoweit wende auch die Steuerverwaltung weiterhin Anforderungen an, die mit den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar seien. Diese Anforderungen stünden außerdem im Widerspruch zu den von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen, was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt. Zu diesen Anforderungen gehöre u. a. die Verpflichtung, persönliche Kontakte zu jedem Lieferer zu unterhalten und ausschließlich dessen offizielle E‑Mail-Adresse zu verwenden.
14 Da das vorlegende Gericht grundsätzlich an die Urteile der Kúria (Oberstes Gericht) gebunden ist und verpflichtet ist, jede Abweichung seiner rechtlichen Beurteilung von diesen Urteilen, die als verbindliche Präzedenzfälle gelten, zu begründen, fragt es sich, ob es die Urteile der Kúria (Oberstes Gericht), die es für unvereinbar mit den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie hält, wie sie vom Gerichtshof in den Beschlüssen Vikingo Fővállalkozó und Crewprint ausgelegt wurden, im Hinblick auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts tatsächlich unberücksichtigt lassen muss.
15 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt es gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, wenn das letztinstanzliche Gericht eines Mitgliedstaats eine Entscheidung des Gerichtshofs, die in Form eines Beschlusses und in Antwort auf ein Vorabentscheidungsersuchen ergangen ist, dessen Gegenstand gerade die von dem letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gericht entwickelte Rechtsprechung war, dahin auslegt, dass diese Entscheidung kein neues Element enthalte, das zu einer Verwerfung früherer Entscheidungen des Gerichtshofs bzw. einer Änderung der bisherigen Rechtsprechung des letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichts führe bzw. führen könne?
Sind der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und das in Art. 47 der Charta der Grundrechte verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dahin auszulegen, dass der Grundsatz des Vorrangs der Entscheidungen des Gerichtshofs auch dann zur Anwendung kommt, wenn zugleich das letztinstanzliche Gericht eines Mitgliedstaats auf seine vorherigen Urteile als Präzedenzfall verweist? Ist die Vorlagefrage, auch im Licht von Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, anders zu beantworten, wenn die Entscheidung des Gerichtshofs in Form eines Beschlusses ergangen ist?
Kann aufgrund der allgemeinen Überprüfungspflicht des Steuerpflichtigen und unabhängig von der Durchführung und der Art der in den Rechnungen genannten Umsätze nach Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie nach den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der steuerlichen Neutralität als Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug – ohne dass in dem Mitgliedstaat eine einschlägige Rechtsvorschrift existiert – vom Steuerpflichtigen verlangt werden, dass er mit dem Rechnungsaussteller persönlichen Kontakt unterhält oder den Lieferer nur über die offiziell mitgeteilte E‑Mail-Adresse kontaktiert? Können diese Umstände unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem der Steuerpflichtige die entsprechenden Überprüfungen vor Aufnahme der Geschäftsbeziehung vornahm, noch nicht vorlagen, sondern Elemente der zwischen den Parteien bestehenden Geschäftsbeziehung sind, als objektiver Nachweis eines Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht des Steuerpflichtigen angesehen werden?
Sind die Auslegung des Rechts und die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach einem Steuerpflichtigen, der über eine mit der Mehrwertsteuerrichtlinie im Einklang stehende Rechnung verfügt, das Recht auf Vorsteuerabzug deshalb versagt wird, weil er im Geschäftsverkehr nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe, da er mit seinem Verhalten nicht nachgewiesen habe, dass sich seine Tätigkeit nicht lediglich auf den Empfang den formalen Voraussetzungen entsprechender Rechnungen beschränkt habe, selbst wenn der Steuerpflichtige alle Unterlagen in Bezug auf die strittigen Umsätze vorgelegt und die Steuerverwaltung andere vom Steuerpflichtigen während des Steuerverfahrens vorgeschlagene Nachweise abgelehnt hat, mit den genannten Artikeln der Mehrwertsteuerrichtlinie, dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und vor allem mit der im Rahmen der Auslegung dieser Bestimmungen entwickelten Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar, wonach die Beweislast der Steuerverwaltung obliegt?
Kann nach den genannten Artikeln der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz der Rechtssicherheit eine im Rahmen der Prüfung der Sorgfaltspflicht getroffene Feststellung, dass der Rechnungsaussteller keine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt habe, als objektiver Umstand angesehen werden, wenn nach Ansicht der Steuerverwaltung die tatsächliche Erbringung eines Umsatzes, und damit seine Existenz – der durch Rechnungen, Verträge und andere Buchungsbelege sowie durch den Schriftwechsel belegt und darüber hinaus durch das Lagerunternehmen sowie Erklärungen des Geschäftsführers und eines Mitarbeiters des Steuerpflichtigen bestätigt wurde – nicht nachgewiesen wurde und die Steuerverwaltung sich hierbei allein auf die Erklärung des Geschäftsführers des Lieferunternehmens, der die Existenz des Umsatzes bestreitet, beruft, ohne die Umstände, unter denen er die Erklärung abgegeben hat, seine Interessen oder den Umstand zu berücksichtigen, dass der Erklärende nach Aktenlage das Unternehmen selbst gegründet und nach den vorliegenden Informationen ein Bevollmächtigter im Namen des Unternehmens gehandelt hatte?
Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie über den Vorsteuerabzug dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem die Steuerverwaltung während des Steuerverfahrens feststellt, dass die in den Rechnungen angegebenen Gegenstände ihren Ursprung in der Europäischen Gemeinschaft haben und der Steuerpflichtige das zweite Mitglied einer Lieferkette ist, die Gestaltung dieses Modells – unter Berücksichtigung des Umstands, dass Gegenstände mit Ursprung in der Gemeinschaft von der Mehrwertsteuer befreit sind und der erste ungarische Erwerber somit nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, sondern nur das zweite Mitglied der Kette – für sich genommen als objektiver Umstand ausreicht, um eine Steuerhinterziehung festzustellen, oder hat die Steuerverwaltung auch in diesem Fall anhand objektiver Umstände nachzuweisen, welches Mitglied oder welche Mitglieder der Kette Steuerhinterziehung begangen haben, wie sie dabei vorgegangen sind und ob der Steuerpflichtige davon wusste oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt davon hätte wissen müssen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
16 Soweit das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seinen ersten beiden Vorlagefragen nach der Auslegung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte fragt, ist zunächst festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung an die Urteile der höheren nationalen Gerichte gebunden fühlt, auch wenn diese rechtliche Beurteilungen enthalten, die es für mit dem Unionsrecht unvereinbar hält.
17 Allerdings legt das vorlegende Gericht nicht den Zusammenhang dar, den es zwischen Art. 47 der Charta der Grundrechte, in dem das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf verankert ist, und dieser nationalen Regelung herstellt. Ferner enthält die Vorlageentscheidung, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, nichts, was das vorlegende Gericht davon abhalten könnte, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn es Zweifel an der Vereinbarkeit der betreffenden nationalen Rechtsprechung mit dem Unionsrecht hat. Unter diesen Umständen sind die Fragen nur im Licht des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts zu beantworten.
18 Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen ersten beiden Vorlagefragen, die zusammen zu beantworten sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts für die Untergerichte, die verpflichtet sind, jede Abweichung von diesen Beurteilungen zu begründen, bindend sind, obwohl diese nationalen Untergerichte unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts der Auffassung sind, dass diese Beurteilungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
Zur Zulässigkeit
19 Die ungarische Regierung sieht diese Fragen als unzulässig an. Mit ihnen versuche das vorlegende Gericht nämlich, die Entscheidungen in Frage zu stellen, die von der Kúria (Oberstes Gericht) in den Rechtssachen erlassen worden seien, die zu den Beschlüssen Vikingo Fővállalkozó und Crewprint geführt hätten, und zwar mit der Begründung, dass diese Entscheidungen nicht mit diesen Beschlüssen vereinbar seien. Somit seien diese Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich, da dieser in keinem Zusammenhang mit diesen Rechtssachen stehe.
20 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , Bezirkshauptmannschaft Feldkirch, C‑55/22, EU:C:2023:670, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht auf einen potenziellen Widerspruch zwischen den Entscheidungen der Kúria (Oberstes Gericht) und den Beschlüssen Vikingo Fővállalkozó und Crewprint hin. Da allerdings das vorlegende Gericht der Ansicht ist, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits auf die Erkenntnisse aus diesen Beschlüssen Bezug nehmen zu müssen, es nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung aber auch an die Entscheidungen der Kúria (Oberstes Gericht) gebunden ist, weisen die Vorlagefragen einen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits auf und sind nicht hypothetisch. Zudem verfügt der Gerichtshof über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der vorgelegten Fragen erforderlich sind.
22 Folglich sind die ersten beiden Fragen zulässig.
Zu den Vorlagefragen
23 Nach ständiger Rechtsprechung besagt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf. Folglich kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 77, und vom , Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Gericht, das von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens durch die Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften durch den Gerichtshof gebunden ist und daher unter Umständen, wenn es angesichts der Auslegung durch den Gerichtshof der Auffassung ist, dass die Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht, von ihr abweichen muss, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 132 und 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Unter diesen Umständen umfasst das Erfordernis, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, die Verpflichtung dieses nationalen Gerichts, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist (Urteil vom , Dopravní podnik hl. m. Prahy, C‑107/19, EU:C:2021:722, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Geht zudem aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits eine eindeutige Antwort auf eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts hervor, muss dieses nationale Gericht alles Erforderliche tun, damit diese Auslegung umgesetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Grossmania, C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Insoweit ist es, wie die ungarische Regierung und die Kommission festgestellt haben, unerheblich, ob die Auslegung durch den Gerichtshof in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung erfolgt. In keiner Bestimmung der Verträge, der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union oder dieser Verfahrensordnung wird nämlich im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zwischen Urteilen und mit Gründen versehenen Beschlüssen hinsichtlich ihrer Tragweite und ihrer Wirkungen unterschieden. Somit darf ein nationales Gericht einen Beschluss nicht mit der Begründung unberücksichtigt lassen, dass dieser anders als ein Urteil vermeintlich keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthalte.
28 Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht daher für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits an die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof gebunden und wird gegebenenfalls die von der Kúria (Oberstes Gericht) in früheren Entscheidungen, die nach nationalem Recht als verbindliche Präzedenzfälle gelten, vorgenommene Beurteilung unberücksichtigt lassen müssen, wenn es in Anbetracht dieser Auslegung der Auffassung ist, dass diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
29 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts und der ungarischen Regierung geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung dieses Gericht berechtigt, von früheren Entscheidungen der Kúria (Oberstes Gericht) abzuweichen, auch wenn diese verbindliche Präzedenzwirkung haben, insbesondere, wenn das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass diese Entscheidungen mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, und begründet, wie es zu dieser Beurteilung kommt. In einem solchen Kontext erscheint die dem vorlegenden Gericht insoweit obliegende Begründungspflicht für sich genommen nicht geeignet, gegen Vorrang des Unionsrechts zu verstoßen, da die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass eine solche Pflicht ein Hindernis darstellen würde, das diesem Gericht die Ausübung der Befugnis, von früheren Entscheidungen der Kúria (Oberstes Gericht) abzuweichen, übermäßig erschweren könnte.
30 Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er das nationale Gericht, das von seiner Befugnis aus Art. 267 AEUV Gebrauch gemacht hat, verpflichtet, die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn es der Auffassung ist, dass diese Beurteilungen in Anbetracht der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses im Sinne von Art. 99 seiner Verfahrensordnung vorgenommen hat, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Dieser Grundsatz steht jedoch einer nationalen Regelung nicht entgegen, die sich darauf beschränkt, die nationalen Untergerichte zu verpflichten, jede Abweichung von diesen Beurteilungen zu begründen.
Zur dritten, zur vierten und zur fünften Frage
31 Mit seinen Fragen 3 bis 5, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis entgegenstehen, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt, dass Rechnungen für diese Erwerbe aufgrund von Umständen, die einen diesem Steuerpflichtigen zuzurechnenden Mangel an Sorgfalt belegen, nicht glaubhaft seien, wobei diese Umstände grundsätzlich anhand der von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen beurteilt werden.
32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, sofern die materiellen wie auch formalen Anforderungen oder Bedingungen, denen dieses Recht unterliegt, von den Steuerpflichtigen, die es ausüben wollen, eingehalten werden (Urteil vom , Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Hinsichtlich der materiellen Anforderungen oder Bedingungen, denen das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt, ist es, um dieses Recht geltend machen zu können, nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zum einen erforderlich, dass der Betroffene „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie ist, und zum anderen, dass die zur Begründung dieses Abzugsrechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht werden. Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die formellen Anforderungen und Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Anforderungen ausgestellte Rechnung besitzen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Diese materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug sind nur dann erfüllt, wenn die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen, auf die sich die Rechnung bezieht, tatsächlich bewirkt wurden. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Prüfung steuerpflichtiger Umsätze gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts anhand einer umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist (Beschluss vom , A.T.S. 2003, C‑289/22, EU:C:2023:26, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil vom , Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie [Mehrwertsteuer – Fiktiver Erwerb], C‑114/22, EU:C:2023:430, Rn. 36).
35 Allerdings kann dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in einer Weise geltend gemacht wird, die eine Steuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch darstellt. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Auch wenn die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, haben die nationalen Behörden und Gerichte dieses Recht daher zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass es in einer Weise geltend gemacht wird, die eine Steuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch darstellt (Urteil vom , Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie [Mehrwertsteuer – Fiktiver Erwerb], C‑114/22, EU:C:2023:430, Rn. 40 und 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 In Bezug auf Steuerhinterziehung ist das Recht auf Vorsteuerabzug nach ständiger Rechtsprechung nicht nur dann zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch dann, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war (Urteil vom , Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie [Mehrwertsteuer – Fiktiver Erwerb], C‑114/22, EU:C:2023:430, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme von dem Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es den Steuerbehörden, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war. Es obliegt sodann den nationalen Gerichten, zu prüfen, ob die betreffenden Steuerbehörden diese objektiven Umstände nachgewiesen haben (Urteil vom , Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie [Mehrwertsteuer – Fiktiver Erwerb], C‑114/22, EU:C:2023:430, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Da das Unionsrecht insoweit keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Urteil vom , Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 In einem solchen Kontext hängen die vom Steuerpflichtigen verlangte Sorgfalt und die Maßnahmen, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er sich mit seinem Erwerb nicht an einem Umsatz beteiligt, der in eine von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Steuerhinterziehung einbezogen ist, von den Umständen des Einzelfalls ab und insbesondere davon, ob für den Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt des von ihm getätigten Erwerbs Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vorliegen. Bei Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Steuerhinterziehung kann vom Steuerpflichtigen eine erhöhte Sorgfalt erwartet werden. Es kann jedoch nicht von ihm verlangt werden, dass er komplexe und umfassende Überprüfungen durchführt, wie sie von der Steuerverwaltung vorgenommen werden können (Urteil vom , Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 52, und Beschluss vom , A.T.S. 2003, C‑289/22, EU:C:2023:26, Rn. 70).
40 Die Frage, ob der Steuerpflichtige mit hinreichender Sorgfalt gehandelt hat, fällt unter die Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und damit in die alleinige Zuständigkeit der nationalen Gerichte. Es ist Sache dieser Gerichte, zu beurteilen, ob der Steuerpflichtige in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hinreichend sorgfältig gehandelt und die Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm unter diesen Umständen vernünftigerweise verlangt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Insoweit hindert die Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht daran, eine Regelung oder Leitlinien zu erlassen, um das von einem Steuerpflichtigen zu verlangende Maß an Sorgfalt zu präzisieren und der Steuerverwaltung eine Orientierungshilfe für ihre Beurteilung zu geben, indem sie diesbezügliche Kriterien vorsehen. Gemäß Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten nämlich über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, wenn sie diese für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.
42 Nach ständiger Rechtsprechung darf eine solche Maßnahme jedoch nicht dazu führen, dass sie systematisch das Recht auf Vorsteuerabzug und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso wenig darf sie die Wirksamkeit des Unionsrechts in Bezug auf die Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug beeinträchtigen.
43 Somit darf diese Maßnahme nicht die in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannte Verpflichtung der Steuerbehörden in Frage stellen, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass ein Steuerpflichtiger eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen. Ebenso darf sie nach der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht dazu führen, diesen Steuerpflichtigen mit komplexen und umfassenden Überprüfungen in Bezug auf seinen Lieferer zu belasten.
44 Stützt sich die Steuerverwaltung insbesondere auf Unregelmäßigkeiten in der Sphäre des Rechnungsausstellers, darf die Beweiswürdigung daher nicht dazu führen, dass der Steuerpflichtige, der Empfänger der Rechnung ist, mittelbar verpflichtet wird, Überprüfungen bei seinem Vertragspartner vorzunehmen, die ihm grundsätzlich nicht obliegen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom , Hardimpex, C‑444/12, EU:C:2013:318, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Schließlich sollte die Durchführung einer Maßnahme wie der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannten mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang stehen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von den Organen der Europäischen Union, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen, beachtet werden müssen (Urteil vom , Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Wie der Gerichtshof bereits wiederholt entschieden hat, ergibt sich daraus u. a., dass die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein müssen, und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss, wobei dieses Gebot der Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Ebenso müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, so dass den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht wird, und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren Einhaltung sicherzustellen (Urteil vom , Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass Global Ink Trade das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihr gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt worden ist, dass Rechnungen über diese Gegenstände u. a. deshalb nicht glaubhaft seien, weil die tatsächliche Identität des Lieferers der Gegenstände unklar sei. In diesem Zusammenhang scheint sich die Steuerverwaltung auch darauf berufen zu haben, dass der Geschäftsführer des diese Rechnungen ausstellenden Unternehmens gegen seine Verpflichtungen zur Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer verstoßen habe, was Global Ink Trade angeblich hätte bekannt sein müssen. Die Steuerverwaltung war insoweit der Ansicht, Global Ink Trade habe sich der passiven Steuerhinterziehung schuldig gemacht.
48 Wie sich aus der in den Rn. 37 und 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Steuerverwaltung die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, sowie zu beurteilen, ob der Steuerpflichtige in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hinreichend sorgfältig gehandelt und die Maßnahmen ergriffen hat, die von ihm unter diesen Umständen vernünftigerweise verlangt werden können.
49 Zwar kann bei Vorliegen von Anhaltspunkten für eine Mehrwertsteuerhinterziehung von einem solchen Steuerpflichtigen eine erhöhte Sorgfalt erwartet werden, doch obliegt es dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die Anforderungen der Steuerverwaltung nicht im Sinne der in den Rn. 39 und 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung bewirken, dass dieser Steuerpflichtige verpflichtet ist, komplexe und umfassende Überprüfungen in Bezug auf seinen Lieferer vorzunehmen, indem faktisch die Durchführung von der Steuerverwaltung obliegenden Kontrollmaßnahmen auf diesen Steuerpflichtigen übertragen wird.
50 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerverwaltung von einem Steuerpflichtigen, der das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen kann, zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen, für die die Ausübung dieses Rechts geltend gemacht wird, seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss Vikingo Fővállalkozó, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit angeht, hat das vorlegende Gericht noch zu prüfen, ob die Steuerverwaltung diesen Grundsatz bei der Ausübung der ihr übertragenen Befugnisse beachtet hat. In diesem Zusammenhang hat es zu prüfen, ob die von der Steuerverwaltung veröffentlichten und auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Leitlinien für die Steuerpflichtigen eindeutig formuliert waren, ob ihre Anwendung für die Betroffenen im Sinne der in den Rn. 45 und 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vorhersehbar war und ob die von der Steuerverwaltung angewandten Anforderungen nicht gegen diese Leitlinien verstießen.
52 Folglich ist auf die Fragen 3 bis 5 zu antworten, dass Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis nicht entgegenstehen, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt, dass Rechnungen für diese Erwerbe aufgrund von Umständen, die einen diesem Steuerpflichtigen zuzurechnenden Mangel an Sorgfalt belegen, nicht glaubhaft seien, wobei diese Umstände grundsätzlich anhand der von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen beurteilt werden, sofern
diese Praxis und diese Leitlinien nicht die Verpflichtung der Steuerverwaltung in Frage stellen, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass dieser Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen,
diese Praxis und diese Leitlinien diesen Steuerpflichtigen nicht mit komplexen und umfassenden Überprüfungen in Bezug auf seinen Vertragspartner belasten,
die von der Steuerverwaltung angewandten Anforderungen denen dieser Leitlinien entsprechen und
die veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen eindeutig formuliert waren und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar war.
Zur sechsten Frage
53 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass dieser an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerverwaltung auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei, ohne alle an dieser Steuerhinterziehung beteiligten Akteure und deren jeweilige Handlungen anzugeben.
54 Aus der in den Rn. 35 bis 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Steuerverwaltung, die beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, gemäß den im nationalen Recht vorgesehenen Beweisregeln und ohne die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu beeinträchtigen, sowohl die objektiven Umstände, die eine Mehrwertsteuerhinterziehung selbst begründen, als auch diejenigen, die begründen, dass dieser Steuerpflichtige die Steuerhinterziehung begangen hat oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen in diese Hinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachweisen muss.
55 Dieses Beweiserfordernis verbietet unabhängig von der Art der Hinterziehung oder der untersuchten Handlungen den Rückgriff auf Vermutungen oder Annahmen, der durch eine Umkehr der Beweislast dazu führen würde, dass das Recht auf Vorsteuerabzug als Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und damit die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden (Urteil vom , Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 34).
56 Folglich stellen Karussellfakturierungen zwar ernsthafte Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung dar, die im Rahmen einer umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, doch darf sich die Steuerverwaltung zum Nachweis eines Karussellbetrugs nicht auf den Nachweis beschränken, dass der fragliche Umsatz Teil einer solchen Fakturierungskette ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 35).
57 Es obliegt der Steuerverwaltung, zum einen die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung genau zu bestimmen und den Nachweis betrügerischer Handlungen zu führen und zum anderen nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige aktiv an dieser Steuerhinterziehung beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen in diese Hinterziehung einbezogen war. Der Nachweis der Steuerhinterziehung und der Beteiligung des Steuerpflichtigen an dieser Hinterziehung bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob die Steuerbehörden diesen Beweis rechtlich hinreichend erbracht haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Aquila Part Prod Com, C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 36).
58 Folglich ist auf die sechste Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass
sie, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass dieser an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerverwaltung auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei,
es der Steuerverwaltung obliegt, zum einen die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung genau zu bestimmen und die betrügerischen Handlungen nachzuweisen und zum anderen zu belegen, dass der Steuerpflichtige aktiv an dieser Steuerhinterziehung beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen in diese Hinterziehung einbezogen war, was jedoch nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.
Kosten
59 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er das nationale Gericht, das von seiner Befugnis aus Art. 267 AEUV Gebrauch gemacht hat, verpflichtet, die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn es der Auffassung ist, dass diese Beurteilungen in Anbetracht der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses im Sinne von Art. 99 seiner Verfahrensordnung vorgenommen hat, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Dieser Grundsatz steht jedoch einer nationalen Regelung nicht entgegen, die sich darauf beschränkt, die nationalen Untergerichte zu verpflichten, jede Abweichung von diesen Beurteilungen zu begründen.
2. Art. 167, Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis nicht entgegenstehen, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen mit der Begründung versagt, dass Rechnungen für diese Erwerbe aufgrund von Umständen, die einen diesem Steuerpflichtigen zuzurechnenden Mangel an Sorgfalt belegen, nicht glaubhaft seien, wobei diese Umstände grundsätzlich anhand der von der Steuerverwaltung veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen beurteilt werden, sofern
diese Praxis und diese Leitlinien nicht die Verpflichtung der Steuerverwaltung in Frage stellen, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass dieser Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine solche Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen,
diese Praxis und diese Leitlinien diesen Steuerpflichtigen nicht mit komplexen und umfassenden Überprüfungen in Bezug auf seinen Vertragspartner belasten,
die von der Steuerverwaltung angewandten Anforderungen denen dieser Leitlinien entsprechen und
die veröffentlichten Leitlinien für die Steuerpflichtigen eindeutig formuliert waren und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar war.
3. Die Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass
sie, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung zu versagen, dass dieser an einer Mehrwertsteuerhinterziehung in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen sei, dem entgegensteht, dass sich die Steuerverwaltung auf die Feststellung beschränkt, dass dieser Umsatz Teil von Karussellfakturierungen sei,
es der Steuerverwaltung obliegt, zum einen die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung genau zu bestimmen und die betrügerischen Handlungen nachzuweisen und zum anderen zu belegen, dass der Steuerpflichtige aktiv an dieser Steuerhinterziehung beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen in diese Hinterziehung einbezogen war, was jedoch nicht notwendigerweise bedeutet, dass alle an der Steuerhinterziehung beteiligten Akteure sowie deren jeweilige Handlungen anzugeben wären.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:6
Fundstelle(n):
NAAAJ-57757