BGH Beschluss v. - VIII ZB 59/23

Gehörsverletzung in Berufungsverfahren bei Nichtkenntnisnahme einer fristgerecht eingereichten Berufungsbegründungsschrift

Leitsatz

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Falle der Nichtberücksichtigung einer zwar rechtzeitig bei Gericht eingegangenen, aber nicht zur Verfahrensakte gelangten Berufungsbegründungsschrift (im Anschluss an , NJW-RR 2022, 995 Rn. 8).

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 520 Abs 2 S 1 ZPO, § 522 Abs 1 S 1 ZPO, § 522 Abs 1 S 2 ZPO

Instanzenzug: Az: 66 S 71/23vorgehend AG Berlin-Kreuzberg Az: 15 C 209/22

Gründe

I.

1Der Kläger nimmt den Beklagten auf Räumung und Herausgabe einer Mietwohnung sowie auf Zahlung rückständiger Miete nebst Zinsen in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben.

2Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am zugestellte Urteil des Amtsgerichts hat der Beklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt.

3Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Landgericht die Berufung des Beklagten wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, eine Berufungsbegründung liege auch nach dem Verstreichen der (bis zum verlängerten) Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vor. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, welches erneut über die Zulässigkeit der Berufung und gegebenenfalls über deren Begründetheit zu entscheiden haben wird.

51. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht geltend gemacht hat - in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen.

62. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Berufung des Beklagten nicht als unzulässig verworfen werden. Denn das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung die innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist bei ihm eingegangene Berufungsbegründungsschrift nicht berücksichtigt.

7a) Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich (vgl. BVerfGE 48, 394, 395 f.; 53, 219, 222 f.; siehe auch , NJW-RR 2022, 995 Rn. 8). Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 66/21, aaO; vom - XII ZB 240/17, NJW 2018, 3786 Rn. 8 f. mwN).

8b) Gemessen hieran hätte das Berufungsgericht, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, das Vorbringen des Beklagten in dem Berufungsbegründungsschriftsatz vom berücksichtigen müssen. Denn dieser ist am und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen.

9Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt (vgl. Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2; vom - VIII ZB 66/08, juris Rn. 5; siehe auch , juris Rn. 12 mwN [zum rechtzeitigen Eingang einer Duplik im Klageverfahren]; zum Eingang elektronischer Dokumente - wie hier - vgl. BGH, Beschlüsse vom - VI ZB 79/19, NJW-RR 2020, 1519 Rn. 7; vom - VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 18 mwN; vom - IV ZB 17/22, NJW-RR 2023, 351 Rn. 8; zum Prüfvermerk siehe BGH, Beschlüsse vom - XII ZB 304/21, juris Rn. 7; vom - IV ZB 10/22, juris Rn. 9; jurisPK-ERV/H. Müller, 2. Aufl., §130a ZPO Rn. 329; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 20. Aufl., § 130a Rn. 11).

10Ausgehend hiervon hat der Beklagte nach dem auf die von der Rechtsbeschwerde erhobene Verfahrensrüge hin zu beachtenden Sachverhalt (§ 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO; siehe auch Senatsbeschluss vom - VIII ZB 33/21, NJW-RR 2022, 1436 Rn. 20 mwN) die Berufungsbegründungsfrist gewahrt. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum (wirksam) verlängert worden. Die - von dem Beklagtenvertreter per beA übersandte (vgl. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) - Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen und von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Prüfvermerks an diesem Tag ("Eingangszeitpunkt: , 16:27:17") und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument - offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens - erst am zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

11c) Der angefochtene Beschluss beruht auf diesem Gehörsverstoß (vgl. zu diesem Erfordernis Senatsbeschluss vom - VIII ZB 68/20, juris Rn. 39 mwN). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei Kenntnisnahme des Inhalts der Berufungsbegründungsschrift von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen wäre.

III.

12Nach alledem kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben; sie ist daher aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

13Die Entscheidung über die Nichterhebung von Gerichtskosten beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2023:081123BVIIIZB59.23.0

Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 10 Nr. 6
NJW-RR 2024 S. 480 Nr. 7
VAAAJ-57536